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Full text of "Kriegsblinden-Jahrbuch"

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KRIEGS- 

BLINDEN 

JAHRBUCH 

1054 


HERAUSGEGEBEN  VOM  BUND  DER 
KRIEGSBLINDEN  DEUTSCHLANDS  EV 


M.C.  MIGEL  LIBRARY 
AMERICAN  PRINTING 
HOUSE  FORTHE  BLIND 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2017  with  funding  from 
American  Printing  House  for  the  Blind,  Inc. 


https://archive.org/details/kriegsblindenjah1954bund 


/ 


aß  der  Sonne  Glanz  verschwinden! 
Wenn  es  in  der  Seele  tagt, 
wir  im  eig’nen  Herzen  finden, 
was  die  ganze  Welt  versagt. 


GOETHE 


KRIEGSBLINDEN-JAHRBUCH  1954 


Gesamtgestaltung:  Friedrich  Wilhelm  Hymmen, 


Urheberrecht  bei:  Bund  der  Kriegsblinden  Deutschlands  e.  V.,  Selbstverlag  Wiesbaden,  Rhein= 
Straße  73,  Telefon  28393.  Hauptgeschäftsstelle  des  Bundes  (1.  Vorsitzender:  Oberstudienrat 
Dr.  Hans  Ludwig):  Bonn,  Schumannstraße  35.  Nachdruck  — auch  mit  Quellenangabe  — nur  mit 
ausdrücklicher  Genehmigung  des  Verlages.  Verantwortlich  für  Anzeigen:  Wilhelm  Stimming, 
Bund  der  Kriegsblinden  Deutschlands  e.  V.,  Selbstverlag  Wiesbaden.  Druck:  Mainzer  Verlags= 
anstalt  und  Druckerei  Will  und  Rothe  KG.,  Mainz,  Große  Bleiche  46—48.  Preis  2,50  DM. 


KRIEGSBLINDEN 

JAHRBUCH 

1954 


9ferausgegeben 

vom 

^und  der  SHriegsbltnden 
(Deutschlands  e.  D. 


Bund  der  Kriegsblinden  Deutschlands  e.V. 
Selbstverlag  Wiesbaden 


n-v/ 1^7  f 


Umschlagentwurf:  Prof.  Gerhard  Ulrich 

Weitere  graphische  Mitarbeiter:  Heinz  Ludwig  (Federzeichnungen,  u.  a.  Kalendarium  und 
Titelleisten),  Ottilie  Ehlers=Kollwitz  (Holzschnitte,  u.  a.  auf  S.  144  und  der  Jahreskreis  auf 
dieser  Seite),  Günther  Büsemeyer  (Federzeichnungen  S.  70,  122  und  123),  Eva  Kausche» 
Kongsbak  (Federzeichnunger\  S.  ai8  und  119),  Fritz  Sindel  (Holzschnitte  S.  82  und  83)  und 
Hans  Firzlaff  (Schriftleisten  S.  92  und  122). 


Zum  Geleit 

Zum  vierten  Male  erscheint  das  Kriegsblinden=l ahrbuch,  ein  Beweis  dafür,  daß 
die  bisherigen  Jahrgänge  ihren  Zweck  erfüllt  und  viel  zum  Verständnis  für  die 
Kriegsblinden  beigetragen  haben. 

Es  ist  wahrlich  nicht  leicht,  die  Seele  des  Kriegsblinden  zu  ergründen,  die  un= 
glaubliche  Kraft,  die  nach  einem  völligen  Zusammenbruch  dem  jäh  Erblindeten 
die  Stärke  gab,  sich  zu  Höchstleistungen  aufzuraffen  und  ihn  durch  die  Nacht  zum 
Sieg  über  sich  selbst  führte.  Stärker  als  der  schwere  Schlag  des  Schicksals  war  der 
Wille,  es  zu  überwinden.  Aber  wer  in  voller  Manneskraft  aus  dem  Licht  in  die 
ewige  Nacht  gestoßen  ward,  der  verlangt  nach  Betätigung  und  Arbeit,  nicht  nur 
des  Gelderwerbes  wegen;  sein  Leben  soll  wieder  einen  Zweck  bekommen,  soll 
wieder  lebenswert  werden. 

Dieses  Verlangen  nach  Arbeit  und  ihrem  Segen  klingt  fast  aus  jeder  Seite 
dieses  Buches  an  unser  Ohr,  und  es  soll  nicht  ungehört  verhallen.  Wenn  wir 
Sehenden  das  Jahrbuch  aufmerksam  durchblättern,  dann  werden  wir  bescheiden 
und  dankbar  gegenüber  dem  Schicksal,  dann  überlegen  und  prüfen  wir,  wo  wir 
helfen  können,  und  dann  soll  eine  gute  Tat  einem  hilfsbereiten  Wollen  folgen. 
Mitleid  allein  hilft  nichts;  es  kann  nur  die  Pforte  sein,  durch  die  wir  zur  guten 
Tat  kommen. 

Möge  dieses  Jahrbuch  wieder  recht  viele  Menschen  ansprechen. 


(Dr.  h.  c.  Anton  Kerschensteiner) 

Geh.  Regierungsrat. 

Vorsitzender  des  Beratenden  Beirats  für  das 
Versorgungsrecht  beim  Bundesministerium  für  Arbeit 


Was  dieses  Jahrbuch  enthält 

Kurze  Übersicht  über  den  Inhalt 

I.  Arbeit  und  Anliegen  des  Bundes  der  Kriegsblinden  Deutschlands:  Seite 


12  Einzelberichte  aus  der  Arbeit  der  Landesverbände  9—31 

Kriegserblindung  als  Aufgabe.  Von  Oberstudienrat  Dr.  Hans  Ludwig  32 

Wohnungsprobleme  — mit  Hartnäckigkeit  gelöst.  (Bericht  des  Wohnungsreferenten 
der  Hamburger  Kriegsblinden)  87 

Ich  habe  ein  Häuschen.  Von  Bodo  Schütz  89 

Der  „Hörspielpreis  der  Kriegsblinden"  108 

Heitere  Stunden  in  der  Turnhalle.  Von  H.  C.  Schwarze 111 

Hier  zu  kaufen  ist  Ehrensache  — Anschriften  der  Handwerker=Einrichtungen  ....  124 

Er  trägt  die  Sorgen  von  107  Kameraden  — Begegnung  mit  einem  Bezirksvorsitzenden 
des  Kriegsblindenbundes  130 

Vier  Wochen  lang  Luft  holeni  Kriegsblinde  berichten  von  ihrem  Aufenthalt  in 
unseren  Erholungsheimen  • 139 


II.  Für  ein  besseres  Verständnis  durch  unsere  sehenden  Mitmenschen:  Seite 

Macht  es  uns  leichter,  euch  zu  begegnen!  36 

Eine  totale  Umstellung  des  Daseins.  Von  Oberverwaltungsrat  Seuferle 42 

Wer  ist  Kriegsblinder?  Von  Dr.  P.  Plein 48 

Oh,  welche  Geduldsprobe!  Seufzer  eines  Führhundhalters.  Von  Alfred  Spitzer 62 

Die  anderen  wissen  es  nur  nicht.  Von  Franz  Feistner  . .' 95 

Gut  gemeint,  aber  falsch.  Von  Georg  Marschewski  127 

Wie  gut  haben  wir's  doch!  Von  Martin  Bedürftig  135 

Meine  Welt  — die  Welt  der  Sehenden.  Von  Bodo  Schütz 144 

III.  Kriegsblinde  im  Beruf: 

Meine  Begegnung  mit  einem  kriegsblinden  Masseur  79 

„So  ein  kleiner  Blonder,  bitte,  im  zweiten  Stock"  (Ein  kriegsblinder  Telefonist 

erzählt).  Von  Kurt  Schwager  99 

Eine  Siedlung  ohnegleichen.  (Die  Arbeitsgemeinschaft  unserer  Handweber). 

Von  F.  W.  H 104 

Freundlicher  Alltag  am  Werktisch  eines  Bürstenmachers.  Von  Theodor  Weißmann  123 
Vom  Hilfsarbeiter  zum  Ankerwickler.  Von  Ewald  Weber 129 

IV.  Kriegsblinde  über  ihren  Schicksalsweg: 

Vom  „Sehen"  der  Kriegsblinden.  Von  Bodo  Schütz  54 

Wie  sie  ihren  Männern  die  Last  leichter  machen.  — Ein  Wort  zum  Lobe 

unserer  Frauen  57 

Einer  von  Tausenden  erzählt.  Von  Karl  Stark 71 

Mein  Papi  ist  nicht  arm.  Von  Karl  Stein 92 

Wie  ich  wieder  lesen  lernte.  Von  Harry  Barthel 116 

V.  Kriegsblinde  erzählen: 

Tränen  um  Troll.  Von  John  Warncke  51 

Ein  seltsamer  Grenzausweis.  Von  J.  Hirthammer  70 

Keiner  traute  sich.  Von  Artur  Birr  70 

Seltsame  Visite.  Von  Lux  81 

Dumm  gewesen.  Von  Wilhelm  Schwind  81 

VI.  Literatur,  Kunst  und  Wissen: 

Ein  Realist  der  Menschlichkeit  — Henry  Dunant.  Von  Gerhard  Eschenhagen 52 

Weltreisen  eines  Kriegsblinden  vor  izo  Jahren  63 

Ein  Herzog  starb  als  Kriegsblinder.  Von  Dr.  Alexander  Fuchs  77 

Glückliche  Tage  in  der  Hauptstadt  Perus.  Von  Maria  Gebhard  82 

Begegnung  mit  Edwin  Scharff.  Von  Kurt  Lothar  Tank  102 

Ein  Kriegsblinder  erlebt  Paris.  Von  Dr.  Kurt  Wintterlin 219 

Ein  Band,  hell  wie  die  Akelei.  Erzählung  von  Paul  Anton  Keller  122 

/ Vom  Genuß  des  Badens.  Von  F.  W.  H 1.36 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 

Fr 

Neujahr 

8.21 

16.30 

2 

Sa 

Adelhard 

8.21 

16.31 

3 

So 

Sonntag  nach  Neujahr 

8.21 

16.32 

4 

Mo 

Titus 

8.21 

16.34 

5 

Di 

Emilie  ® 

8.20 

16.35 

6 

Mi 

Epiphanias 

8.20 

16.36 

7 

Do 

Lucian 

8.20 

16.37 

8 

Fr 

Severin 

8.19 

16.38 

9 

Sa 

Julian 

8.19 

16.39 

10 

So 

1.  So.  n.  Epiphanias 

8.18 

16.41 

11 

Mo 

Werner 

8.18 

16.42 

12 

Di 

Ernst 

8.18 

16.43 

13 

Mi 

Hildemar,  Jutta 

8.17 

16.45 

14 

Do 

Felix 

8.16 

16.46 

15 

Fr 

Maurus 

8.16 

16.48 

16 

Sa 

Marcellus 

8.15 

16.49 

17 

So 

2.  So.  n.  Epiphanias 

8.14 

16.51 

18 

Mo 

Priska 

8.13 

16.52 

19 

Di 

Canut  © 

8.12 

16.54 

20 

Mi 

Fabian  und  Sebastian 

8.11 

16.55 

21 

Do 

Agnes 

8.10 

16.57 

22 

Fr 

Vinzenz 

8.09 

16.58 

23 

Sa 

Emerich 

8.08 

17.00 

24 

So 

3.  So.  n.  Epiphanias 

8.07 

17.02 

25 

Mo 

Pauli  Bekehrung 

8.06 

17.03 

26 

Di 

Polykarp 

8.05 

17.05 

27 

Mi 

Johannes  Chrysostomus  6 

8.04 

17.07 

28 

Do 

Manfred,  Karl 

8.02 

17.08 

29 

Fr 

Fredigundis,  Arnulf 

8.01 

17.10 



30 

Sa 

Martina 

8.00 

17.12 

31 

So 

4.  So.  n.  Epiphanias 

7.58 

17.13 

Der  Landesverband  Bayern  zählt  als  der  größte-  Landesverband  im  Bund  der  Kriegsblinden 
Deutschlands  e.  V.  1310  Kameraden  und  125  Kameradenwitwen.  Er  gliedert  sich  in  7 Bezirke, 
die  regional  nach  den  Regierungsbezirken  in  Bayern  gebildet  und  daher  in  ihrer  Stärke  unter- 
schiedlich sind.  Die  Aufgaben  und  Nöte  des  Landesverbandes  wurden  bereits  in  früheren  Kriegs- 
blindenjahrbüchern näher  Umrissen.  Als  Beispiel  für  die  Fülle  der  Kleinarbeit  in  der  Betreuung 
sei  hier  auf  die  Arbeit  im  Bezirk  Schwaben  hingewiesen: 

Der  Bezirk  Schwaben  zählt  215  erblindete  Mitglieder  und  24  Kriegsblindenwitwen.  Irn  Vorder- 
grund der  Betreuung  steht  zunächst  der  Mensch  im  Sinne  des  göttlichen  Schöpf erwillens  und 
als  nächstes  der  Kriegsblinde  als  Schwerstbeschädigter.  Ewige  Nacht  und  strahlendes  Licht  in 
einer  Harmonie  zu  vereinigen,  ist  die  erste  Aufgabe  einer  fruchtbaren  Betreuung.  Dann  erst 
beginnt  die  Einführung  in  das  neue  Leben.  Der  Betreuungsobmann  erzählt  dem  Neuling  etwas 
von  Berufsmöglichkeiten,  von  der  Technik  des  Gehens,  Tastens  und  der  Selbsthilfe.  Erst  wenn 
der  junge  Kriegsblinde  in  einem  Umschulungsheim  umgeschult  ist,  beginnt  die  eigentliche 
Betreuungsarbeit.  Die  Hilfeleistung  setzt  dann  ein  mit  der  V ermittlung  einer  Klein-  oder  Stan- 
dard-Schreibmaschine, einer  Blindenschriftbogen-  oder  Stenomaschine,  der  Blindenuhr,  bei 
Handwerkern  kommen  dazu  die  verschiedensten  Werkzeuge  und  ähnliches  mehr,  ganz  wie  es 
der  neue  Beruf  erfordert.  Ist  der  Kamerad  für  einen  selbständigen  Beruf  ausgebildet  worden, 
sind  die  notwendigen  Arbeitsräume  zu  beschaffen  und  — oft  nach  Umbauten  — auszustatten. 
Gleichzeitig  sind  die  erforderlichen  Geldmittel  bei  den  Behörden  zu  erwirken.  Auch  Beratungen 
über  die  zweckmäßige  Rohstoffbeschaffung,  Fertigungs-  und  Absatzmethoden  gehören  dazu. 
Strebt  der  Kamerad  eine  Beschäftigung  in  einem  Betrieb  oder  bei  einer  Behörde  an,  so  ist  ein 
geeigneter  Arbeitsplatz  ausfindig  zu  machen.  Die  größte  Schwierigkeit  dabei  ist,  dem  Betriebs- 
oder Behördenleiter  die  Vorurteile  zu  nehmen,  ihm  die  Methode  und  das  Ausmaß  der  Arbeits- 
leistung persönlich  nachzuweisen.  So  konnten  im  Bezirk  Schwaben  seit  1947  87  Kameraden  selb- 
ständig gemacht,  12  weitere  Kameraden  in  Betrieben  und  14  bei  Behörden  untergebracht  werden. 
Von  dieser  Lebens-  und  Berufsbasis  aus  erstreckt  sich  die  Betreuung  auf  laufende  Einzel-  oder 
Gruppenberatungen,  die  Vermittlung  von  Wohnungen,  den  Ankauf  und  die  Erstellung  von  Sied- 
lungshäusern, die  Stellung  von  Anträgen,  die  Vertretung  in  Streitverfahren,  das  Aufsuchen 
der  Kameraden  in  ihren  Wohnungen,  die  Berufsberatung  der  Kinder,  Hinweise  über  Steuer- 
vergünstigungen, Ausweiswesen,  Quellen  für  jede  Art  von  Literatur  und  vieles  andere. 

Die  Kameraden  des  Bezirks  Schwaben  sind  in  folgenden  Berufen  tätig:  Bürstenmacher  80, 
Korbmacher  4,  Handweber  10,  Mattenflechter  2,  Wäscheklammermacher  2,  Metallschleifer 
(Geschäftsinh.)  1,  Masseure  7,  Fabrikarbeiter  5,  Stenotypisten  6,  Telefonisten  14,  Sachbearbeiter  6, 
Musiker  3,  Geschäftsinhaber  5,  Fabrikanten  1,  Landwirte  12,  Pfarrer'  (evang.)  1,  Schüler  2, 
Umschüler  2.  Arbeitsunfähig  sind  52  Kameraden. 

Seit  1947  wurden  für  42  Kameraden  Wohnungen  vermittelt  und  weitere  73  angesiedelt,  so  daß 
insgesamt  132  Kameraden  ein  eigenes  Anwesen  besitzen  (davon  105  Einfamilienhäuser,  26  Zwei- 
familienhäuser, 1 Mehrfamilienhaus).  Durch  persönliches  Eingreifen  des  Obmannes  konnten  in 
vielen  Fällen  Baugrundstücke  kostenlos  oder  wesentlich  verbilligt  erworben  werden.  — Die 
Betreuung  erfordert  viel  Umsicht.  Sie  muß  dem  oft  vereinsamten  Kameraden  die  Gewißheit  ver- 
mitteln, daß  er  in  allen  Lebenslagen  der  Hilfe  seines  Bezirksvorsitzenden  sicher  sein  darf. 
Die  Anschrift  des  Landesverbandes  Bayern:  München  2,  Baudrexelstr.  2 (Vorsitzender:  Lorenz 
Birngrub  er).  (45  271) 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 Mo 

Brigitta 

7.57 

17.15 

2 Di 

Maria  Lichtmeß 

7.56 

17.17 

3 Mi 

Blasius 

(t 

7.54 

17.18 

4 Do 

Andreas  Corsini 

7.53 

17.20 

5 Fr 

Agatha 

7.51 

17.22 

6 Sa 

Dorothea 

7.50 

17.24 

7 So 

5.  So.  n.  Epiphanias 

7.48 

17.25 

8 Mo 

Joh.  V.  Matha 

7.46 

17.27 

9 Di 

Apollonia 

7.45 

17.29 

' 

10  Mi 

Wilhelm 

9 

7.43 

17.30 



11  Do 

Adolf 

7.42 

17.32 

12  Fr 

Gosbert.  Eulalia 

7.40 

17.34 

13  Sa 

Siegfried 

7.38 

17.36 

14  So 

Septuagesima 

7.36 

17.38 

15  Mo 

Sigurd,  Faustinus  u.  Jovita 

7.34 

17.39 

16  Di 

Juliana 

7.33 

17.41 

17  Mi 

Engelbert,  Konstantin 

© 

7.31 

17.43 

18  Do 

Simeon 

7.29 

17.44 

19  Fr 

Susanna 

7.27 

17.46 

20  Sa 

Eleutherius 

7.25 

17.48 

21  So 

Sexagesima 

7.23 

17.50 

22  Mo 

Petri  Stuhlfeier 

7.21 

17.51 

23  Di 

Petrus  Damian,  Sevenus 

7.19 

17.53 

24  Mi 

Adelheid,  Matthias 

7.17 

17.54 

25  Do 

Walpurga 

7.15 

17.56 

26  Fr 

Gerlinde,  Mechthild 

'S 

7.13 

17.58 

27  Sa 

Veronika,  Gabriel 

7.11 

18.00 

28  So 

Estomihi 

7.09 

18.01 

Das  Jahr  1952  Stand  noch  ganz  im  Zeichen  der  Umanerkennung  der  Renten  nach  dem  Bundes- 
versorgungsgesetz. Heute  harren  nur  noch  einige  besonders  schwierige  Fälle  ihrer  Erledigung. 
Allerdings  bringt  die  Novelle  zum  BVG  erneut  mancherlei  Mehrarbeit  mit  sich.  Wenn  wir 
angenommen  hatten,  daß  nach  der  Durchführung  des  BVG  wir  uns  anderen  Aufgaben,  ins- 
besondere der  Berufsfürsorge,  zuwenden  könnten,  sahen  wir  uns  bitter  enttäuscht.  Die  insulare 
Lage  West-Berlins  bringt  eine  erhebliche  Schwächung  der  Berliner  Wirtschaft  mit  sich.  Und 
diese  Situation  wurde  seit  Ende  1952  katastrophal  verschärft  durch  den  ständig  wachsenden 
Flüchtlingsstrom  aus  der  Ostzone,  der  das  ganze  Wirtschaftsleben  in  West-Berlin  zum 
Erliegen  zu  bringen  drohte.  Unter  diesen  Flüchtlingen  befanden  sich  auch  nicht  wenige  kriegs- 
blinde Kameraden,  von  denen  wiederum  ein  Teil  in  West-Berlin  blieb,  ohne  daß  Aussicht 
bestand,  eine  Beschäftigung  zu  vermitteln. 

Es  dürfte  aus  diesen  Gründen  verständlich  sein,  wenn  unsere  Bemühungen  hinsichtlich  der 
Berufsfürsorge  nicht  sehr  erfolgreich  sein  konnten.  Eine  Besserung  auf  diesem  Gebiete 
ist  nur  denkbar,  wenn  die  wirtschaftliche  Lage  West-Berlins  durch  Belebung  der  Industrie 
gehoben  werden  kann. 

Auf  dem  Gebiete  der  Siedlung  sf  ür  sor  g e sind  wir  einen  Schritt  vorangekommen.  Die 
ersten  4 zerstörten  Eigenheime  sind  wieder  aufgebaut,  und  wir  hoffen,  in  diesem  Jahre  auch  die 
restlichen  8 Einfamilienhäuser  wieder  aufbauen  zu  können.  Das  Bedürfnis  nach  Eigenheimen 
ist,  wenigstens  zur  Zeit,  in  Berlin  nicht  sehr  groß,  so  daß  nach  Wiederaufbau  der  zerstörten 
Häuser  mit  einem  gewissen  Abschluß  gerechnet  werden  kann. 

Auch  hinsichtlich  der  Durchführung  der  Erholungsfürsorge  ist  Berlin  noch  in  einer 
schwierigen  Situation,  weil  wir  auf  die  westdeutschen  Heime  unseres  Bundes  angewiesen  sind. 
Es  soll  dankbar  anerkannt  werden,  daß  seitens  des  Leiters  der  Abteilung  Erholungsfürsorge 
unseres  Bundes,  Kam.  Bierwerth,  unseren  Anträgen  in  weitem  Umfange  entsprochen  wurde'. 
Sehr  schwierig  gestaltete  sich  die  Lösung  der  Frage  eines  Erholungsaufenthaltes  für  unsere 
Kameraden  in  der  Ostzone  und  im  Ostsektor  Berlins.  Wir  haben  es  ermöglicht,  daß  im  ver- 
gangenen Jahre  für  16  Kameraden  der  Ostzone  und  des  Ostsektors  Berlin  ein  drei- 
wöchiger kostenfreier  Aufenthalt  in  West-Berlin  durchgeführt  werden  konnte.  Dieser  Erfolg 
ist  nicht  zu  unterschätzen. 

Schwere  Sorge  bereitete  uns  auch  die  Frage  der  Gestaltung  der  Hauptfürsorgestelle 
Berlin  unter  Berücksichtigung  der  Bestimmungen  des  BVG,  § 25  Ziff.  2,  hinsichtlich  der  Sonder- 
fürsorge für  Kriegsblinde.  Zum  Unterschied  der  Handhabung  im  Bundesgebiet  besteht  ja  in 
Berlin  immer  noch  der  Dualismus  zwischen  Hauptfürsorgestelle  und  Hauptabteilung  Berufs- 
fürsorge der  Krankenversicherungsanstalt  Berlin.  Dieses  N ebeneinander  wirkt  sich  zweifellos 
recht  ungünstig  aus.  Nachdem  das  Schwerbeschädigtengesetz  vom  Bundestag  verabschiedet  ist, 
wird  auch  hier  in  Berlin  eine  endgültige  Klärung  erfolgen  müssen.  Der  bisherige  Zustand 
machte  unsere  Arbeit  in  der  Berufsfürsorge  schwierig,  nicht  zuletzt  weil  die  Hauptfürsorgestelle 
Berlin  über  fast  gar  keine  Mittel  verfügte. 

In  organisatorischer  Hinsicht  sind  wesentliche  Veränderungen  nicht  eingetreten.  Die  Mitglieder- 
zahl beläuft  sich  auf  305,  nachdem  wir  durch  Todesfälle  spürbare  Verluste  zu  verzeichnen  hatten. 
Der  Landesverbandsvorstand  ist  in  seiner  alten  Zusammensetzung  wiedergewählt  worden. 
V or  sitzender  ist  Axel  Bischof  f,  Berlin-Lichterfelde  West,  Marschnerstr.  15  (Ruf  731328). 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 Mo 

Albinus 

7.07 

18.03 

2 Di 

Simplicius 

7.05 

18.04 

3 Mi 

Aschermittwoch 

7.03 

18.06 

4 Do 

Kasimir 

7.01 

18.08 

5 Fr 

Friedrich 

6.59 

18.09 

6 Sa 

Perpetua 

6.57 

18.11 

7 So 

1.  Fastensonntag  / Invocavit 

6.55 

18.13 

8 Mo 

Johannes  von  Gott 

6.53 

18.14 

9 Di 

Franziska 

6.51 

18.16 

10  Mi 

40  Märtyrer 

6.48 

18.18 

11  Do 

Wolfram,  Rosina 

5 

6.46 

18.19 

12  Fr 

Gregor  der  Große 

6.44 

18.21 

13  Sa 

Euphrosina 

6.42 

18.22 

14  So 

2.  Fastensonnt.  / Reminiscere 

6.40 

18.24 

15  Mo 

Klemens,  Christoph 

6.38 

18.26 

16  Di 

Heribert 

6.36 

18.27 

17  Mi 

Gertrud 

6.34 

18.29 

18  Do 

Cyrill  von  Jerusalem 

6,31 

18.30 



19  Fr 

Joseph 

© 

6.29 

18.32 

20  Sa 

Joadiim 

6.27 

18.34 

21  So 

3.  Fastensonntag  / Oculi 

6.25 

18.35 

22  Mo 

Konrad,  Nikolaus  v.  d.  Flüe 

6.23. 

18.37 

23  Di 

Otto,  Eberhard 

6.20 

18.38 

24  Mi 

Erzengel  Gabriel 

6.18 

18.40 

25  Do 

Mariä  Verkündigung 

6.16 

18.42 

26  Fr 

Mechthild,  Thekla 

6.14 

18.43 

27  Sa 

Rupert 

e 

6.12 

18.45 

28  So 

4.  Fastensonntag  / Lätare 

6.09 

18.46 

29  Mo 

Eustasius 

6.07 

18.48 

30  Di 

Quirinus 

6.05 

18.49 

31  Mi 

Balbina 

6.03 

18.51 

i 


Das  Jahr  1953  hat  weiter  dazu  beigetragen,  die  schweren  Wunden  zu  heilen,  die  der  unbarm- 
herzige Krieg  der  schönen,  alten  Hansestadt  Bremen  geschlagen  hat.  Besuchern  der  Stadt  bietet 
sich  schon  am  Bahnhof  das  erste  eindrucksvolle  Bild  durch  zwei  mächtige  Hotel-Neubauten, 
Künder  der  Weltverbundenheit  Bremens,  das  unter  seinem  buten  un  binnen  (im  Ausland  und 
Inland)  angesehenen  Senatspräsidenten  Wilhelm  Kaisen  den  Anschluß  an  die  Welt  wieder- 
gefunden hat.  Am  Doventor  geht  das  große  Berufsschulzentrum  der  vorläufigen  Vollendung 
entgegen.  Es  Ist  das  größte  und  modernste  Europas  und  bestimmt  das  Bild  eines  ganzen  Stadt- 
teiles. Im  Westen  entstehen  in  rascher  Folge  die  Wohnviertel  wieder,  die  im  Jahre  1944  zer- 
schlagen wurden,  und  sie  werden  Tausenden  wieder  ein  menschenwürdiges  Leben  ermöglichen. 

Die  Bedeutung  des  Stadtstaates  Bremen  in  der  Bundesrepublik  mag  sich  aus  folgenden 
wenigen  Zahlen  zeigen:  14  v.  H.  des  Außenhandels  der  Bundesrepublik  gingen  über  Bremen; 
allein  75  v.  H.  aller  Auswanderungen  erfolgten  mit  rund  67  000  Auswanderern  von  Bremen  aus. 
Letztere  benutzten  hierbei  den  „Bahnhof  am  Meer“,  die  neu  wieder  hergerichtete  Columbuskaje 
in  Bremerhaven,  wo  neuerdings  wieder  die  größten  und  modernsten  Schiffe  der  Welt  regel- 
mäßig an-  und  ablegen.  Unter  diesen  Aspekten  nahm  die  wirtschaftliche  Entwicklung  Bremens 
— vor  allem  die  Auto-Industrie  — auch  im  Jahre  1953  einen  weiteren  Aufschwung.  Die  Auto- 
industrie (Borgward,  Goliath,  Lloyd)  entwickelte  verbesserte  Typen  und  festigte  ihren  guten 
Ruf;  der  Schiffbau  kam  trotz  eines  längeren  Streiks  voran  und  trug  dazu  bei,  den  Schiffahrts- 
gesellschaften endlich  wieder  ein  Stück  ihrer  früheren  Weltgeltung  zu  schaffen.  Die  Hafen- 
anlagen wurden  durch  Errichtung  neuer  Lagerhäuser  usw.  weiter  vervollkommnet.  Und  mitten 
in  dieser  lebenskräftigen  Aufwärtsentwicklung  leben  auch  Bremens  Kriegsblinde. 

Die  durch  den  Zusammenschluß  der  Handwerker-Kameraden  (Bürstenmacher)  auf  gemein- 
nütziger Basis  arbeitende  Kriegsblinden- Arbeitsfürsorge  konnte  sich  im  Jahre  1953  nach 
manchen  Rückschlägen  durch  ihre  überall  anerkannte  Qualitätsware  und  Preiswürdigkeit  besser 
durchsetzen  als  in  den  ersten  beiden  Jahren  ihres  Bestehens.  Trotzdem  fehlt  leider  bei  Behörden, 
Industrie  und  Handel  noch  viel  Verständnis  für  die  Notwendigkeit  der  Arbeit  zum  Leben  des 
kriegsblinden  Handwerkers,  der  kein  Mitleid,  sondern  Arbeit  haben  will  und  muß. 

Der  Landesverband  Bremen  des  Kriegsblindenbundes  hat  62  Mitglieder  (18  aus  dem  ersten 
Weltkrieg  und  44  aus  dem  zweiten  Weltkrieg).  Von  den  44  sind  sieben  in  der  Heimat  erblindet, 
darunter  drei  Frauen.  Von  den  62  Kameraden  sind  zwölf  Ostvertriebene  und  17  haben  neben 
dem  Verlust  des  Augenlichts  zusätzliche  Arm-  und  Beinamputationen.  Die  Zusammenarbeit  des 
LV.  Bremen  mit  Behörden,  Industrie,  Handel  usw.  war  in  jeder  Hinsicht  harmonisch.  Zahlreiche 
Bremer  Kriegsblinde  stellen  ihren  Lebenswillen  unter  Beweis.  Sie  betätigen  sich  auf  allen 
beruflichen  und  neuerdings  auch  auf  sportlichen  Gebieten.  Es  wurde  eine  Turnriege  aufgestellt, 
innerhalb  derer  sich  die  Kameraden  losgelöst  von  allen  Hemmungen  bewegen,  um  hier  Ent- 
spannung und  neue  Belebung  für  den  nervenzehrenden  Berufskampf  zu  gewinnen.  Keiner  der 
teilnehmenden  Kameraden  möchte  den  wöchentlichen  Sportabend  wieder  missen. 

Die  Anschrift  des  Landesverbandsvorsitzenden:  Heinr.  Kuhlmeier , Bremen-Horn,  Leher 
Heerstraße  22;  die  Anschrift  der  Kriegsblinden-Arbeitsfürsorge  Niedersachsen-Bremen,  Aus- 
lieferungslager Bremen:  Seeberger  Straße  14.  (45  088) 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 Do 

Hugo 

6.01 

18.52 

2 Fr 

Franz  v.  Paula 

5.59 

18.54 

3 Sa 

Gandolf,  Richard,  Christian® 

5.56 

18.56 

4 So 

Fassionssonntag  / Judica 

5.54 

18.57 

5 Mo 

Vinzenz 

5.52 

18.59 

6 Di 

Notker,  Isolde 

5.50 

19.00 

7 Mi 

Lothar 

5.48 

19.02 

8 Do 

Albert 

5.46 

19.03 

9 Fr 

7 Schmerzen  Mariae 

5.44 

19.05 

10  Sa 

Gerold,  Mechthild 

5 

5.42 

19.07 

11  So 

Palmsonntag 

5.39 

19.08 

12  Mo 

Konstantin 

5.37 

19.10 

13  Di 

Ida 

5.35 

19.11 

14  Mi 

Justinus 

5.33 

19.12 

15  Do 

Gründonnerstag 

5.31 

19.14 

16  Fr 

Karfreitag 

5.29 

19.16 

17  Sa 

Rudolph,  Gerwin 

5.27 

19.18 

18  So 

Ostersonntag 

® 

5.25 

19.19 

19  Mo 

Ostermontag 

5.23 

19.21 

20  Di 

Viktor 

5.21 

19.22 

21  Mi 

Anselm 

5.19 

19.24 

22  Do 

Wolfhelm 

5.17 

19.25 

23  Fr 

Georg 

5.15 

19.27 

24  Sa 

Wilhelm,  Egbert 

5.13 

19.28 

25  So 

Weiß.  Stg.  / Quasi  modo.geniti 

5.11 

19.30 

26  Mo 

Ferdinand 

5.09 

19.32 

27  Di 

' Anastasius 

5.07 

19.33 

28  Mi 

Vitalis 

5.06 

19.35 

29  Do 

Petrus  der  Märtyrer 

5.04 

19.36 

30  Fr 

Katharina  von  Siena 

5.02 

19.38 

Auf  dieser  Hamburg-Seite  unseres  Kriegsblinden-Jahrbuches  haben  wir  unseren  lieben  Lesern 
in  den  letzten  drei  Jahren  schon  mancherlei  Wissenswertes  über  unsere  alte  oder  neue  Vater- 
stadt Hamburg  erzählt.  „Neue  Vaterstadt“  aber  nicht  deshalb,  weil  sie  seit  kurzem  wieder  Freie 
und  Hansestadt  Hamburg  heißt,  sondern  weil  in  ihr  immer  wieder  hinzuziehende  Kameraden 
eine  neue  Heimat  gefunden  haben,  einen  neuen  Arbeitsplatz,  oft  auch  eine  liebe  Frau  und  später 
eine  Wohnung.  Das  hört  sich  so  leicht  und  flüssig  an:  „einen  neuen  Arbeitsplatz“,  „eine  Woh- 
nung“. Doch  welche  Arbeit  ist  damit  für  den  Vorstand  des  Landesverbandes  Hamburg  ver- 
bunden! Dieser  Vorstand  besteht  in  Hamburg  aus  sieben  Kameraden;  er  erledigt  für  unsere 
Mitglieder  all  die  Auf  gaben,  die  sich  aus  den  besonderen  Verhältnissen  der  nebenBerlin  größten 
Stadt  unseres  Vaterlandes  ergeben. 

Arbeitsplatz,  Wohnung,  Heilfürsorge,  Beratung  in  Rentenangelegenheiten,  kulturelle  Betreuung, 
Führhundwesen,  Unterstützung  und  Beratung  in  allen  sozialen  und  wirtschaftlichen  Dingen, 
das  sind  die  Hauptaufgaben,  die  diesem  siebenköpfigen  Vorstand  obliegen,  mit  denen  er 
sich  täglich  zu  beschäftigen  hat.  5 Beamte  und  2 Juristen  in  einem  Vorstand  vereint  haben  alle 
Hände  voll  zu  tun,  die  vielen  großen  und  kleinen  Wünsche  ihrer  Kameraden  oder  der  Witwen 
unserer  verstorbenen  oder  tödlich  verunglückten  Kameraden  zu  erfüllen  und  ihnen  bei  ihren 
Sorgen  zu  helfen.  Und  immer  wieder  kommen  neue  Kameraden  aus  den  Notstandsgebieten,  in 
denen  wegen  der  vielen  Flüchtlinge  für  einen  Kriegsblinden  ein  Arbeitsplatz  trotz  jahrelanger 
Bemühungen  nicht  gefunden  werden  konnte,  nach  Hamburg.  Dazu  kommen  andere  Kameraden 
aus  der  Ostzone,  die  hier  in  Hamburg  eine  neue  Heimat  suchen. 

Trotz  all  dieser  oft  sehr  traurigen  und  schwierigen  Fälle  ist  man  aber  auch  hier  immer  wieder 
bemüht,  Frohsinn  in  den  grauen  Alltag  zu  bringen.  Im  abgelaufenen  Jahr  fanden  einige 
gesellige  Veranstaltungen  in  der  Form  eines  bunten  Abends  statt,  auf  denen  sich  alle  Ham- 
burger Kameraden  mit  ihren  Familien  wieder  einmal  näherkamen.  Dies  war  um  so  leichter, 
als  unsere  verstärkte  Landesverbandskapelle  mit  Melodie  und  Rhythmus  die  jeweiligen  Ver- 
anstaltungen verschönte.  Während  der  Chronist  diese  Zeilen  zu  Papier  bringt,  hat  er  schon  die 
Fahrkarten  für  die  morgige  traditionelle  Dampferfahrt,  die  wiederum  alle  Kameraden  des 
Landesverbandes  Hamburg  und  ihre  Angehörigen  zu  einem  schönen  Ausflug  elbaufwärts  nach 
Geesthacht  vereinigen  wird,  in  der  Tasche.  An  dieser  Ausfahrt  nehmen  auch  Kameraden  äus 
den  angrenzenden  Bezirken  der  Landesverbände  Schleswig-Holstein  und  Niedersachsen  teil. 

Im  Sommer  1953  fand  bei  uns  der  große  deutsche  Masseurkongreß  für  die  Masseure  aus  dem 
ganzen  Bundesgebiet  statt,  an  dem  eine  große  Anzahl  unserer  kriegsblinden  Kameraden  teil- 
nahm, die  zum  Teil  bei  Hamburger  Kameraden  für  diese  Zeit  Aufnahme  fanden.  Diese  Kame- 
raden konnten  sich  aus  eigenem  Erleben  ein  Bild  von  den  Hamburger  Verkehrsverhältnissen 
machen,  von  der  ungeheuren  Verkehrsdichte  und  den  Gefahren  im  Großstadtverkehr,  denen 
berufstätige  Hamburger  Kriegsblinde  und  ihre  treuen  vierbeinigen  Begleiter  jeden  Tag  aus- 
gesetzt sind. 

Uber  unsere  gerade  in  Hamburg  bestimmt  nicht  einfachen  Bemühungen  auf  dem  Gebiet  des 
Wohnungs-  und  Siedlungswesens  berichten  wir  gesondert  in  einem  Aufsatz  im  Innern  dieses 
Jahrbuchs. 

Die  Geschäftsstelle  des  Landesverbandes  Hamburg  hat  sich  durch  Wohnungswechsel  des 
Landesverbandsvorsitzenden  Kamerad  Ewald  Meyer  geändert  und  befindet  sich  jetzt  in 
Hamburg-Blankenese,  Sachteweg  1,  Tel.  86  3 4 98.  (45  273) 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 

Sa 

Philippus  und  Jakobus 

5.00 

19.39 

2 

So 

2.  n.Ost./Misericord.Domini® 

4.58 

19.41 

3 

Mo 

Kreuzauffindung 

4.56 

19.42 

4 

Di 

Monika 

4.55 

19.44 

5 

Mi 

Schutzf.  d.  hl.  Joseph 

4.53 

19.45 

6 

Do 

Joh.  V.  d.  lat.  Pforte 

4.51 

19.47 

7 

Fr 

Stanislaus 

4.50 

19.48 

8 

Sa 

Ersch.  d.  hl.  Erzeng.  Michael 

4.48 

19.50 

9 

So 

3.  n.  Ostern  / Jubilate 

5» 

4.46 

19.51 

10 

Mo 

Antonin  v.  Florenz 

4.45 

19.53 

11 

Di 

Mamertus 

4.43 

19.54 

12 

Mi 

Pankratius 

4.42 

19.56 

13 

Do 

Servatius 

4.40 

19.57 

14 

Fr 

Bonifatius 

4.39 

19.59 

15 

Sa 

Sophie 

4.37 

20.00 

16 

So 

4.  n.  Ostern  / Cantate 

4.36 

20.01 

17 

Mo 

Bruno,  Dietmar 

© 

4.34 

20.03 

18 

Di 

Erich,  Felix 

4.33 

20.04 

19 

Mi 

Petrus,  Caelestinus 

4.32 

20.06 

20 

Do 

Elfriede 

4.31 

20.07 

21 

Fr 

Florentin,  Emil 

4.29 

20.08 

22 

Sa 

Julia,  Renate ' 

4.28 

20.09 

23 

So 

5.  n.  Ostern  / Rogate 

4.27 

20.11 

24 

Mo 

Johanna 

4.26 

20.12 

25 

Di 

Urban 

€ 

4.25 

20.13 

26 

Mi 

Philipp  Neri 

4.24 

20.14 

27 

Do 

Christi  Himmelfahrt 

4.23 

20.16 

28 

Fr 

Leo  II.,  Eckard 

4.22 

20.17 

29 

Sa 

Maximin 

4.21 

20.18 

30 

So 

6.  n.  Ostern  / Exaudi 

4.20 

20.19 

31 

Mo 

Angela 

4.19 

20.20 

Von  der  Zonengrenze  östlich  von  Kassel  bis  zum  sonnigen  Rheingau  und  der  südlichen  Berg- 
straße liegt  das  Land  Hessen.  Vielgestaltig  wie  die  Landschaft  sind  auch  die  Lebensgrundlagen 
seiner  4,2  Millionen  Einwohner  und  der  600  Kriegsblinden  dort.  Der  Landesverband  des  Kriegs- 
blindenbundes hat  seinen  Sitz  in  Frankfurt,  ln  der  Nähe  des  Hauptbahnhofs  befindet  sich  die 
Geschäftsstelle  in  der  Stuttgarter  Straße  21.  Landesverbandsvorsitzender  ist  seit  1950 
Kamerad  Ludwig  Eckert  aus  Oberstedten/Taunus,  Friedrichstr.  8.  Als  treuen  Helfer  hat  er 
den  sehenden  Beisitzer  im  Landesverbandsvorstand,  Herrn  Theo  Ulrich,  der  die  laufenden 
Arbeiten  erledigt  und  sich  im  Laufe  von  7 Jahren  durch  uneigennützigen  Einsatz  bestens  bewährt 
hat.  Auch  die  Geschäftsstelle  des  Bezirks  Frankfurt  a.  M.,  der  rund  150  Mitglieder  zählt, 
ist  in  der  Stuttgarter  Straße  21.  Bezirksvorsitzender  dieses  größten  Bezirks  ist  Kamerad  Fritz 
Cyrus,  Ffm.- Ginnheim,  Am  Eisernen  Schlag  48,  der  mit  Liebe  und  viel  Geschick  seine  ehren- 
amtliche Tätigkeit  ausübt.  Die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  in  Frankfurt,  Offenbach,  Hanau  und 
Umgebung  ließen  hier  einen  hohen  Prozentsatz  von  Kriegsblinden  Arbeit  in  der  Industrie  finden. 
Fährt  man  von  Frankfurt  in  Richtung  Heidelberg,  so  kommt  man  in  etwa  einer  halben  Stunde 
nach  Darmstadt,  das  sich  wieder  zum  blühenden  Mittelpunkt  entwickelt.  Hier  sorgt  Kamerad 
Georg  S auerw  ein , Darmstadt-Eber  Stadt,  Oberstr.  33,  seit  Jahren  für  seine  60  kriegsblinden. 
Kameraden  zwischen  Bergstraße  und  der  Gegend  von  Mainz.  — Auch  in  Wiesbaden,  der 
Landeshauptstadt,  befindet  sich  eine  Bezirksgrup^e  mit  40  Kriegsblinden,  die  seit  2 Jahren  den 
Kameraden  Theo  Jacoby,  Wiesbaden,  Schaf tstr.  13,  zum  Vorsitzenden  hat.  Der  Betreuungs- 
bereich dieses  kleinen  Bezirkes  erstreckt  sich  auch  auf  den  Rheingau  und  den  Main-Taunus- 
Kreis.  Die  Stadt  Wiesbaden  bietet  vielen  Kameraden  bei  Verwaltungsstellen  Beschäftigung. 

Die  zweitgrößte  Bezirksgruppe  des  Landesverbandes  ist  die  Bezirksgruppe  Gießen  mit  120 
Kameraden.  Geographisch  gesehen  der  größte  Bezirk,  der  sich  vom  Westerwald  über  die 
Wetterau  bis  zu  den  Höhen  des  Vogelsberges  erstreckt.  Bezirksvorsitzender  ist  seit  Jahren 
Kamerad  Heinrich  Kühn,  Wetzlar,  Flutgrab enstr.  16.  ln  Wetzlar  und  Gießen  ist  nicht  zuletzt 
durch  seine  Vermittlungsarbeit  ein  Teil  der  Kameraden  in  der  Industrie  untergebracht.  Das 
schwierigste  Problem  ist  hier  die  Beschäftigung  der  zahlreichen  Handwerker,  die  weitab  von 
jeder  Industrie  in  den  Dörfchen  wohnen.  — Die  meisten  Jungakademiker  zählt  die  Bezirksgruppe 
Marburg,  wo  neuerdings  Kamerad  Dr.  Hölktemeyer  den  Bezirksvorsitz  übernommen  hat. 
Durch  den  Sitz  der  Blindenstudienanstalt  bedingt,  steht  hier  die  Unterbringung  der  Akademiker 
im  Vordergrund.  Die  Bezirksgruppe  zählt  z.  Z.  85  Kriegsblinde,  von  denen  mehr  als  50  Prozent 
die  Blindenstudienanstalt  mit  Erfolg  absolviert  haben. 

Eine  zahlenmäßig  kleine,  aber  kameradschaftlich  sehr  verbundene  Bezirksgruppe  befindet  sich 
auch  in  der  alten  Bischofsstadt  Fulda.  Bezirksvorsitzender  ist  seit  Jahren  Kamerad  Theo 
Kr  emer , Fulda,  Am  Peterstor  15,  der  seine  40  Mitglieder  liebevoll  betreut.  Die  Berufs- 
möglichkeiten, zumal  im  Rhöngebiet,  beschränken  sich  leider  fast  ausschließlich  auf  das  Hand- 
werk. — Die  nördlichste,  an  die  Zonengrenze  reichende  Bezirksgruppe  hat  ihren  Sitz  in  Kassel. 
Bezirksleiter  ist  Kamerad  Walter  Rosner,  Kassel,  Karolinenstr.  14.  Der  Bezirk  Kassel  erstreckt 
sich  über  das  nördliche  Hessen  mit  den  Kreisen  Rothenburg,  Witzenhausen,  Hofgeismar  und 
Waldeck.  Er  zählt  100  Mitglieder.  Der  Bezirksleiter,  Kam.  Rosner,  ist  gleichzeitig  Geschäfts- 
führer der  Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft  Hessen.  Leider  mangelt  es  für  die  Handwerker 
an  Arbeitsaufträgen,  so  daß  von  einer  lohnbringenden  Beschäftigung  nicht  gesprochen  werden 
kann.  (45  276) 


Feste  und  Heiligennarqen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

■ 

1 

Di 

Juventius 

• 

4.18 

20.21 

2 

Mi 

Ferdinand,  Eugen 

4.18 

20.22 

3 

Do 

Klothilde 

4.17 

20.23 

4 

Fr 

Florian 

4.16 

20.24 

5 

Sa 

Bonifatius 

4.16 

20.25 

6 

So 

Pfingstsonntag 

4.15 

20.26 

7 

Mo 

Pfingstmontag 

4.14 

20.27 

8 

Di 

Medardus 

l 

4.14 

20.28 

9 

Mi 

Primus,  Emma 

4.14 

20.28 

10 

Do 

Margarete 

4.13 

20.29 

11 

Fr 

Barnabas 

4.13 

20.30 

12 

Sa 

Johannes  Facundus 

4.13 

20.31 

13 

So 

Trinitatis 

4.12 

20.31 

14 

Mo 

Richard,  Gerold 

4.12 

20.32 

15 

Di 

Vitus 

4.12 

20.32 

16 

Mi 

Benno 

© 

4.12 

20.33 

17 

Do 

Fronleichnamsfest 

4.12 

20.33 

18 

Fr 

Markus,  Marcellus 

4.12 

20.34 

19 

Sa 

Gervasius 

4.12 

20.34 

20 

So 

2.  n.  Pfingsten  / 1.  n. 

Trinit. 

4.12 

20.34 

, 

21 

Mo 

Aloisius 

4.12 

20.35 

22 

Di 

Paulinus 

4.12 

20.35 

23 

Mi 

Edeltraud 

e 

4.13 

20  35 

24 

Do 

Johannes  der  Täufer 

4.13 

20.35 

25 

Fr 

Herz-Jesu-Fest 

4.13 

20.35 

26 

Sa 

Johannes  und  Paulus 

4.14 

20.35 

27 

So 

3.  n.  Pfingsten  / 2.  n. 

Trinit. 

4.14 

20.35 

28 

Mo 

Meinrad 

4.14 

20.35 

29 

Di 

Peter  und  Paul 

4.15 

20.35 

/ 

30 

Mi 

Ehrentraud 

© 

4.16 

20.35 

I 


Unter  der  tatkräftigen  Leitung  unseres  Kameraden  Knaak  hat  sich  der  Betrieb  unserer  kriegs- 
blinden Web'er  in  Hannover-Langenhagen  zu  einem  vorbildlichen  Musterbetrieb  aus- 
geweitet. Dieses  junge,  auf  der  Grundlage  einer  Genossenschaft  arbeitende  Unternehmen  hat 
längst  die  Kinderschuhe  abgestreift,  ln  einem  großen  Arbeitssaal  verwandeln  sich  unter 
geschickten  Händen  die  auf  die  Webstühle  gespannten  Fäden  u.  a.  zu  Decken,  Schürzen,  Kleidern 
und  Teppichen.  Hervorragend  sind  vor  allen  Dingen  auch  die  kunstgewerblichen  Arbeiten. 
Längst  schon  reichen  die  Räumlichkeiten  nicht  mehr  aus,  und  so  plant  die  Genossenschaft,  in 
Kürze  einen  Anbau  durchzuführen.  Mit  diesem  Unternehmen  beweisen  wir  Kriegsblinden,  wozu 
wir  trotz  aller  Schwierigkeiten  fähig  sind. 

Eine  seit  langer  Zeit  empfundene  Lücke  in  der  Betreuung  unserer  Bürstenmacher  wird 
jetzt  dadurch  geschlossen,  daß  wir  ein  eigenes  Haus  in  Hannover-Langenhagen  errichten. 
Wir  hoffen,  daß  es  Ende  1953bezogenwerden  kann.  Es  wird  die  Verwaltung  des  Landesverbandes 
und  der  Arbeitsgemeinschaft  der  Bürstenmacher  aufnehmen.  Lagerräume  und  ein  Expeditions- 
raum werden  in  ausreichender  Größe  vorhanden  sein.  Damit  soll  dem  verdienstvollen  Leiter 
der  Arbeitsgemeinschaft,  Kam.  Bode,  die  Möglichkeit  gegeben  werden,  seine  Fürsorgearbeit 
für  unsere  Bürstenmacher  erheblich  zu  verbessern.  Gleichzeitig  wird  in  einem  Nebengebäude 
eine  Werkstatt  für  Bürstenmacher  eingerichtet,  in  der  Um-  und  Einschulungen  durchgeführt 
werden.  Für  10  Kameraden  werden  laufend  im  Hauptgebäude  Zimmer  zur  Verfügung  stehen. 
Ein  großer  Aufenthaltsraum,  der  auch  dem  Landesverbandsvorstand  und  dem  Vorstand  des 
Bezirks  Zentral-Hannover  zu  Sitzungen  zur  Verfügung  steht,  dient  gleichzeitig  als  Übungsraum 
für  Stenotypisten  oder  Masseure.  Dieses  Heim  wird  also  zukünftig  eine  Umschulungs-  und 
Fortbildungsstätte  für  möglichst  viele  Berufszweige  werden.  Die  Möglichkeit,  mehrere 
Wohnungen  für  Kameraden  zu  errichten,  ist  ebenfalls  vorgesehen.  Mit  diesem  Bau  einer  Schu- 
lungsstätte verlegt  der  Landesverband  gleichzeitig  seine  ZentrcAe  in  die  Landeshauptstadt. 

Verbleibt  immer  noch  die  Sorge,  unsere  Kameraden  menschenwürdig  anzusiedeln  bzw.  aus- 
reichenden W ohnr  aum  zu  beschaffen.  Vielleicht  gelingt  es  auch  auf  diesem  Gebiete  durch  eine 
Hilfsgemeinschaft  noch  wirksamer  als  bisher  zu  helfen.  Die  mit  dem  Lastenausgleich  verbun- 
denen Arbeiten  nehmen  den  Landesverband  ebenfalls  stärker  denn  je  in  Anspruch.  Und  schließ- 
lich sei  auch  noch  die  Enttäuschung  vieler  Kameraden  erwähnt,  denen  nach  kurzer  Berufstätig- 
« keit  die  Sozialrenten  entzogen  werden,  weil  sie  angeblich  auf  dem  allgemeinen  Arbeitsmarkt 
wettbewerbsfähig  sein  sollen.  Hier  versagen  manche  Landesversicherungsanstalten,  weil  sie  den 
tiefen  Sinn  der  Beschäftigung  Kriegsblinder  nicht  erfassen.  Diese  Entziehungen  wurden  jedoch 
zum  größten  Teil  auf  dem  Rechtswege  wieder  rückgängig  gemacht. 

ln  der  b eruf  liehen  Unterbringung  der  Kameraden  haben  wir  dank  der  Initiative  der  Arbeits- 
verwaltung in  Niedersachsen  sehr  erfreuliche  Fortschritte  gemacht.  Wir  können  hoffen,  daß  es 
mit  Hilfe  des  neuen  „Schwerbeschädigten-Einstellungsgesetzes"  gelingt,  auch  den  letzten  arbeits- 
fähigen Kameraden  beruflich  unterzubringen.  Nicht  so  erfreulich  sind  die  Erfahrungen,  die  wir 
auf  dem  Gebiete  der  allgemeinen  Fürsorge  sammeln  konnten.  Wir  wollen  jedoch  hoffen,  daß 
auch  diese  Sparte  sich  noch  segensreich  für  unsere  Kameraden  entwickeln  wird. 

Neue  Anschriften;  für  den  2.  Landesverbandsvorsitzenden,  Kam.  Joachim  Schubach,  Hannover, 
Bettenserstr.  10,  für  den  Leiter  der  Rentenrechtsabteilung,  Kam.  Wilhelm  Rosenland,  Hannover- 
Kirchrode,  Ernststr.  18.  Die  Anschrift  des  Landesverbandsvorsitzenden:  Albert  Bierwerth, 
Göttingen,  Hainholzweg  17.  (5i  304) 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 Do 

Theobald 

4.16 

20.35 

, 

2 Fr 

Mariä  Heimsuchung 

4.17 

20.34 

3 Sa 

Hyazint 

4.17 

20.34 

4 So 

4.  n.  Pfingsten  / 3.  n. 

Trinit. 

4.18 

20.34 

5 Mo 

Numerianus 

4.19 

20.34 

6 Di 

Thomas  Morus 

4.20 

20.33 

7 Mi 

Willibald 

4.20 

20.32 

8 Do 

Kilian 

l 

4.21 

20.32 

9 Fr 

Veronika,  Dieter 

4.22 

20.31 

10  Sa 

7 Brüder 

4.23 

20.30 

11  So 

5.  n.  Pfingsten  / 4.  n. 

Trinit, 

4.24 

20.30 

12  Mo 

Felix 

4.25 

20.29 

13  Di 

Margarete 

4.26 

20.28 

14  Mi 

Benaventura 

4.27 

20.27 

15  Do 

Kaiser  Heinrich  II. 

4.28 

20.27 

16  Fr 

Irmgard 

© 

4.29 

20.26 

17  Sa 

Alexius 

4.30 

20.25 

18  So 

• 

6.  n.  Pfingsten  / 5.  n. 

Trinit, 

4.32 

20.24 

19  Mo 

Vinzenz  v.  Paul 

4.33 

20.23 

20  Di 

Hieronymos 

4.34 

20.22 

21  Mi 

Praxedis 

4.35 

20.20 

22  Do 

Maria  Magdalena 

4.36 

20.19 

23  Fr 

Apollinaris 

e 

4.38 

20.18 

24  Sa 

Christine 

4.39 

20.17 

25  So 

7.  n.  Pfingsten  / 6.  n. 

Trinit. 

4.40 

20.16 

26  Mo 

Anna 

4.42 

20.14 

27  Di 

Pantaleon 

4.43 

20.13 

28  Mi 

Innozenz,  Viktor 

4.44 

20.12 

29  Do 

Martha 

4.46 

20.10 

30  Fr 

Germanus 

4.47 

20.09 

31  Sa 

Ignatius  v.  Loyola 

4.48 

20.07 

In  der  Zeit  von  Mitte  1952  bis  Mitte  1953  waren  wiederum  wesentliche  Erfolge  in  der  Arbeits- 
und Berufsfürsorge  zu  verzeichnen.  Unsere  Kameraden  sind  dankbar  dafür,  daß  'ihnen 
die  geeigneten  Arbeitsplätze  vermittelt  wurden,  hat  ihr  Leben  dadurch  doch  wieder  Zweck  und 
Inhalt  erhalten.  Wir  hoffen  zuversichtlich,  daß  es  durch  das  neue  Gesetz  über  die  Beschäftigung 
Schwerbeschädigter  gelingen  wird,  den  kleinen  Kreis  von  beschäftigungslosen  Kriegsblinden  in 
Nordrhein  in  Kürze  auf  geeignete  Arbeitsplätze  zu  bringen.  Erneut  weisen  wir  auf  den  Tele- 
fonistenberuf hin.  Die  modernen  Fernsprechvermittlungsanlagen  eignen  sich  vorzüglich 
für  die  Bedienung  durch  Blinde.  Dazu  zeichnet  schnelle,  zuvorkommende  und  höfliche  Bedienung 
der  Anrufer  unsere  Telefonisten  aus.  Sie  lernen  den  Betrieb  innerhalb  kürzester  Zeit  genau 
kennen.  Es  wäre  gut,  wenn  jede  Telefonzentrale,  die  sich  zur  Bedienung  durch  Blinde  eignet, 
auch  von  einem  Blinden  besetzt  würde. 

Es  gelang  uns  auch,  Bürstenmacher  anderweitig  beruflich  zu  versorgen.  Wir  vertreten  den 
Standpunkt,  daß  sich  in  den  Städten  nur  noch  jene  Kriegsblinden  dem  Handwerk  widmen 
sollen,  die  keinen  anderen  Beruf  ergreifen  können.  So  kann  den  auf  dem  Lande  wohnenden 
Handwerkern  mehr  Arbeit  zugeteilt  werden.  Besonderer  Wert  muß  darauf  gelegt  werden,  daß 
öffentliche  Dienststellen  die  Kriegsblinden  in  ihre  Dienste  übernehmen.  Nach  unseren  Fest- 
stellungen beträgt  die  Zahl  der  bei  verschiedensten  Behörden  tätigen  Kriegsblinden  183  bei 
einer  Kriegsblindenzahl  von  rund  900  in  Nordrhein.  Es  befinden  sich  darunter  50  Telefonisten, 
24  Stenotypisten,  38  in  der  mittleren  und  gehobenen  und  9 in  der  höheren  Beamtenlaufbahn. 
Der  Rest  ist  als  Angestellte,  Masseure,  Auskunftserteiler  und  Arbeiter  tätig. 

Die  privaten  Arbeitgeber  seien  nicht  vergessen.  Bei  diesen  sind  Kameraden  als  Abteilungsleiter, 
Telefonisten,  Stenotypisten,  Magazin-  und  Kartonagenarbeiter,  Packer  und  Masseure  tätig. 
Manchmal  konnten  wir  die  erfreuliche  Feststellung  machen,  daß  der  ersten  Einstellung  bald  die 
zweite  folgte,  und  zwar  auf  Grund  der  guten  Erfahrung,  die  mit  dem  ersten  Kriegsblinden 
gemacht  wurde.  An  dieser  Stelle  sei  allen  Arbeitgebern  Dank  gesagt  für  ihr  Verständnis. 

Eine  angemessene  und  gemütliche  Wohnung  ist  für  den  Kriegsblinden  eine  Lebensnotwendig- 
keit. Ist  er  doch  weit  mehr  als  der  Sehende  auf  sein  Heim  angewiesen.  Der  Wunsch  der  Kame- 
raden, die  sich  z.T.  noch  in  ganz  unwürdigen  Behausungen  aufhalten  müssen,  ein  Eigenheim  zu 
errichten,  ist  daher  verständlich.  Aber  der  Eigenheimbau  erfordert  hohe  Mittel,  weshalb  das 
Begehren  der  Kameraden  nur  zu  einem  Teil  befriedigt  werden  konnte.  Tn  der  Zeit  von  Mitte 
1952  bis  Mitte  1953  konnten  36  Kameraden  in  ein  erworbenes  oder  erstelltes  Haus  einziehen. 
16  Eigenheime  befinden  sich  z.  Z.  noch  im  Bau.  80  Kameraden  wollen  noch  bauen. 

Die  Anschriften  der  Bezirksleitungen  im  Landesverband  Nordrhein  sind  folgende:  Bezirk 
Aachen,  Vors.:  Willi  Meures,  Aachen,  Eginhardstr.  26;  Bezirk  Bonn,  Vors.:  Hans  Kraheck, 
Bonn,  Rheinweg  84;  Bezirk  Duisbur  g , Vors.:  Fritz  Günther,  Friedrichsfeld  b. Wesel,  Hinden- 
burgstr.  45;  Bezirk  Düsseldorf , Vors.:  Jakob  Lohmann,  Düsseldorf,  Heinrichstr.  32;  Bezirk 
Essen,  Vors.:  Willi  Sänger,  Essen-Rellinghausen,  Oberstr.  91;  Bezirk  Geldern-Kleve- 
Moers,  Vors.:  Hans  Schroer,  Geldern,  Herzogstr.  14;  Bezirk  M. -Gladbach,  Rheydt  und  Um- 
gebung, Vors.:  Lambert  Hütten,  M.-Gladbach,  Hamerweg  19;  Bezirk  Köln,  Vors.:  Fritz  Vaupel, 
Köln,  Titusstr.  26;  Bezirk  Rhein-Wupper-Kreis,  Vors.:  Heinrich  Häck,  Monheim  (Rhein), 
Parkstr.  7;  Bezirk  Wuppertal,  Vors.:  Willi  Hemeyer,  Wuppertc.l-B.,  Sanderstr.  196.  Vor- 
sitzender des  Landesverbandes  ist  Otto  Jansen,  Düsseldorf,  Irmgardstr.  22.  (40862) 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 So 

8.  n.  Pfingsten  / 7.  n.  Trinit. 

4.50 

20.06 

2 Mo 

Gustav 

4.51 

20.04 

3 Di 

Auff.  d.  hl.  Stephanus 

4.53 

20.03 

4 Mi 

Dominikus 

4.54 

20.01 

5 Do 

Mariä  Schnee 

4.55 

20.00 

6 Fr 

Verklärung  Christi  5 

4.57 

19.58 

7 Sa 

Kajetan 

4.58 

19.56 

8 So 

9.  n.  Pfingsten  / 8.  n.  Trinit. 

5.00 

19.54 

9 Mo 

Romanus 

5.01 

19.53 

10  Di 

Laurentius 

5.03 

19.51 

11  Mi 

Tiburtius 

5.04 

19.49 

12  Do 

Klara 

5.06 

19.47 

13  Fr 

Hippolyt  und  Kassian 

5.07 

19.46 

14  Sa 

Eusebius  ® 

5.08 

19.44 

15  So 

Mariä  Himmelf.  / 9.  n.  Trinit. 

5.10 

19.42 

16  Mo 

Rochus 

-5.12 

19.40 

17  Di 

Rogatus 

5.13 

19.38 

18  Mi 

Helena 

5.14 

19.36 

19  Do 

Sebaldus 

5.16 

19.34 

20  Fr 

Bernhard 

5.18 

19.32 

21  Sa 

Anastasius  6 

5.19 

19.30 

22  So 

11.  n.  Pfingsten  / 10.  n.  Trinit. 

5.20 

19.28 

23  Mo 

Philipp 

5.22 

19.26 

24  Di 

Dietrich,  Bartholomäus 

5.23 

19.24 

25  Mi 

Ludwig 

5.25 

19.22 

26  Do 

Zephyrinus 

5.26 

19.20 

27  Fr 

Rufus 

5.28 

19.18 

28  Sa 

Augustinus  ® 

5.29 

19.16 

29  So 

12.  n.  Pfingsten  / 11.  n.  Trinit. 

5.31 

19.14 

30  Mo 

Rosa  von  Lima 

5.32 

19.12 

31  Di 

Raimund 

5.34 

19.10 

„Das  Grenzland  Rheinland- Pfalz  mit  seinen  vielen  Kriegswunden  ist  das  Land,  das  auch  seinen 
Kriegsopfern  das  größte  V erständnis  entgegenbringt.“  Mit  diesen  Worten  brachte  Minister  Jung- 
las, der  jetzige  Leiter  des  Sozialministeriums  von  Rheinland-Pfalz,  auf  einer  Kriegsblinden- 
tagung die  Verbundenheit  der  Landesregierung  mit  den  Kriegsopfern  und  insbesondere  auch 
mit  uns  Kriegsblinden  zum  Ausdruck.  Das  kennzeichnet  auch  die  Zusammenarbeit  unseres 
Landesverbandes  mit  den  Behörden  und  der  gesamten  Bevölkerung.  Obwohl  Rheinland-Pfalz 
ein  armes  Grenzland  ohne  nennenswerte  Industrie  ist,  schuf  es  doch  das  beste  Kriegsopfer- 
versorgungsgesetz in  der  Zeit  vor  dem  Bundesversorgungsgesetz.  Diebeiden  Hauptfürsorgestellen 
in  Koblenz  und  in  Neustadt  haben,  trotz  geringerer  Mittel  als  in  anderen  Bundesländern,  mit 
Beihilfen  und  Darlehen  in  der  Betreuung  der  422  kriegsblinden  Kameraden  und  Kameradinnen 
tatkräftigste  Kriegsblindenfürsorge  getrieben. 

Von  den  Erfolgen  unseres  Landesverbandes  gaben  der  auf  dem  Landesverbandstag  Ende  Mai  1953 
vom  damaligen  Landesverbandsleiter,  Kamerad  Nell,  abgegebene  Geschäftsbericht  und  der 
Kassenbericht  des  Kameraden  Wirscheim  ein  eindrucksvolles  Bild.  Die  Zahl  der  kriegsblinden 
Eigenheimbesitzer  war  bis  dahin  auf  133  gestiegen,  vielen  weiteren  Kameraden  konnte  eine 
bessere  Wohnung  beschafft  werden.  Die  Zahl  der  Führhundbesitzer  stieg  auf  186.  Durch  Um- 
schulung gelang  es,  die  Zahl  der  zu  beschäftigenden  Handwerker  von  149  auf  133  zu  senken, 
von  denen  80  durch  die  Hauptgeschäftsstelle  unserer  Kriegsblindenhandwerkerfürsorge  in  Kruft 
und  53  von  der  Zweigstelle  in  Neustadt  versorgt  werden.  Eine  beträchtliche  Anzahl  der  um- 
geschulten Kameraden  konnte  schon  hauptsächlich  als  Telefonisten  bei  Behörden  untergebracht 
werden,  mehrere  befinden  sich  noch  in  der  Ausbildung.  Da  die  Mehrzahl  der  Kriegsblinden  unseres 
Landes  sehr  entlegen  in  den  Dörfern  der  Eifel,' des  Hunsrücks,  des  Wester-  und  des  Pfälzer 
Waldes  wohnen,  sind  die  berufliche  Unterbringung  und  die  fürsorgerische  Betreuung  mit  beson- 
deren Schwierigkeiten  verbunden.  So  ist  die  Zahl  der  zu  betreuenden  Handwerker  doch  noch 
viel  zu  groß,  wenn  es  auch  wiederum  gelang,  den  Umsatz  von  500000, — DM  des  Vorjahres  auf 
564  000, — DM  im  Berichtsjahr  zu  steigern.  Damit  wurden  verhältnismäßig  die  Umsätze  schon 
jahrzehntelang  tätiger  anderer  Kriegsblindenhandwerkereinrichtungen  überflügelt. 

Die  Bezirksleitungen  liegen  immer  noch  weiter  in  den  Händen  der  bisherigen  erfahrenen  und 
erfolgreich  tätigen  Kameraden:  Kamerad  Pung  für  den  Bezirk  Koblenz,  Kamerad  Platz  für 
den  Bezirk  Pfalz,  Kamerad  Rzegotta  für  den  Bezirk  Trier  und  neuerdings  Kam.  Boiler  für 
Bezirk  Mainz.  Trotz  des  lebhaften  Wunsches  der  Kameraden  ließ  sich  Kamerad  Nell  nicht 
bewegen,  eine  Wiederwahl  zum  Landesverbandsleiter  anzunehmen,  da  er  durch  die  Geschäfts- 
führung der  Kriegsblindenhandwerkerfürsorge  zu  sehr  in  Anspruch  genommen  sei.  Da  ja 
auch  Kamerad  Dr.  Plein  infolge  seiner  beruflichen  Wiederverwendung  als  Richter  beim  Land- 
gericht in  Koblenz  seine  Tätigkeit  als  Vorsitzender  des  Kriegsblindenbundes  in  Bonn  nieder- 
gelegt habe,  schlug  er  diesen  als  Landesverbandsleiter  vor.  Obwohl  Dr.  Plein  sich  bereit 
erklärte,  Kamerad  Nell  bei  seiner  Tätigkeit  zu  unterstützen,  und  ihn  dringend  bat,  die  Landes- 
verbandsleitung weiter  zu  übernehmen,  beharrte  er  auf  seiner  Weigerung.  Daraufhin  wurde 
Kamerad  Dr.  Plein,  Mürlenbach  (Eifel),  zum  Landesverbandsleiter  von  Rheinland- 
Pfalz  gewählt.  Im  übrigen  wurde  der  bisherige  Vorstand  wiedergewählt,  und  da  der  Geschäfts- 
führer der  Handwerkerfürsorge,  Kamerad  Nell,  auch  dem  Landesverbandsvorstand  angehören 
soll,  auf  6 Vorstandsmitglieder  erweitert.  (45  302) 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 

Mi 

Aegidius 

5.35 

19.08 

2 

Do 

Stephan 

5.37 

19.06 

3 

Fr 

Mansuetus 

5.38 

19.04 

4 

Sa 

Rosalia 

5.40 

19.02 

5 

So 

13.  n.  Pfingst.  / 12.  n.  Trinit.  5 

5.41 

18.59 

6 

Mo 

Magnus 

5.43 

18.57 

7 

Di 

Regina 

5.44 

18.55 

8 

Mi 

Mariä  Geburt 

5.46 

18.53 

9 

Do 

Gorgonius 

5.47 

18.51 

10 

Fr 

Nikolaus  v.  Tolentino 

5.49 

18.48 

11 

Sa 

Protus 

5.50 

18.46 

12 

So 

14.  n.  Pfingst.  / 13.  n.  Trinit.  © 

5.52 

18.44 

13 

Mo 

Leutberta,  Notburga 

5.53 

18.42 

14 

Di 

Kreuzerhöhung 

5.55 

18.40 

15 

Mi 

7 Schmerzen  Mariä 

5.56 

18.38 

16 

Do 

Cornelius 

5.58 

18.35 

17 

Fr 

Lambert 

5.59 

18.33 

18 

Sa 

Titus 

6.01 

18.31 

19 

So 

15.  n.  Pfingst.  / 14.  n.  Trinit.  6 

6.02 

18.29 

20 

Mo 

Eustachius 

6.04 

18.26 

21 

Di 

Matthäus  Ev. 

6.05 

18.24 

22 

Mi 

Moritz 

6.07 

18.22 

23 

Do 

Thekla 

6.08 

18.20 

, 

24 

Fr 

Johannis  Empf. 

6.10 

18.18 

25 

Sa 

Kleophas 

6.11 

18.16 

26 

So 

16.  n.  Pfingsten  / 15.  n.  Trinit. 

6.13 

18.13 

27 

Mo 

Kosmas  und  Damian  ® 

6.14 

18.11 

28 

Di 

Wenzel 

6.16 

18.09 

29 

Mi 

Michaelis 

6.17 

18.07 

30 

Do 

Hieronymus 

6.19 

18.04 

Mehr  als  300  Kriegsblinde  wohnen  in  Schleswig-Holstein.  Das  ist  eine  für  die  wirtschaftlich  nicht 
gerade  günstigen  Gegebenheiten  dieses  Landes  sehr  erhebliche  Zahl,  zumal  hier  der  Prozentsatz 
der  ostvertriebenen  Kameraden  weit  höher  liegt  als  in  anderen  Landesverbänden.  Vor  dem 
zweiten  Weltkrieg  lebten  hier  nur  58  Kriegsblinde.  Unsere  Organisation  stand  also  in  den 
letzten  Jahren  hier  vor  größten  Schwierigkeiten,  insbesondere  weil  die  geringe  Industrialisie- 
rung des  Landes  eine  Arbeitsbeschaffung  für  Kriegsblinde  ständig  erschwert.  Soweit  die  Kame- 
raden auf  entlegenen  Dörfern  wohnen,  müssen  sie  durchweg  als  ungenügend  beschäftigte 
Bürstenmacher  tätig  sein.  Die  Umschulung  von  Bürstenmachern  für  Büro-  oder  Industrieberufe 
kann  hier  nur  Sinn  haben,  wenn  gleichzeitig  in  den  Städten  Wohnraum  beschafft  wird.  Die 
Wohnungsnot  ist  aber  auch  unter  den  Kriegsblinden  noch  sehr  spürbar.  5,5  Prozent  der 
Kameraden  müssen  immer  noch  auf  eine  Wohnung  warten,  doch  hat  der  Landesverband 
energische  Maßnahmen  ergriffen,  um  auch  diesen  Kameraden  wieder  zu  einem  eigenen  Herde 
zu  verhelfen.  Erfreulich  ist  es,  daß  es  gelungen  ist,  immerhin  mehr  als  40  Kameraden  unter 
Auswertung  der  Kapitalabfindung  ihrer  V ersorgungsrente  in  den  letzten  Jahren  ein  Eigenheim 
zu  verschaffen. 

Bei  allen  Sorgen,  die  uns  gerade  in  Schleswig-Holstein  ständig  zu  schaffen  machen,  dürfen  wir 
doch  mit  den  Erfolgen  zufrieden  sein,  die  wir  nach  dem  Kriege  und  nach  dem  Wiederaufleben 
unserer  Organisationsarbeit  bis  zum  heutigen  Tage  erreichen  konnten.  Wenn  wir  uns  einen 
Überblick  über  die  Entwicklung  der  letzten  Jahre  verschaffen,  so  ist  festzustellen,  daß  mit  dem 
ungewöhnlichen  Anwachsen  der  Mitgliederzahl  ein  Anwachsen  der  Berufstätigkeit  Hand 
in  Hand  geht,  was  keineswegs  selbstverständlich  ist.  Im  Jahre  19  46  hatten  wir  111  Mitglieder, 
von  denen  41  berufstätig  waren,  19  47  = 262  Mitglieder  mit  68  Berufstätigen,  19  48  = 298  Mit- 
glieder mit  92  Berufstätigen,  19  4 9 = 324  Mitglieder  mit  111  Berufstätigen,  19  50  = 311  Mit- 
glieder mit  120  Berufstätigen,  19  51  = 311  Mitglieder  mit  137  Berufstätigen,  19  5 2 = 306  Mit- 
glieder mit  148  Berufstätigen.  Im  Sommer  19  53  zählte  der  Landesverband  302  kriegsblinde 
Mitglieder  (darunter  7 Kameradinnen),  von  denen  151  im  Berufsleben  stehen.  Trotz  dieser  stetig 
ansteigenden  Kurve  suchen  aber  immer  noch  31  Kriegsblinde  einen  Arbeitsplatz.  Wir  hoffen,  mit 
Hilfe  des  neuen  Schwerbeschädigtengesetzes  recht  bald  auch  diesen  Kameraden  wieder  ein 
erfülltes  und  befriedigendes  Leben  verschaffen  zu  können,  denn  Arbeit  ist  die  beste-  Medizin 
gegen  alle  Depressionen  und  Grübeleien,  die  einem  Kriegsblinden  das  Leben  zur  Last  machen 
können. 

Eine  besondere  Aufgabe  ist  die  berufliche  Unterbringung  möglichst  vieler  Kameraden,  die  jetzt 
noch  als  Bürstenmacher  der  „St.-Georg“-Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft  für  Schleswig- 
Holstein  und  Hamburg  angehören  und  durchweg  eine  nur  unzulängliche  Beschäftigung  haben. 
Hier  richtet  sich  aber  unser  Appell  auch  immer  wieder  an  die  Öffentlichkeit,  für  die  es  eine 
Selbstverständlichkeit  sein  sollte,  ihren  Bedarf  an  Besen  und  Bürsten  bei  den  Kriegsblinden 
zu  decken.  Mit  Dankbarkeit  wollen  wir  aber  anerkennen,  daß  wir  bei  vielen  Betrieben,  Behörden 
und  Privatleuten  dafür  Verständnis  finden,  wie  überhaupt  eine  gute  Zusammenarbeit  mit 
anderen  Organisationen  und  Behörden  unsere  gesamte  Tätigkeit  erleichtert  hat. 

Am  7.  Juni  wurde  bei  der  Jahresversammlung  unseres  Landesverbandes  in  Neumünster  ein 
neuer  V or  stand  gewählt.  Vorsitzender  blieb  Bruno  Eggers,  N eumünster , Kloster- 
straße 107.  Sein  Stellvertreter  ist  Walter  Klamann  in  Bad  Oldesloe,  der  Schriftführer  ist  Heinz 
Koebke  (Raisdorf),  Schatzmeister:  Kurt  Schröder  (Lübeck),  Beisitzer:  Hans  Boyens  (Fockbek). 
Für  den  Bezirk  Nord  ist  Momme  Jensen  zuständig  (Flensburg,  Bahnhofstraße  34),  für  den  Bezirk 
Mitte  Herbert  Strauchmann  (Kiel,  Arfradestraße  29),  für  den  Bezirk  Süd  Wilhelm  Hinzpeter  als 
Stellvertreter  (Grabau,  Kr.  Lauenburg).  (45  305) 


■ ^ iiT 

/ V 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 Fr 

Remigius 

6.20 

18.02 

2 Sa 

Schutzengelfest 

6.22 

18.00 

3 So 

17.  n.  Pfingsten  / 16.  n.  Trinit. 

6.24 

17.58 

4 Mo 

Franziskus  V.  Assisi 

6.25 

17.56 

5 Di 

Plazidus  5 

6.27 

17.54 

' 

6 Mi 

Bruno 

6.28 

17.52 

7 Do 

Rosenkranzfest 

6.30 

17.49 

8 Fr 

Brigitta 

6.31 

17.47 

' 

9 Sa 

Dionysius 

6.33 

17.45 

10  So 

18.  n.  Pfingsten  / 17.  n.  Trinit. 

6.34 

17.43 

11  Mo 

Mutterschaft  Mariä 

6.36 

17.41 

12  Di 

Maximilian  © 

6.38 

17.39 

13  Mi 

Eduard 

6.39 

17.37 

14  Do 

Kallistus  I 

6.41 

17.35 

15  Fr 

Theresia,  Thekla 

6.42 

17.33 

16  Sa 

Gallus 

6.44 

17.31 

17  So 

19.  n.  Pfingsten  / 18.  n.  Trinit. 

6.44 

17.29 

18  Mo 

Lukas  ® 

6.47 

17.27 

19  Di 

Petrus  V.  Alkantara 

6.49 

17.25 

20  Mi 

Wendelin 

6.50 

17.23 

21  Do 

Ursula 

6.52 

17.21 

K 

22  Fr 

Cordula 

6.54 

17.19 

23  Sa 

Herfried 

6.55 

17.17 

24  So 

20.  n.  Pfingsten  / 19.  n.  Trinit. 

6.57 

17.15 

25  Mo 

Crispinus 

6.59 

17.13 

26  Di 

Evavistus  © 

7.00 

17.11 

27  Mi 

Sabina 

7.02 

17.09 

28  Do 

Simon  und  Judas 

7.04 

17.07 

29  Fr 

Narzissus 

7.05 

17.06 

30  Sa 

Serapion 

7.07 

17.04 

31  So 

Christkönigsf./Reformationsf. 

7.08 

17.02 

> ■> 


Die  Schaffung  des  Südweststaates,  d.  h.  der  Zusammenschluß  des  ehemaligen  Landes  Südbaden 
mit  Württemberg-Baden,  hat  in  der  Kriegsblindenfürsorge  keine  wesentlichen  Veränderungen 
gebracht.  Die  Organisation,  der  „Bund  der  Kriegsblinden  Deutschlands  e.  V.,  Landesverband 
Baden",  bleibt  vorläufig  als  selbständiger  Verband  bestehen  und  arbeitet  ähnlich  wie  im  Land 
Nordrhein- Westfalen,  wo  es  gleichfalls  einen  selbständigen  Landesverband  Nordrhein  und  einen 
Landesverband  Westfalen  gibt.  Die  Arbeitsfürsorge  liegt  weiterhin  im  Aufgabenbereich  der 
Süddeutschen  Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft,  gern.  eGmbH. 

Wenn  im  Jahre  1952  infolge  Fehlens  eines  Schwerbeschädigten-Einstellungsgesetzes  keine 
wesentlichen  Fortschritte  in  der  Berufsfürsorge  erzielt  werden  konnten,  so  wurden 
dagegen  die  Bauvorhaben  restlos  durchgeführt.  20  Kameraden  haben  im  Rahmen  des 
Bundeswohnungsbaugesetzes  ein  Eigenheim  mit  Einliegerwohnungen  erstellt.  Die  Finanzierung 
konnte  nicht  in  allen  Fällen  sichergestellt  werden,  weil  Südbaden  der  einzige  Landesteil  ist, 
welchem  aus  Ablösungsgeldern  über  die  Hauptfürsorgestelle  Darlehen  für  den  Wohnungsbau 
Kriegsblinder  nicht  gegeben  werden  konnten.  Die  Einstellungsquote  nach  dem  alten  Schwer- 
beschädigtengesetz beträgt  in  Südbaden  leider  nur  2 v.  H.,  wonach  Ablösungsgelder,  aus  welchen 
Hilfe  für  Schwerbeschädigte  geleistet  werden  könnte,  fast  gar  nicht  eingehen.  Das  neue  Schwer- 
beschädigtengesetz tritt  im  alten  Südbaden  — dem  jetzigen  Regierungspräsidium  Freiburg  — 
mit  seinen  Auswirkungen  praktisch  erst  ab  1.  11.  1953  in  Kraft.  Wir  wollen  hoffen,  daß  Ende  des 
Jahres  die  lang  ersehnte  Gleichstellung  gegenüber  anderen  Ländern  des  Bundes  erzielt  wird 
und  unseren  Kameraden  die  notwendige  Hilfe  in  Form  von  Darlehen  usw.  gesichert  wird. 

Im  Jahre  1953  sind  6 Ostzonen-Flüchtlinge  und  5 Umsiedler  nach  Südbaden  gekommen. 
Der  derzeitige  Mitgliederstand  beträgt  152.  Von  noch  21  stellungsuchenden  Kameraden  konnten 
im  Jahre  1953  bisher  5 Kriegsblinde  in  feste  Arbeitsplätze  vermittelt  werden..  Die  Süddeutsche 
Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft  beschäftigt  66  kriegsblinde  Bürstenmacher,  2 Mattenflechter 
und  1 Korbflechter.  Infolge  Mangels  an  Arbeitsaufträgen  können  die  Kameraden  nur  mit  40  v.  H. 
ihrer  Arbeitsleistung  ausgelastet  werden.  Wir  hoffen  aber,  daß  durch  das  neue  Schwerbeschä- 
digtengesetz und  durch  das  Gesetz  über  den  Vertrieb  von  Blindenwaren  unser  Auftragsbestand 
sich  merklich  erhöhen  wird,  um  die  Beschäftigungslage  weitestgehend  verbessern  zu  können. 
Bemerkenswert  ist,  daß  5 Kameraden,  welche  neben  ihrer  Erblindung  noch  einen  Arm  verloren 
haben,  von  unserer  Arbeitsgemeinschaft  als  Bürstenmacher  und  Mattenflechter  beschäftigt 
werden.  Einmalig  ist  die  Leistung  eines  Kameraden,  der  vollkommen  erblindet  ist  und  beide 
Hände  verloren  hat.  Er  hat  im  Februar  1953  seine  Arbeit  als  Mattenflechter  aufgenommen. 
Es  bedeutet  einen  ungewöhnlichen  Aufwand  an  Energie,  mit  zwei  Hilfsgriffen,  die  an  den 
Armstümpfen  befestigt  werden,  Fußmatten  aus  Kokosgarn  ohne  fremde  Ifilfe  herzustellen. 
Seine  Erzeugnisse  sind  qualitätsmäßig  der  Arbeit  sehender  Handwerker  unbedingt  gleichzu- 
stellen. Ein  kriegsblinder  Ohnhänder,  der  neben  diesen  ungeheuerlichen  Verletzungen  noch 
praktisch  gehörlos  ist,  betätigt  sich  seit  längerem  als  Schriftsteller. 

So  bemühen  wir  uns  auch  in  unserem  kleinen  Landesverband,  mit  den  Schwierigkeiten  fertig 
zu  werden,  die  nur  zu  meistern  sind,  wenn  wir  Kriegsblinden  uns  gegenseitig  helfen.  Das 
geschieht  nicht  nur  mit  der  Betreuung  der  Bürstenmacher,  deren  Zahl  prozentual  in  keinem 
Landesverband  so  hoch  liegt  wie  bei  uns,  das  geschieht  auch  mit  Rat  und  Hilfe  in  vielfältiger 
anderer  Hinsicht  und  nicht  zuletzt  mit  einem  ermutigenden  Wort  von  Kamerad  zu  Kamerad. 
Land  e SV  erb  andsv  o,r  sitzender  des  Landesverbandes  Baden  im  Bund  der  Kriegsblinden 
Deutschland  e.  V.  ist  wie  bisher  Ing.  Alfons  Schramm,  F r eib  ur  g / Br.,  Kirner  Straße  11. 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 Mo 

Allerheiligen 

7.10 

17.00 

>' 

2 Di 

Allerseelen 

7.12 

16.59 

3 Mi 

Hubert 

5 

7.14 

16.57 

4 Do 

Karl  Borromäus 

7.15 

16.55 

5 Fr 

Zacharias 

7.17 

16.54 

6 Sa 

Leonhard 

7.18 

16.52 

7 So 

22,  n.  Pfingsten  / 21.  n.  Trinit. 

7.20 

16.50 

8 Mo 

Egbert,  Gottfried 

7.22 

16.49 

9 Di 

Theodorus 

7.24 

16.47 

10  Mi 

Justus 

7.25 

16.46 

11  Do 

Martin 

7.27 

16.44 

12  Fr 

Kunibert 

7.28 

16.43 



13  Sa 

Alberich 

7.30 

16.42 

14  So 

23.  n.  Pfingsten  / 22.  n.  Trinit. 

7.32 

16.40 

15  Mo 

Leopold 

7.33 

16.39 

16  Di 

Othmar,  Gertrud 

7.35 

16.38 

17  Mi 

Bufi-  und  Bettag 

€ 

7.37 

16.36 

18  Do 

Maximus 

7.38 

16.35 

19  Fr 

Elisabeth 

7.40 

16.34 

20  Sa 

Felix  V.  Valois 

7.42 

16.33 

21  So 

24.  n,  Pfingsten  / Totensonnt. 

7.43 

16.32 

22  Mo 

Cacilia 

7.44 

16.31 

23  Di 

Clemens 

7.46 

16.30 

24  Mi 

Chrysogonus 

7.48 

16.29 

25  Do 

Katharina 

© 

7.49 

16.28 

26  Fr 

Konrad 

7.51 

16.27 

27  Sa 

Virgilius 

7.52 

16.26 

28  So 

1.  Adventsonntag 

7.54 

16.26 

29  Mo 

Friedrich,  Eberhard 

7.55 

16.25 

30  Di 

Andreas 

7.56 

16.24 

Westfalen,  das  Land  der  Roten  Erde,  scheint  ein  Land  der  Gegensätze  zu  sein.  Flaches  Tiefland 
in  der  nördlichen  Hälfte,  der  Süden  dagegen  gebirgig  mit  Höhen  bis  840  m;  Schwerindustrie  im 
Ruhrgebiet,  daneben  das  uralte  Bauernland  Herzog  Wittekinds.  Aber  der  Mensch,  der  Westfale, 
er  ist  aus  einem  Guß,  ob  Kumpel,  Bauer  oder  Fabrikarbeiter,  ln  diesem  Land  der  Arbeit  wurde 
die  Berufsfürsorge  von  unseren  Bezirksleitern  durch  tatkräftige  Unterstützung  der  Haupt- 
fürsorgestellen und  der  Arbeitsämter  intensiv  vorangetrieben.  Es  gelang,  in  einzelnen  Bezirken 
sämtliche  Arbeitsuchenden  unterzubringen. 

Zur  Zeit  werden  beschäftigt:  selbständige  Masseure  20,  angestellte  Masseure  23,  Telefonisten 
und  Postangestellte  88,  Stenotypisten  und  Auskunftserteiler  4,  Lehrer,  Künstler,  Beamte  usw. 
32,  Juristen  8,  Arbeiter  in  Betrieben  (Ankerwickler,  Sortierer,  Packer,  Bürstenmacher  usw.)  82; 
in  selbst.  Berufen  als  Kaufleute,  Gastwirte,  Landwirte,  Totostelleninhaber,  Bürstenmacher  usw. 
70.  In  Ausbildung  befinden  sich  noch  28  Kriegsblinde.  228  Kriegsblinde  sind  an  einer  beruflichen 
Tätigkeit  wegen  der  Schwere  ihres  Leidens  oder  wegen  zu  hohen  Alters  nicht  mehr  interessiert. 
22  Kriegsblinde  suchen  noch  einen  Arbeitsplatz. 

Die  Kriegsblinden-  H andw  er  k er  - Fürsorge  Nordrhein-Westfalen  („KHF“)  mit  dem  Sitz  in 
Dortmund-Marten,  Bärenbruch  25,  ist  als  gemeinnütziges  Unternehmen  anerkannt.  Erfreulicher- 
weise konnte  die  Zahl  der  ihr  angeschlossenen  Handwerker  gesenkt  werden,  so  daß  die  Zahl  der 
Beschäftigten  z.  Z.  186  beträgt.  Hierin  sind  71  aus  Nordrhein  und  115  aus  Westfalen  enthalten. 
Sie  erhalten  durch  die  Kriegsblinden-Handwerker-Fürsorge  die  Rohstoffe  zur  Anfertigung  von 
Bürsten,  Besen,  Fußmatten  und  Körben  zugewiesen.  Den  Vertrieb  nimmt  die  „KHF“  vor.  Wenn- 
gleich sich  der  Umsatz  im  Jahre  1953  gegenüber  dem  Vorjahre  steigerte,  so  ist  die  Beschäftigung 
der  Handwerker  noch  ungenügend.  Die  Geschäftsleitung  setzt  alles  daran,  um  den  Beschäf- 
tigungsgrad zu  erhöhen.  Die  „KHF“  beabsichtigt,  in  Kürze  eigene  Betriebsräume  zu  errichten, 
da  die  jetzigen  unzureichend  sind  und  auch  in  ihrer  Beschaffenheit  dem  Ansehen  der  Kriegs- 
blinden nicht  entsprechen.  Ein  geeignetes  Grundstück  wurde  der  „KHF“  durch  die  Stadtverwal- 
tung Dortmund  im  Wege  des  Erbbaurechts  in  Dortmund-Mitte  zur  Verfügung  gestellt.  Nach  wie 
vor  liegt  die  Leitung  der  „KHF“  in  den  Händen  unseres  Kameraden  Wilhelm  Scharr a. 

Von  den  783  in  Westfalen  zu  betreuenden  Kriegsblinden  haben  205  Kameraden  außer  ihrer 
Blindheit  weitere  schwere  Verletzungen  davongetragen,  darunter  14  Ohnhänder. 
27  Kriegsblinde  sind  weiblichen  Geschlechts. 

Außer  der  versorgungsrechtlichen  und  fürsorgerischen  Betreuung  gilt  es,  den  Kameraden  bei 
der  Wohnraumbeschaffung  behilflich  zu  sein.  Die  Herstellung  von  Eig  enheimen  hat  in  den 
ländlichen  Bezirken  gute  Anfangserfolge  gezeitigt,  dagegen  ist  in  den  Großstädten  die  Beschaf- 
fung von  Baugelände  sehr  kostspielig  und  nicht  immer  im  Erbpachtwege  zu  erreichen. 

In  Münster  befinden  sich  das  Landesversorgungsamt  Westfalen,  die  Landesversicherungsanstalt 
Westfalen  und  die  Hauptfürsorgestelle  Münster;  durch  den  Sitz  unserer  Geschäftsstelle  an 
diesem  Ort  ist  eine  gute  Zusammenarbeit  mit  den  Behörden  gewährleistet.  — Neu  eingerichtet 
wurden  im  Vorstand  unseres  Landesverbandes  das  Sachgebiet  Siedlung  und  Lastenausgleich 
(Bearbeiter:  Karl  Schleheck,  Detmold,  Theaterplatz  5)  und  das  Sachgebiet  für  Invaliden-  und 
Angestelltenrenten  (Bearbeiter:  Helmut  Dorf,  Bochum,  Weiherstr.  52).  Die  Landesverbands- 
geschäftsstelle befindet  sich  in  Münster /W  estf.,  Pleistermühlenw  eg  71  (Tel.  36198) 
und  wird  von  dem  Vorsitzenden  Heinrich  Schütz  geleitet.  (45  382) 


Feste  und  Heiligennamen 

Sonnenlauf 

NOTIZEN 

1 Mi 

Elegius 

7.58 

16.24 

2 Do 

Bibiana 

7.59 

16.23 

3 Fr 

Franz  Xaver 

> 

8.00 

16.23 

4 Sa 

Barbara 

8.02 

16.22 

5 So 

2.  Adventsonntag 

8.03 

16.22 

6 Mo 

Nikolaus 

8.04 

16.21 

7 Di 

Ambrosius 

8.05 

16.21 

8 Mi 

Mariä  Empfängnis 

8.06 

16.21 

9 Do 

Valerian 

8.08 

16.20 

10  Fr 

Witgar 

® 

8.09 

16.20 

11  Sa 

Damasus 

8.10 

16.20 

12  So 

3.  Adventsonntag 

8.11 

16.20 

13  Mo 

Lucia 

8.12 

16.20 

14  Di 

Nikasius 

8.12 

16.20 

15  Mi 

Rainald,  Johanna 

8.13 

16.20 

16  Do 

Adelheid 

8.14 

16.20 

17  Fr 

Lazarus 

e 

8.15 

16.21 

18  Sa 

Christoph 

8.16 

16.21 

19  So 

4.  Adventsonntag 

8.16 

16.21 

20  Mo 

Christian 

8.17 

16.22 

21  Di 

Thomas 

8.18 

16.22 

22  Mi 

Irmina 

8.18 

16.23 

23  Do 

Viktoria 

8.19 

16.23 

24  Fr 

Heiliger  Abend 

8.19 

16.24 

25  Sa 

. 1.  Weihnachtstag 

® 

8.20 

16.24 

26  So 

2,  Weihnachtstag 

8.20 

16.25 

27  Mo 

Joh.  Evangelist 

8.20 

16.26 

28  Di 

Unschuldige  Kinder 

8.20 

16.26 

29  Ml 

Thomas  v.  Canterbury 

8.21 

16.27 

30  Do 

David 

8.21 

16.28 

31  Fr 

Silvester 

8.21 

16.29 

Die  meisten  Deutschen  sehen  gern  in  den  Ländern  Württemberg  und  Baden  ein  Gebiet,  in 
welchem  Milch  und  Honig  fließt  und  wo  man  gemeinhin  glücklich  und  sorgenlos  zu  leben  ver- 
mag. Daß  es  aber  nicht  gar  so  einfach  zugeht,  beweisen  die  mancherlei  Sorgen,  die  den  dortigen 
Landesverband  des  Bundes  der  Kriegsblinden  Deutschlands  e.  V.  bewegen.  Gewiß,  die  Kunst  zu 
leben,  kennt  man  hier  besser  als  in  vielen  anderen  deutschen  Landschaften,  und  bei  den  Kriegs- 
blinden zeigt  sich  das  z.  B.  in  einer  sehr  herzlichen  und  regen  Kameradschaft,  die  mit  vielerlei 
kleinen  und  großen  Veranstaltungen  vom  Kriegsblindenbund  gefördert  wird,  aber  die  Sorgen 
sind  hier  nicht  geringer  als  anderswo.  Das  zeigt  sich  vor  allem  auf  dem  schwierigen  Gebiet  , 
der  Handwerkerfürsorge,  die  traditionellerweise  im  Vordergrund  der  Arbeit  steht,  schon  des- 
halb, weil  ein  ungewöhnlich  hoher  Prozentsatz  unserer  Kameraden  im  Handwerk  tätig  ist. 

Die  Zahl  der  Handwerker  in  der  Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft  für  Württemberg 
und  Baden,  gern.  GmbH.,  Stuttgart,  ist  von  275  auf  251  zurückgegangen.  Leider  hat  sich  diese 
Zahl  nicht  in  dem  Maße  verringert,  wie  es  im  Interesse  der  übrigen  Handwerker  angestrebt 
wird.  Einerseits  rührt  das  von  der  neuerlichen  Aufnahme  von  6 Flüchtlingen  als  Handwerker 
her  und  andererseits  von  der  immer  noch  sehr  mangelnden  Vnterbringungsmöglichkeit  in  der 
Industrie.  Der  Umsatz  konnte  erfreulicherweise  trotz  der  immer  wieder  auftretenden  Schmutz- 
konkurrenz und  trotz  einigen  anderen  unerfreulichen  Hemmnissen,  wie  Auftreten  der  Maul- 
und Klauenseuche  in  verschiedenen  Absatzgebieten,  mit  einem  geringfügigen  Unterschied  auf 
der  Höhe  des  Vorjahres  gehalten  werden.  Um  die  Handwerker  voll  beschäftigen  zu  können, 
wären  natürlich  Umsatzsteigerungen  von  größter  Notwendigkeit.  Um  dies  zu  ermöglichen,  gilt 
der  Kampf  weiterhin  in  verstärktem  Maße  der  Abwehr  unlauterer  Geschäftemacher,  welche  die 
Kriegsblinden  als  Aushängeschild  benützen.  Vom  neuen  Blindenwarenschutzgesetz  wird  nun 
erhofft,  daß  es  vielen  dieser  unsauberen  Personen  und  Firmen  das  Handwerk  legt. 

Der  Landesverband  Württemberg-Nordbaden  kann  wieder  auf  eine  reichhaltige  und  ersprieß- 
liche Tätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  Betreuung  und  Fürsorge  zurückblicken  und  ist 
immer  wieder  hilfsbereit  dort  eingesprungen,  wo  es  die  seelische  und  wirtschaftliche  Not  bei 
den  Kameraden  erforderlich  machte,  was  nicht  zuletzt  auf  die  tatkräftige  Initiative  und  die 
soziale  Einstellung  des  1.  Vorsitzenden  zurückzuführen  ist,  welcher  für  seine  25jährige  auf- 
opferungsvolle Arbeit  vom  Bundespräsidenten  mit  der  Verleihung  des  Verdienstkreuzes  am 
Bande  des  Verdienstordens  der  Bundesrepublik  geehrt  wurde.  Er  war  es  auch,  der  wieder  einer 
Reihe  von  Kameraden  zu  einem  Eigenheim  verhelfen  hat. 

Von  dem  der  „Selbsthilfe  württemberg-badischer  Kriegsblinder  e.V." 
gehörenden  Kriegsblinden-Kurheim  (Rudolf-Schnaitmann-Haus),  Wildbad,  kann  berichtet 
werden,  daß  sich  dieses  Heim  in  immer  steigendem  Maße  des  Zuspruchs  von  Kameraden  aus 
allen  Landesverbänden  erfreut,  dank  der  wunderbaren  Lage  in  halber  Höhe  des  Sommerbergs, 
im  Herzen  des  Schwarzwaldes  mit  seiner  ozonreichen  Luft,  dank  der  für  jeden  Kameraden  7ind 
deren  Ehefrauen  möglichen  Inanspruchnahme  der  weltbekannten,  wunderwirkenden  Heil- 
quellen und  nicht  zuletzt  dank  der  allseits  lobend  hervorgehobenen,  vorzüglichen  Küche  mit 
ihrer  abwechslungsreichen  Speisenfolge  und  der  im  Heim  käuflichen,  gepflegten  und  preis- 
würdigen Weine.  Ein  Foto  im  Innern  dieses  Jahrbuches  möge  einen  Eindruck  von  der  Schönheit 
des  Heimes  geben. 

Die  Anschrift  des  Landesverbandsvorsitzenden  lautet  wie  bisher:  Rudolf  S chnait  - 
mann,  Stuttgart-W.,  Hermannstraße  13.  (40  842/43  389) 


Kriegserblindung  als  Aufgabe 


Von  Oberstudienrat  Dr.  Hans  Ludwig,  i.  Bundesvorsitzender 


Niemand  wird  bestreiten,  daß  der  jähe  Ver» 
lust  des  Augenlichtes  für  den  Betroffenen 
seelisch  und  körperlich  eine  Katastrophe  Be= 
deutet.  Aus  der  Helligkeit  des  Tages  werden 
Menschen  in  der  Vollkraft  ihrer  Jugend=  und 
Mannesjahre  in  die  Finsternis  geworfen  und 
mit  einem  Schlage  zu  Krüppeln  gemacht.  Das 
Auge  ist  der  Spiegel  der  Seele.  So  manches 
harte  Wort  würde  nicht  gesprochen,  so  manche 
böse  Tat  vermieden  und  so  manches  Miß= 
Verständnis  rasch  beseitigt  werden,  wenn  wir 
dem  andern  ins  Auge  sehen  könnten.  Mit  den 
Augen  sehen  wir  die  Schönheiten  der  Natur 
und  nehmen  das  Bild  einer  Landschaft  in  uns 
auf.  Mit  den  Augen  betrachten  wir  die  Schöp= 
fungen  der  Kunst,  ein  Bild,  eine  Plastik  oder 
die  Meisterwerke  der  Baukunst.  Mit  den  Augen 
lesen  wir  die  Schriftwerke  der  Dichtung  und 
Wissenschaft  und  folgen  der  Darstellung  in 
Bühne  und  Film. 

Das  alles  erscheint  mit  einem  Male  in  die 
Katastrophe  der  Erblindung  mit  hineinversun» 
ken  in  ewige  Nacht.  In  zahlreichen  Fällen 
kommt  zu  dem  Verlust  des  Augenlichtes  noch 


ein  weiterer  Körperschaden  hinzu,  der  den 
Betroffenen  in  seiner  körperlichen  Bewegungs» 
freiheit  oft  so  stark  behindert,  daß  er  in  allen 
Lebensfunktionen  auf  sehende  Hilfe  angewiesen 
ist.  Im  Dienste  für  Volk  und  Vaterland  haben 
diese  Menschen  gestanden  und  bei  der  Erfül» 
lung  ihrer  staatsbürgerlichen  Pflichten  ihr 
Augenlicht  verloren  und  weitere  Körperschäden 
davongetragen.  Der  Krieg  hat  ihnen  Wunden 
geschlagen,  die  niemals  ganz  heilen.  Welch 
seelischer  Kampf  hier  durchgekämpft  wird,  ver= 
mag  nur  der  zu  ermessen,  der  durch  das  dunkle 
Tal  der  Erblindung  gegangen  ist  und  der  von 
außen  her  die  nötige  Einfühlungsgabe  besitzt, 
sich  in  das  Leben  anderer  hineinzuversetzen. 

Viele  sind  an  diesem  inneren  Kampf  zer* 
brochen  und  sind  nicht  fertig  geworden  mit 
ihrem  Schicksal.  Andere  verharren  in  Bitterkeit, 
sie  hadern  mit  dem  Schicksal  und  betäuben  sich 
krampfhaft.  Die  weitaus  größte  Zahl  aber  hat 
das  Schicksal  gemeistert  und  sich  das  Leben 
neu  gestaltet.  Die  deutschen  Kriegsblinden  sind 
unter  dem  Schicksal  der  Erblindung,  das  sie 
so  jäh  traf,  nicht  zusammengebrochen,  sondern 


Spürt  man  hier  nicht,  mit  welcher  Liebe  und  Hingabe  dieser  kriegsblinde  Handwerker  bei 
der  Arbeit  ist?  Oft  hat  er  aber  nur  zwei  Stunden  am  Tage  zu  tun,  weil  es  an  Aufträgen 
fehlt.  Enttäuscht  und  grübelnd  sitzt  er  dann  untätig  da  und  muß  sich  für  ein  nutzloses  Wrack 
halten.  Brunzendorf 


32 


sie  haben  die  Niederlage  in  eine  sittliche  Auf» 
gäbe  umgewandelt,  zu  einer  Aufgabe  an  sich 
selbst  und  zu  einer  Aufgabe  für  andere.  „Wenn 
es  etwas  gibt,  gewaltiger  als  das  Schicksal,  so 
ist's  der  Mensch,  der's  unerschüttert  trägt." 
Dies  Dichterwort  haben  die  Kriegsblinden  bei« 
der  Weltkriege  erfüllt.  Die  Wege  sind  je  nach 
Veranlagung  und  Willen  verschieden,  die  der 
einzelne  Kriegsblinde  zur  Erfüllung  dieser  Auf« 
gaben  eingeschlagen  hat,  und  der  Weg  ist 
wieder  bestimmt  worden  durch  das  jeweilige 
Ziel,  das  er  sich  gesteckt  hat. 

Von  außen  sind  helfende  Hände  gereicht 
worden.  Versorgungs»  und  Fürsorgeeinrichtun« 
gen  und  eine  planvolle  Gesetzgebung  haben  die 
Voraussetzungen  geschaffen,  das  Leben  neu  zu 
beginnen  und  positiv  zu  gestalten.  Die  deut« 
sehen  Kriegsblinden  stehen  nicht  abseits  und 
fern  des  flutenden  Lebens  in  Volk  und  Staat, 
sondern  sind  Glieder  ihres  Volkes  wie  alle.  Sie 
haben  Familien  gegründet  und  Kinder  erzogen. 
Sie  haben  sich  eine  berufliche  Existenz  geschaf« 
fen  und  nehmen  aktiv,  ein  jeder  in  seinem 
Lebenskreis,  am  sozialen,  gesellschaftlichen  und 
kulturellen  Leben  teil,  das  die  Umwelt  bietet. 

Dies  Jahrbuch  berichtet  von  dem  Leben  und 
Schaffen  der  deutschen  Kriegsblinden.  Es  kündet 
von  den  Fähigkeiten  und  Leistungen  einzelner 
und  legt  Zeugnis  ab  von  der  Arbeit  in  der 
Gemeinschaft.  Kriegserblindung  als  Aufgabe 
für  den  einzelnen  und  die  Gemeinschaft,  so 
lautet  die  Losung.  In  den  Lazaretten  und  Um= 
Schulungsheimen  trafen  die  Kameraden  mit 
andern  zusammen,  die  das  gleiche  Schicksal 
tragen.  Erfahrungen  wurden  ausgetauscht  und 
Freundschaften  fürs  Leben  geschlossen.  Wie  es 
kein  Einzelleben  gibt,  sondern  jeder  Mensch 
auf  seine  Mitmenschen  und  ihre  Gemeinschaft 
angewiesen  ist,  so  auch  der  Kriegsblinde.  So 
haben  sich  bereits  während  des  ersten  Welt« 
krieges  die  Kriegsblinden  zum  „Bund  erblinde« 
ter  Krieger"  zusammengeschlossen,  um  ihre 
Belange  selbst  zu  vertreten,  sich  gegenseitig 
Hilfe  zu  leisten  und  ihre  Forderungen  gegen« 
über  Staat  und  Gesellschaft  durchzusetzen.  Es 
war  der  erste  Kriegsopferverband  in  Deutsch» 
land. 

Durch  den  zweiten  Weltkrieg  hat  sich  die 
Zahl  der  Kriegsblinden,  die  seit  1949  im  „Bund 
der  Kriegsblinden  Deutschlands  e.  V."  neu 
zusammengefaßt  sind,  mehr  als  verdreifacht. 
Sie  beträgt  allein  im  Bundesgebiet  fast  7000. 
Hinzu  kommen  noch  etwa  dreitausend  kriegs« 
blinde  Kameraden  der  Sowjetzone,  die  unter 
den  gegenwärtigen  politischen  Verhältnissen 
unserer  Schicksalsgemeinschaft  nicht  angehören 
können  und  die  wir  namentlich  nicht  einmal 


Anschrift  des  Kriegsblindenbundes 

Die  Bundesgeschäftsstelle  des  Bundes  der 
Kriegsblinden  Deutschlands  e.  V.  hat  die  An« 
Schrift:  Bonn,  Schumannstr.  35  (Tel.  2 23  35). 


Dieser  Kriegsblinde  war  vor  seinem  Wehr- 
dienst Goldschmied.  Jetzt  leistet  er,  allein  auf 
das  Feingefühl  seiner  Fingerspitzen  angewie- 
sen, Präzisionsarbeit  bei  der  Herstellung  der 
Leica  in  den  Leitz-W erken,  Wetzlar. 


So  bereitete  sich  der  kriegsblinde  Jurist  Fritz 
Baumgarte  aus  Bremen  auf  seine  Assessor- 
prüfung vor.  Von  der  Blindenhochschul- 
bücherei Marburg  ließ  er  sich  vielfältige 
wissenschaftliche  Literatur  schicken,  die  er 
mit  den  Fingerspitzen  liest.  Als  ehemaliger 
Ingenieur  hat  er  zur  Feierabendzeit  Freude 
am  Basteln.  Seine  Frau  war  anfangs  seine 
„Schwester“,  nämlich  im  Lazarett. 


3 


33 


Oberstudienrat  Dr.  Hans  Ludwig,  1.  Vor. 
sitzender  des  Bundes  der  Kriegsblinden 
Deutschlands  e.  V.,  erblindete  im  1.  Welt- 
krieg und  erarbeitete  sich  dann  Abitur  und 
Studium. 


alle  erfaßt  haben.  Dieser  „Bund  der  Kriegs» 
blinden"  ' bildet  in  seiner  Struktur,  wie  es 
ein  Kamerad  einmal  richtig  formulierte,  einen 
Querschnitt  durch  unser  ganzes  Volk.  Er  stellt 
in  seinem  organisatorischen  Aufbau  ein  Abbild 
im  kleinen  dar,  wie  ihn  der  staatliche  Aufbau 
der  Bundesrepublik  im  großen  zeigt.  Seine 
obersten  Organe  sind  hier  wie  dort  der  Bundes» 
tag,  der  Bundesbeirat,  der  von  den  Vorsitzenden 
der  Landesverbände  gebildet  wird,  und  der 
Bundesvorstand,  der  gleichsam  die  Regierung 
darstellt.  Der  Bund  gliedert  sich  einschließlich 
West=Berlin  in  zwölf  Landesverbände  und 
sechzig  Bezirke.  Dieser  Bund  bildet  eine  ge» 
schlossene  Einheit  nach  außen  und  innen  und 
läßt  zugleich  der  Selbständigkeit  und  Selbst» 
Verwaltung  der  Landesverbände  weitesten  Spiel» 
raum.  Einheitlichkeit  in  der  Zielsetzung  und 
Erfüllung  der  hohen  Aufgabe,  die  Kameraden 
in  ihren  persönlichen,  beruflichen,  Wirtschaft» 
liehen,  sozialen  und  kulturellen  Anliegen  zu 
fördern  und  zu  unterstützen,  und  Mannig» 
faltigkeit  der  Mittel  und  Wege  zu  ihrer  Er» 
reichung. 

Unser  Bund  umschließt  alle  Stände  und 
Berufe;  Handwerker  und  Geistesarbeiter,  Ar» 
beitgeber  und  Arbeitnehmer,  Angestellte  und 
Beamte,  Industriearbeiter,  Landwirte  und  Kauf» 
leute.  Er  birgt  in  sich  alle  Spannungen  und 
Gegensätze,  die  unser  Volksleben  im  ganzen 


durchziehen.  Zentrales  Denken  und  landschaft» 
lieh  gebundene  Form  stehen  in  ständiger 
Wechselwirkung  wie  Pol  und  Gegenpol  zuein» 
ander,  ziehen  sich  an,  ergänzen  sich  in  ihren 
Aufgaben  für  das  Ganze  und  geraten  in  Span» 
nung  miteinander.  An  pulsierendem,  span» 
nungsreichem  Leben  hat  es  in  unserer  Kriegs» 
blindenschicksalsgemeinschaft  nie  gefehlt.  Der 
Kampf  um  die  Gestaltung  und  Förderung  der 
eigenen  Lebens»  und  Berufsexistenz  und  um  die 
Betreuung  der  Kameraden  hält  die  Kräfte  all 
derer,  die  an  verantwortlicher  Stelle  stehen, 
stets  rege.  Unser  Kriegsblindenbund  ist  gleich» 
sam  eine  kleine  Welt  für  sich  und  nimmt  doch 
so  unmittelbar  andern  öffentlichen  und  privaten 
Leben  und  Geschehen  -unseres  Volks»  und 
Staatslebens  teil. 

Groß  und  mannigfach  sind  die  Aufgaben,  die 
dem  Bund  und  seinen  Organen  heute  gestellt 
sind.  Auch  in  ihnen  spiegelt  sich  das  Ganze 
unseres  Volks»  und  Staatslebens  wider.  Aufbau 
und  Ausbau  der  Organisation,  die  in  ständigem 
Fluß  bleibt  und  sich  den  gegebenen  Forderungen 
der  Zeit  anpaßt;  Arbeits»  und  Berufsfürsorge, 
die  darauf  abzielt,  die  kriegsblinden  Kameraden 
in  eine  ihren  Fähigkeiten  und  Kräften  an» 
gemessene  Berufstätigkeit  zu  bringen  und  sie 
im  Rahmen  der  gesetzlichen  Möglichkeiten  in 
den  allgemeinen  Arbeitsprozeß  einzugliedern. 

Daneben  steht  als  besonderes  Aufgaben» 
gebiet  die  Erholungsfürsorge,  um  den  Kamera« 
den,  deren  Nerven  und  Kräfte  im  Beruf  und 
im  öffentlichenVerkehrsleben  stärker  angespannt 
und  verbraucht  werden,  die  erforderliche  Erho» 
lung  zu  schaffen  und  sie  neue  Kräfte  für  den 
Daseinskampf  ihres  Lebens  sammeln  zu  lassen. 
Und  die  sieben  Kur»  und  Erholungsheime 
unseres  Bundes  sind  zugleich  Stätten  fröhlicher 
Geselligkeit  und  fördern  die  kameradschaftliche 
Verbundenheit.  Sie  bieten  Gelegenheit  zum 
Erfahrungsaustausch  und  zu  geistiger  Anregung. 

Da  ist  ferner  als  selbständiger  Aufgaben» 
kreis  die  Handwerksfürsorge,  die  in  sog. 
Arbeitsfürsorgeeinrichtungen  unseren  kriegs» 
blinden  Handwerkern,  die  es  heute  im  Kon» 
kurrenzkampf  mit  der  Industrie  so  schwer 
haben,  eine  einigermäßen  gesicherte  Existenz 
schafft.  Von  Kriegsblinden  geleitet,  stellen  die 
Arbeitsfürsorgeeinrichtungen  einen  fest  um» 
grenzten  Wirtschaftsfaktor  dar,  den  kennenzu» 
lernen  es  sich  schon  lohnt. 

. Und  da  ist  nicht  zuletzt  das  Aufgabengebiet 
des  Wohnungs=  und  Siedlungswesens,  das  vom 
Bunde  und  den  Landesverbänden  mit  Eifer 
betrieben  und  gefördert  wird,  um  den  Kamera» 
den  eine  eigene  Heimstätte  in  ruhiger  und 
schöner  Umgebung  zu  schaffen.  Hier  allein, 
unbeobachtet  und  unbeengt,  kann  ein  Kriegs» 
blinder  einen  Ausgleich  für  die  ungeheure 
Nervenanspannung  des  Alltags  finden.  Es  be» 
darf  naturgemäß  zur  Erfüllung  all  dieser  Auf» 
gaben  der  Mithilfe  der  öffentlichen  Hand.  Bund 
und  Länder  und  alle  für  das  Versorgungs»  und 
Fürsorgewesen  zuständigen  Behörden  haben 


34 


durch  gesetzliche  Maßnahmen  die  Voraus* 
Setzungen  geschaffen,  nach  denen  wir  die  uns 
gestellten  Aufgaben  innerhalb  unserer  Schick* 
salsgemeinschaft  lösen  können. 

Kriegserblindung  als  Aufgabe  für  den  einzel» 
nen  und  die  Gemeinschaft,  davon  sollen  diese 
Zeilen  und  dieses  Jahrbuch  Zeugnis  ablegen. 
Vorwärts  und  aufwärts  geht  der  Weg. 

Mit  besonderer  Sorge  erfüllt  uns  die  Versor* 
gung  unserer  Frauen,  wenn  wir  selbst  einmal 
abberufen  werden.  Was  sie  in  einem  stillen, 
opferreichen  Leben  täglich  für  uns  tun,  kann 
ohnedies  mit  materiellen  Gütern  nicht  ausge= 
glichen  werden.  Auch  für  sie  ist  die  Kriegs* 
erblindung  ihres  Mannes  zu  einer  hohen  sitt* 
liehen  Lebensaufgabe  geworden,  der  sie  sich  mit 
ganzer  Seele  hingeben.  Unsere  Pflicht  aber  ist 
es,  ihren  Lebensunterhalt  einmal  sicherzustel* 
len  und  sie  vor  wirtschaftlicher  und  seelischer 
Not  im  Daseinskampf  zu  bewahren. 

Und  da  ist  weiter  die  Aufgabe,  nicht  eher  zu 
ruhen  und  zu  rasten,  bis  auch  der  letzte  noch 
arbeitswillige  und  arbeitsfähige  Kriegsblinde 


eine  ihm  gemäße  berufliche  Betätigung  gefun* 
deti  hat,  die  ihm  Freude  und  Befriedigung  ge= 
währt  und  ihn  zu  einem  nützlichen  Glied  der 
schaffenden  Gemeinschaft  macht. 

Schließlich  aber  legt  uns  die  Schicksals* 
Verbundenheit  mit  den  Ostzonenkameraden  die 
Pflicht  auf,  diese  Verbundenheit  zu  erhalten 
und  zu  fördern  und  sie  in  ihrer  schweren 
Lebenslage  zu  unterstützen,  bis  die  Zeit  kommt, 
da  sie  wieder  vereinigt  werden. 

Brücken  des  Verstehens  und  der  Zusammen* 
arbeit  aber  schlagen  wir  auch  zu  den  andern 
Schwerbeschädigtenverbänden,  insbesondere  zu 
unsern  zivilblinden  Leidensgefährten,  die  nicht 
minder  tapfer  das  schwere  Los  der  Erblindung 
tragen  und  genau  so  ein  Recht  auf  Arbeit  und 
Lebensglück  haben.  Damit  sind  nur  die  wichtig* 
sten  Aufgaben  angedeutet,  die  uns  gestellt  sind. 
Nur  im  Dienste  für  andere  können  wir  das 
eigene  Schicksal  überwinden  und  es  zu  einer 
positiven  Aufgabe  gestalten  zum  Wohle  des 
einzelnen  und  zum  Segen  unserer  großen 
Schicksalsgemeinschaft. 


Ein  akustisches  Feinmeßgerät  bedient  der  Kriegsblinde  H.  Werner  im  Werk  Vlm  der  Klöckner. 
Humboldt-Deutz  AG.  Der  elektrische  Feintaster  zeigt  normalerweise  durch  Auflerichien  ver- 
schiedener Lampen  (im  Bild  das  Gerät  „O“),  also  auf  optische  Weise  das  Ergebnis  der  Prüfung 
von  Werkstücken  an.  Für  den  Kriegsblinden  kommt  ein  akustisches  Anzeigegerät  „A“  in 
Anwendung,  das  mit  verschiedenen  Summtönen  arbeitet.  Hugo  Werner  prüft  Kipphebel- 
achsen, die  für  Motoren  bestimmt  sind,  auf  ihre  Maßhaltigkeit,  prüft  mit  Preßluft  die  Öl- 
bohrungen und  vernietet  ein  Seitenloch  der  Achsen  mit  einem  Aluminiumstift,  „ohne  sich 
mit  dem  Hammer  auf  den  Finger  zu  schlagen",  wie  sein  Vorgesetzter  hinzufügt.' 

Foto;  Magirus-Deutz 


?5 


y* 


„Madot  es  uns  leidster,  euch  zu  begegnen  h' 

Kriegsblinde  berichten  von  ihren  Erfahrungen  im  Umgang  mit  Sehenden 


„O  mei,  der  arme  Kerl!"  — Diese  Bemerkung 
einer  Dame  zu  einer  anderen  galt  mir. 

Was  schleppen  Sie  denn  den  Blinden  da  mit? 
Der  soll  doch  daheim  in  seinem  Bett  liegen» 
bleiben!  — Dies  sagte  ein  Schalterbeamter,  als 
ich  morgens  um  lo  Uhr  am  Arme  meiner  Be= 
treuerin  unter  vielen  anderen  Personen  etwas 
am  Postamt  abzuholen  hatte.  — Ich  war  wohl 
früher  aufgestanden  als  jener  Beamte  und  ar= 
beitete  mindestens  soviel  wie  er. 

Sehen  Sie  gar  nichts?  fragte  mich  mit  über« 
lauter  Stimme  ein  Mann,  als  ich  auf  einer  Bank 
saß.  Darauf  meine  Antwort:  Mit  den  Augen 
nicht,  aber  mit  den  Ohren  sehe  ich  sehr  gut. 
Sie  können  also  leiser  mit  mir  reden! 

Da  haben  Sie  eine  kleine  Gabe!  sagte  eine 
weibliche  Stimme,  als  ich  vor  einem  Laden 


stand,  in  dem  meine  Betreuerin  ihre  Hinkäufe 
besorgte,  und  ein  Zehnerl  befand  sich  in  meiner 
Hand.  Ich  gab  es  mit  freundlichem  Dank  zu« 
rück. 

Zu  Hause  und  in  meinem  Garten  verschwand 
vor  meinen  nichtsehenden  Augen  gelegentlich 
dieses  und  jenes.  — Ach,  wie  seid  ihr  so  blind, 
die  ihr  meint,  ein  Blinder  sähe  nur  mit  den 
Augen!  — So  dachte  ich  und  — schwieg." 

Das  sind  typische  Beobachtungen,  wie  sie  der 
Kriegsblinde  Dr.  Norbert  Stern,  München, 
machte:  Immer  wieder  hält  man  uns  für  be= 
dauernswerte,  kranke  Kreaturen,  die  in  der 
Welt  der  Sehenden  eigentlich  nichts  zu  suchen 
haben,  in  einer  Welt  also,  der  wir  doch  jahre« 
und  jahrzehntelang  angehört  haben,  in  allen 
erdenklichen  Berufen,  genau  wie  ihr,  die  ihr 


Wos  für  den  sehenden  Menschen  ein  Fotoalbum,  das  wird  für  den  Kriegsblinden  in  Zukunft 
vielleicht  das  „Schallalbum“  sein.  Etwa  300  Kriegsblinde  besitzen  bereits  ein  Kleinmagneto- 
phon, also  ein  Gerät  zum  Aufnehmen  und  Abspielen  von  Tonbändern.  Außer  für  berufliche 
Zwecke,  etwa  um  wichtige  Akten  oder  Gesetze  „gesprochen“  zur  Hand  zu  haben,  benutzen 
viele  Kriegsblinde  ihr  Gerät  auch  zum  Festhalten  schöner  Erlebnisse  oder  Begegnungen. 
So  nimmt  hier  der  Kriegsblinde  Dr.  Binder,  Landshut  (links),  ein  Gespräch  mit  dem  Dichter 
Günter  Eich  auf,  dem  er  die  Nachricht  überbrachte,  daß  er  den  von  den  Kriegsblinden  ge- 
stifteten deutschen  Hörspielpreis  gewonnen  habe.  Frau  Binder  ist  auch  hier  die  Helferin 
ihres  Mannes  und  bedient  das  Mikrophon.  Foto:  Hans  Wagner 


36 


noch  sehen  könnt.  Sollen  wir,  die  nun  zwar  am 
Sehen  verhindert  sind,  deren  Wesen  und 
Kenntnisse,  deren  Verstand  und  Charakter  die 
gleichen  geblieben  sind  — sollen  wir  plötzlich 
aus  dieser  Welt  ausgeschlossen  sein? 

Viele  bittere  Erfahrungen  scheinen  dafür  zu 
sprechen,  daß  sich  zwischen  den  Sehenden  und 
den  ehemals  Sehenden  eine  nicht  leicht  zu  über« 
brückende  Kluft  aufgetan  hat.  Ergreift  unsere 
ausgestreckte  Hand,  damit  wir  über  diese 
Kluft  hinwegspringen  können,  zurück  in  das 
Leben,  in  euer  Leben,  das  doch  auch  unser 
Leben  sein  muß,  wenn  wir  nicht  zugrunde  gehen 
sollen! 

Er  kann  sogar  sprechen! 

Der  Kriegsblinde  Johann  Kray  aus  Lauen« 
förde  (Niedersachsen)  erzählt  das  Folgende, 
und  wohl  jeder  Kriegsblinde  könnte  es  genau 
so  aus  seiner  Erfahrung  berichten: 

„Diejenigen,  welche  mit  mir  noch  nie  etwas 
zu  tun  hatten,  haben  in  den  meisten  Fällen 
eine  gewisse  Scheu.  Habe  ich  irgendwo  etwas 
zu  erledigen,  so  wird  gewöhnlich  meine  Beglei» 
tung  angesprochen,  sei  es  Frau,  Kind  oder  sogar 
mein  Führhund.  Ist  es  meine  Frau,  so  fragt 
man:  ,Was  möchten  Sie  bitte  haben?'  Ist  es 
mein  Kind,  so  fragt  man:  ,Na,  Kleiner,  was 
möchtest  du  haben?'  Komme  ich  mit  dem  Hund, 
so  sagt  man:  ,Na,  Hündchen,  hast  du  uns  auch 
gefunden?'  Bei  meinen  täglichen  Spaziergängen 
mit  meinem  Führhund  habe  ich  schon  oft  im 
Vorbeigehen  gehört:  ,Sei  still,  der  Mann  ist 
blind,  der  Hund  führt  ihn.'  Oder:  ,Hundchen, 
paß  schön  auf,  und  führ  dein  Herrchen  gut.' 
Mir  wäre  es  viel  angenehmer,  wenn  man  mir 
einen  guten  Tag  wünschen  würde. 

Neulich  betrat  ich  das  Wartezimmer  eines 
Zahnarztes.  Eine  Dame  bot  sofort  ihren  Stuhl 
für  mich  an.  Nun  mußte  ich  immer  wieder  ein 
und  dasselbe  hören.  ,Ach  nein,  es  tut  mir  so 
weh.'  Ich  merkte,  daß  ihr  Blick  meiner  Frau 
galt.  Habe  sehr  wohl  gemerkt,  daß  der  Dame 
kein  Zahn  wehtat,  sondern  es  sich  auf  mich 
bezog.  Schließlich  sagte  ich  in  lächelndem  Ton: 
,Im  Wartezimmer  sind  die  Schmerzen  zu  er« 
tragen,  weh  tut  es  gewöhnlich  erst,  wenn  der 
Zahnarzt  einen  in  Behandlung  hat.' 

Einen  Augenblick  war  es  still.  Man  hat  sich 
anscheinend  gewundert,  daß  der  Blinde 
auch  sprechen  kann!  Es  waren  ungefähr  sechs 
Patienten  im  Wartezimmer.  Ich  sprach  noch 
einige  humorvolle  Worte,  und  ich  merkte,  daß 
man  meine  Heiterkeit  bestaunt  hat. 

Man  wird  sehr  oft  bedauert,  aber  gnade  Gott, 
wenn  der  Sehende  erfährt,  daß  man  zufrieden 
ist  und  einigermaßen  ein  Auskommen  hat.  Ich 
muß  es  so  oft  hören:  ,Na  ja,  wer  kann  es  so 
haben!  Bei  solch  schönem  Wetter  spazieren« 
gehn  und  gut  leben!'  Ja,  so  wie  man  mich 
einerseits  bedauert,  so  beneidet  man  mich 
jetzt.  Oh,  wie  bedauernswert  in  vielen  Fällen 
die  Sehenden  sind,  die  nur  das  Geld  und  meinen 
Spaziergang  sehen.  Diese  Sorte  von  Menschen 


Was  anderen  Hausvätern  oft  ein  Ärger  ist, 
das  wird  kriegsblinden  Hausvätern  zur 
Freude:  sie  sind  stolz  darauf,  sich  auch  daheim 
noch  nützlich  machen  zu  können.  Viele 
Kriegsblinde  haben  sogar  das  Holzhacken 
wieder  erlernt.  Foto:  Seeger 

tut  mir  leid.  Noch  nie  haben  sie  sich  mit  dem 
Gedanken  befaßt,  was  der  Blinde  tut,  wenn  er 
nach  dem  Spaziergang  zu  Hause  sitzt  und  keine 
Beschäftigung  hat.  Wenn  man  dazu  noch  an 
den  langen  Winter  denken  würde,  wo  man  bei 
schlechtem  Wetter  und  Glätte  gar  nicht  aus« 
gehen  kann  . , . 

Ich  schließe  mich  trotzdem  von  der  sehenden 
Welt  nicht  aus.  Ich  sage  mir:  Du  bist  da,  hast 
Frau  und  Kinder  zu  ernähren  wie  jeder  andere 
Mann.  Infolgedessen  stehe  ich  mit  beiden 
Füßen  in  der  Welt." 

„Arm  und  alt" 

LFnser  Kamerad  Karl  Stein  aus  Heiligen« 
haus  bei  Düsseldorf  erzählt:  „Es  passierte  mir 
an  einem  sonnigen  Frühlingstag  in  der  Stra» 
ßenbahn,  daß  der  Schaffner  einen  Sitzplatz 
freimachen  wollte  ,für  den  armen,  alten  Mann', 
und  damit  war  ich  gemeint,  4ojährig,  guter 
Dinge  wie  der  Frühlingshimmel.  Aber  ich  war 


blind,  also  ,arm  und  alt'.  Freundlich  und 
humorig  konnte  ich  den  seltsamen  Irrtum  rieh» 
tigstellen,  was  meine  beiden  kleinen  Töchter 
allein  durch  ihr  Dasein  unterstrichen." 

Das  ist  ebenfalls  ein  sehr  typisches  Doku» 
ment:  „Man  will  uns  hilflos  haben,  man  hält 
uns  für  gebrechlich,  und  wir  sollen  es  bleiben. 
Wir  können  schon  jedesmal  froh  sein,  wenn 
sich  bei  solchen  Begegnungen  mit  Fremden  nicht 
herausstellt,  daß  man  ,blind'  mit  ,blöd'  ver« 
wechselt",  meint  ein  anderer  Kriegsblinder. 


Wieso?  Kriegsblinde  können  tanzen?  Diese 
verblüffte  Frage  hört  man  sehr  oft.  Mit  wel- 
chem Schwung  sie  tanzen  können,  beweist 
unser  Bild.  Allerdings,  ein  bißchen  dirigieren 
muß  hier  ausnahmsweise  einmal  die  Dame. 

Die  Monatszeitschrift  „Der  Kriegsblinde"  ver» 
anstaltete  im  Jahre  1953  ein  Preisausschreiben 
unter  dem  Thema  „Mein  Verhältnis  zum 
sehenden  Mitmenschen".  Die  hier  genannten 
Stimmen  und  manch  kleine  Beiträge  aus  die» 
sem  Jahrbuch  sind  den  Einsendungen  zu  die» 
sem  Preisausschreiben  entnommen.  Es  sei  hier 
vorausgeschickt,  daß  die  weitaus  meisten  Ein» 
Sendungen  ein  erfreuliches  Bild  abgaben,  das 
heißt  also,  daß  die  meisten  Kriegsblinden  einen 
guten  Kontakt  zur  Umwelt  der  Sehenden  haben 
und  sich  vollauf  als  Glieder  dieser  Umwelt  füh» 
len.  Aber  neben  diesem  echten  Verständnis, 
dem  wir  unter  jenen  Mitmenschen  begegnen, 
für  die  unsere  Erblindung  nur  ein  zufälliger, 
körperlicher  Mangel  ist,  neben  dieser  Aner» 
kennung  als  „normaler"  Mensch,  die  jeder 
von  uns  zum  Leben  braucht,  finden  wir  immer 
wieder  viel  Unverstand,  der  uns  den  Alltag 
schwermacht. , 


In  den  vielen  Zuschriften  zu  dem  Prelsaus» 
schreiben  waren  immer  die  gleichen  Klagen  zu 
hören,  angefangen  von  Kleinigkeiten,  z.  B. 
dem  grußlosen  Vorbeigehen  des  Bekannten 
oder  dem  überlauten  Ansprechen  — falls  aus» 
nahmsweise  überhaupt  einmal  mit  dem  Erblin» 
deten  und  nicht  mit  seiner  Begleitung  gespro» 
chen  wird  — , und  Klagen  bis  hin  zu  den  peini» 
genden  Ausdrücken  des  mitleidvollen  Bedau» 
erns.  Selbst  Einzelheiten  wurden  in  fast  wört» 
lieber  Übereinstimmung  geschildert,  so  z.  B. 
von  einer  großen  Anzahl  von  Kriegsblinden  die 
Bemerkung  taktvoller  Mitmenschen:  „Dann 
lieber  tot!" 

Man  traut  uns  nichts  zu 

Ein  Bürstenmacher,  unser  Kamerad  Heinz 
Everaers  aus  Nagold,  schildert  plastisch,  wie  es 
ihm  eine  Zeitlang  ergangen  ist: 

„Als  ich  in  einen  Ort  ziehen  mußte,  in  dem 
ich  für  die  anderen  fremd  und  die  anderen  für 
mich  fremd  waren,  hatte  ich  es  als  Bürsten» 
macher  anfangs  nicht  gerade  leicht.  Wenn 
jemand  an  der  Tür  schellte  und  meine  Frau 
nicht  da  war,  so  ging  ich  natürlich  hin,  um  zu 
öffnen.  Fast  immer  hörte  ich:  ,Ist  Ihre  Frau  nicht 
da?'  Ich  mußte  es  verneinen  und  fragte  dann 
nach  Wunsch  und  Anliegen.  Als  Antwort  be» 
kam  ich  dann  meistens  folgendes  zu  hören: 

,Eigentlich  wollte  ich  eine  Bürste  kaufen, 
aber  ich  komme  dann  lieber  wieder,  wenn  Ihre 
Frau  zu  Hause  ist!'  Wenn  ich  dann  sagte,  ich 
könne  das  Gewünschte  doch  auch  hergeben, 
so  wehrte  man  ab  mit  den  Worten:  ,Sie  kön» 
nen  doch  nicht  alleine  die  Treppe  hinunter» 
gehen!' 

Ich  bewies  dann,  daß  ich  schneller  die  Treppe 
hinunterkam  als  die  Besucher  selber. 

So  mußte  ich  es  immer  wieder  erleben,  daß 
man  nicht  für  voll  genommen  wird." 

Aber  einem  Akademiker  geht  es  nicht  besser. 
Unser  Kamerad  Dr.  Mühlensiepen  aus  Düssei» 
dorf  schreibt:  „Anfangs  hatte  ich  nicht  gewußt, 
daß  die  Menschen  so  viele  Vorurteile  gegen 
einen  Blinden  haben,  daß  sie  blind  und  blöd 
verwechseln.  So  sagte  man  mir  beinahe  auf 
allen  Behörden,  als  ich  mich  um  einen  Beruf 
bemühte,  ich  könne  ja  doch  nicht  lesen,  und  als 
ich  dann  darauf  hinwies,  daß  ich,  auch  ohne 
Schwarzschrift  lesen  zu  können,  studiert  und 
promoviert  habe,  hieß  es  meist  nur,  man  wolle 
es  sich  überlegen.  Und  dabei  blieb  es  dann." 
Kamerad  Dr.  Mühlensiepen  schildert  dann 
jedoch,  wie  er  mit  hartnäckiger  Ausdauer  ver» 
■sucht  hat,  die  Mitmenschen  von  der,  „wenn 
auch  nicht  unbegrenzten,  so  doch  möglichen 
Leistungsfähigkeit  eines  Blinden  zu  überzeu» 
gen".  Diese  Ausdauer  im  Kampf  gegen  die  Un» 
wissenheit  habe  sich  gelohnt:  „Als  mich  neu» 
lieh  mein  Direktor  im  Unterricht  besuchte,  war 
er  erstaunt,  mit  welcher  Selbstverständlichkeit 
sich  die  Schüler  schon  auf  ihren  blinden  Leh» 
rer  eingestellt  hatten." 


3^ 


Den  Sinn  für  Humor  und  für  ein  gemütliches  Stünd- 
chen hat  er  sich  bewahrt,  obwohl  er  seit  37  Jahren  nichts 
mehr  sehen  kann.  Fotos  (2):  J.  Neven  - du  Mont 


Schmerzende  Vorurteile 

Solcherlei  Vorurteile  sind  im  Be= 
rufsleben  besonders  belastend.  Einem 
Sachkenner,  der  viel  mit  Kriegsblin» 
den  zu  tun  hat  und  der  ihre  Möglich» 
keiten  kennt,  ist  es  immer  wieder 
völlig  unverständlich,  wie  sich  Firmen 
und  Behörden  verhalten,  wenn  ihnen 
nahegelegt  wird,  einen  Kriegs« 
blinden  einzustellen.  Ein  Beispiel: 

In  einer  Firma  ist  der  Platz  eines 
Telefonisten  frei;  am  gleichen  Ort 
sucht  ein  kriegsblinder  Telefonist 
Arbeit,  der  vor  der  Oberpostdirek» 
tion  nach  umfangreicher  Ausbildung 
seine  Prüfung  mit  „Sehr  gut"  abge» 
legt  hat.  Außerdem  beherrscht  er  nicht 
nur  sicher  und  schnell  eine  normale 
Schreibmaschine,  sondern  auch  seine 
Blinden=Stenomaschine  mit  dem 
guten  Tempo  von  140  Silben  je 
Minute.  Dennoch  aber  stellt  diese 
Firma  einen  anderen  Bewerber  ein,  der  weder 
eine  Ausbildung  als  Telefonist  hat,  noch  Steno» 
oder  Schreibmaschinenkenntnisse.  Aber  er  hat 
zwei  Augen,  und  er  wird  schon  deshalb,  so 
meint  man,  selbstverständlich  mehr  können 
und  zuverlässiger  sein  als  der  Blinde.  Keiner 
fragt  danach,  daß  bereits  in  Hunderten  von 
Betrieben  und  Behörden  blinde  Telefonisten 
arbeiten,  ohne  daß  die  Arbeitgeber  auch  nur 
das  Geringste  auszusetzen  hätten.  Im  Gegen» 
teil,  jeder  dieser  Arbeitgeber  hält  bezeichnen» 
derweise  den  in  seinem  Hause  tätigen  Kriegs» 
blinden  für  ein  phänomenales  Wundertier  und 
für  eine  seltene  Ausnahmeerscheinung.  Das 
Vorurteil  bleibt  also  selbst  dann  noch  bestehen, 
wenn  der  Arbeitgeber  mit  einem  Kriegsblinden 
zufrieden  i^t. 

Besonders  bitter  ist  es,  wenn  ein  Arbeitgeber 
schließlich  aus  Großmut  oder  Barmherzigkeit 
einen  Kriegsblinden  eingestellt  hat,  ihn  aber 
praktisch  gar  nicht  beschäftigt.  „Er  wird  ja  doch 


b „ F r a u e n 1 0 b '*• 

1 Wäschepresse 

1 die  ideale  Hilfe  am  Waschtag, 

1 

1 keine  Anstrengung  mehr. 

1,^  Entwässern  durch  Wasserdruck. 

Erhältlich  in  den  Fachgeschäften. 

' * HERSTELLER: 

Karl  Glemser 

1 

b 

Maschinenfabrik 

Stuttgart  - Untertürkheim 

nichts  leisten  können",  so  denkt  man,  und  man 
gibt  dem  Kriegsblinden  keinen  redlich  verdien» 
ten  Lohn,  sondern  nur  so  etwas  vvie  Anwesen» 
heitsgelder.  Wohlwollend  duldet  man  die  An» 
Wesenheit  des  Kriegsblinden  im  Betrieb  und 
läßt  ihn  bestenfalls  ein  wenig  Zeitvertreib  fin» 
den. 

Kann  es  für  einen  Menschen,  der  wieder  mit» 
ten  im  Leben  stehen  möchte,  eine  größere 
Demütigung  geben? 

„Wie  alt  ist  er  denn?" 

„Ist  es  nicht  zum  Verzweifeln",  so  schreibt 
der  Kriegsblinde  Alfred  Spitzer  aus  dem  Kreis 
Lüneburg,  „daß  selbst  Behördenangestellte 
und  Ärzte  sich  bei  Unterredungen  ausschließ» 
lieh  an  die  mich  begleitende  Frau  wenden!  Und 
wenn  der  Arzt  fragt:  ,Was  hat  er  denn',  so 
tue  ich  zwar,  als  ob  hier  nach  Art  des  Alten 
Fritz  das  ,Er'  als  Anrede  gebraucht  werde,  und 
antworte  an  Stelle  meiner  Frau,  werde 
aber  meistens  durch  die  nächste  Frage: 
,Seit  wann  hat  es  denn  Ihr  Mann  schon?'  in  die 
Schranken  verwiesen.  Die  Selbstverständlichkeit, 
mit  der  gefragt  wird:  ,Wie  alt  ist  denn  Ihr 
Mann?'  (der  Mann  ist  45  Jahre  alt,  aber  man 
traut  ihm  nicht  zu,  daß  er  es  weiß),  ist  geradezu 
entwaffnend." 

Natürlich  fängt  dieser  Mangel  an  Zutrauen 
schon  in  der  engsten  Familie  an,  bei  den  Ver» 
wandten  etwa,  die  ihrem  Kriegsblinden  nicht 
einmal  zumuten  möchten,  daß  er  ohne  Beglei» 
tung  im  Park  spazierengeht.  Besonders  in  den 
Anfangsmonaten  war  das  schlimm.  „Meine  An» 
gehörigen  trauten  mir  fast  gar  nichts  mehr  zu", 
so  schreibt  der  kriegsblinde  Landwirt  Senders» 
feld  aus  dem  Kreise  Leer,  „wenn  ich  nur  eben 
in  den  Stall  ging,  so  wurde  mir  gleich  gesagt: 


39 


Führhund- 

Notgeld 

aus  dem  Jalire  1921 


während  des  1.  Weltkrieges  wurde  in  Deutsch- 
land und  in  Österreich  der  Führhund  wieder 
entdeckt.  Geheimrat  Stalling  (Oldenburg),  der 
geschäftsführender  Vorsitzender  des  damali- 
gen Deutschen  Vereins  für  Sanitätshunde  war. 
wurde  zum  großen  Förderer  des  Führhund- 
wesens inxiller  Welt.  Um  Sammler  anzureizen, 
wurde  1921  gemeinsam  mit  der  Commerz-  ' 
und  Privatbank  eine  Notgeldserie  herausgegeben,  deren  Erlös  dem  Führhundwesen  zugute 
kam.  Ursprünglich  hatte  der  Deutsche  Verein  für  Sanitätshunde  nur  die  Ausbildung  zum 
Suchen  von  Verwundeten  als  Aufgabe.  Bald  aber  wurde  Oldenburg  die  Geburtsstätte  des 
systematisch  ausgebildeten  Blindenführhundes.  Die  Dresseure  waren  Sanitätssoldaten,  die 
in  Oldenburg  ausgebildet  wurden.  Die  Serie  des  Notgeldes  hatte  die  gleiche  Vorderseite 
(linkes  Bild),  während  die  Rückseiten  verschiedene  Situationen  zeigen,  bei  denen  der  Führ- 
hund in  Aktion  tritt. 


Sei  vorsichtig!  Gewiß,  oft  habe  ich  mir  den 
Kopf  gestoßen  oder  bin  gestolpert.  Aber  es 
ging  doch  nicht,  daß  ich  immer  in  der  Küche 
saß  und  Radio  hörte!" 

So  ist  es  zu  verstehen,  wenn  der  Berliner 
Kriegsblinde  Bierbach  schreibt: 

„Der  Ankunftstag  in  der  Heimat  war  für 
mich  schrecklich.  Ein  jeder  wollte  mich  besuchen 
und  sein  Mitleid  ausdrücken.  Doch  ich  suchte 
immer  einen  Ort  auf,  wo  ich  alleine  war,  und 
das  geschah  auch  vor  der  eigenen  Frau.  Ver= 
schiedene  Wochen  vergingen,  ehe  ich  von  dieser 
Scheu  etwas  befreit  wurde.  Aber  noch  heute 
gibt  es  immer  wieder  kleine  Rückschläge,  be= 
sonders  in  der  Öffentlichkeit.  In  den  ersten 
Nachkriegsjahren  hat  man  mehreren  Kamera= 
den  und  auch  mir  persönlich  sogar  das  Wort 
,Kriegsverbrecher'  an  den  Kopf  geworfen.  Die 
Meinung  der  großen  Mehrheit  war  aber  eine 
andere,  und  das  beruhigte  mich.  Dieses  Gefühl 
des  Ausgestoßenseins  und  der  Minderwertig= 
keit  verlor  sich  aber  völlig,  als  ich  einen 
Arbeitsplatz  bekam.  Ich  lebe  jetzt,  als  wären 
zwischen  mir  und  den  Sehenden  keine  Gegen= 
Sätze  vorhanden,  und  ich  fahre,  wie  jeder  meiner 
Kollegen,  täglich  zu  meinem  Arbeitsplatz,  von 
einem  Führhund  begleitet.  Als  Montierer  kann 


ich  noch  etwas  leisten,  und  das  gibt  meinem 
Leben  wieder  einen  Wert." 

Und  doch:  kein  Vorwurf  gegen  die  Sehenden! 

Merkwürdig  und  von  Wichtigkeit  ist  ja  das 
Folgende:  Jeder  Kriegsblinde  war  ja  einst 
Sehender  und  ist  als  Sehender  einst  Blinden 
auf  der  Straße  oder  sogar  am  Arbeitsplatz 
begegnet;  er  kennt  diese  seltsame  Scheu,  das 
Gehemmtsein  des  Sehenden,  er  kennt  die  Ab= 
wehr,  mit  der  man  sich  gern  gegen  einen  Er= 
blindeten  abkapselt.  So  fragt  der  Kriegsblinde 
Harry  Barthel  aus  Bremerhaven:  „Dürfen  wir 
unsere  Mitmenschen  verdammen,  wenn  sie  im 
Umgang  mit  uns  Fehler  begehen?  Würden  wir 
an  ihrer  Stelle  nicht  vielleicht  die  gleichen 
Fehler  machen? 

Gerade  wir  Späterblindeten  haben  die  ausge= 
prägte  Gabe,  uns  in  die  Verhaltensweise  der 
Sehenden  hineinzudenken.  Heute,  da  wir  selber 
zu  denen  gehören,  die  auch  von  uns  seinetzeit 
mit  mehr  oder  weniger  gemischten  Gefühlen 
betrachtet  wurden,  heute  können  wir  ohne 
Scheu  darüber  reden.  Waren  wir  aber  damals 
nicht  alle  — zumindest  in  unseren  Gedanken  — 
recht  unbarmherzig?" 

Ebenso  schreibt  Martin  Wellßow  aus  Han» 
nover:  „Wie  hätte  ich  als  Sehender  gehandelt. 


40 


wäre  mir  damals  ein  Blinder  begegnet?  Und; 
ist  der  Nebenmann  nicht  äuch  mit  seinen 
eigenen  Gedanken  beschäftigt?  Hat  er  vielleicht 
wirtschaftliche  oder  familiäre  Sorgen?"  Manche 
Kameraden  überlegen,  ob  es  dem  Menschen 
neben  uns  nicht  vielleicht  schlechter  geht  als  uns. 

Diese  Hinweise  sollen  zeigen,  daß  kein 
Kriegsblinder  mit  ungeduldigen  Vorwürfen 
sich  gegen  sehende  Mitmenschen  wenden  will, 
denn  jeder  solcher  Vorwürfe  würde  ja  eine  neue 
Schranke  errichten.  Es  geht  aber  im  Gegenteil 
darum,  all  unseren  sehenden  Lesern  klarzu» 
machen,  daß  solche  Schranken  ganz  unsinnig 
und  überflüssig  sind.  Ein  Kriegsblinder  lebte  ja 
als  Sehender  und  will,  auch  wenn  er  am  Sehen 
verhindert  ist,  in  der  Welt  der  Sehenden  weiter^ 
leben,  nicht  in  einer  abgeschlossenen  Welt  der 
Blinden. 

Das  Anzünden  an  der  Kippe 

Ein  mühsames  Zurückfinden  in  die  Welt  der 
Sehenden  war  es,  und  so  fing  es  an: 

„Als  einer  der  letzten  Kriegsblinden  aus  dem 
April  1945  kam  ich  in  einer  Zeit  in  die  Ge= 
meinschaft  meiner  Schicksalsgefährten,  in  der 
uns  niemand  die  neue  Umgebung  er- 
läutern, noch  uns  unser  zukünftiges  Verhalten 
lehren  konnte.  Mit  den  primitivsten  Hilfsmit= 
teln  und  meistens  sogar  aus  eigener  Initiative 
versuchten  wir  das  einzig  Bekannte  — das  Bett 
— zu  verlassen,  uns  im  Krankenzimmer  zurecht- 
zufinden, unseren  Kameraden  zu  suchen,  mit 
dem  wir  uns  schon  rrianchmal  unterhalten,  den 
wir  jedoch  noch  nie  gesehen  hatten  und  von 
dem  wir  noch  gar  nicht  so  recht  wußten,  wo  er 
eigentlich  lag.  Wir  versuchten,  uns  eine  Ziga- 
rette an  der  noch  glühenden  Kippe  des  Kame- 
raden anzuzünden,  man  tastete  ihm  vom  Kopf 
über  die  Stirn,  die  Nasenwurzel,  über  Nasen- 
spitze, Oberlippe  auf  den  Rest  des  Tabakröll- 
chens und  brachte  dann  seine  eigene  Zigarette 
daran.  Man  stellte  aber  bei  diesem  Manöver 
unbeabsichtigt  fest,  wie  der  Kamerad  aussah, 
ob  er  lange  Haare,  einen  Scheitel,  eine  hohe 
Stirn,  einen  breiten  Kopf  oder  starke  Augen- 
brauen hatte,  ob  er  eine  Brille  trug,  weitere 
Narben  im  Gesicht  besaß  oder  unrasiert  war. 
So  lernten  wir,  jeder  für  sich,  unbekannte  Dinge 
kennen  und  uns  ohne  fremde  Hilfe  eine  Vor- 
stellung von  ihnen  zu  machen.  Diese  erste 
Selbständigkeit  machte  uns  irgendwie  glück- 
lich und  zufrieden  und  war  eigentlich  der  erste 
Lichtblick  in  unserem  dunklen  neuen  Leben." 

So  schildert  es  der  Berliner  Kriegsblinde 
Werner  Krebs,  und  ähnlich  haben  es  wohl  alle 
Kriegsblinden  erlebt,  bis  dann  endlich  der  volle 
und  beglückende  Kontakt  mit  der  Umwelt 
dadurch  gefunden  war,  daß  man  einen  Arbeits- 
platz erhielt  und  diesen  Platz,  wie  einst  in  den 
früheren  Jahren,  ausfüllte.  Noch  haben  nicht 
alle  Kriegsblinden  völlig  zurückgefunden,  noch 
bedarf  es  auch  weiterhin  des  Verstehens  und 
der  Hilfe  der  Sehenden,  aber  wenn  die  Sehen- 


den unsere  ausgestreckte  Hand  ergreifen,  wird 
noch  viel  Verbitterung  überwurraen  werden 
können,  sei  es  auch  nur  vielleicht  durch  ein 
paar  Worte,  die  man  in  der  Straßenbahn  mit 
einem  Kriegsblinden  wechselt,  ohne  daß  man 
mit  ihm  über  Blindheit  spricht  oder  gar  dar- 
über, „wie  schrecklich"  solch  ein  Schicksal  sei. 

Sprechen  Sie  doch  lieber  mit  uns  über  lokale 
Ereignisse,  über  die  letzte  Opernaufführung  im 
Stadttheater,  über  den  großen  Neubau  am 
Marktplatz,  über  Fußball  oder  über  die  Steuer- 
reform. Und  überlegen  Sie  dabei:  unseren  Ver- 
stand haben  wir  behalten,  auch  unsere  Ohren, 
und  nicht  zuletzt  — unser  Herz. 


Zwei  verschiedene,  oft  auch  miteinander 
kombinierte  Methoden  werden  bei  der  Aus- 
bildung von  Führhunden  angewandt.  Hier  die 
Methode  mit  dem  „künstlichen  Menschen“,  die 
Prof,  von  Uexküll  entwickelt  hat:  der  Wagen 
zeigt  alle  Hindernisse  an,  die  der  Hund  beach- 
ten soll;  der  vordere,  niedrige  Bügel  stößt 
gegen  Bordsteinkanten,  der  hohe  Bügel  gegen 
herabhängende  Äste  oder  gegen  einen  Brief- 
kasten. Bald  lernt  der  Hund,  vor  diesen  Hin- 
dernissen stehenzubleiben  oder  sie  zu  um- 
gehen. Eine  andere  Methode  arbeitet  ganz 
ohne  Gerät.  Alle  Methoden  kommen  ohne 
Prügel  aus.  Ein  Führhund  ist  also  keineswegs 
ein  „armer  Hund“.  Foto:  dpa 


41 


Eine  totale  Umstellung  des  Daseins 

Kriegserblindung:  ein  besonderes  Schicksal  - Erfahrungen  aus  der  Praxis 

Von  Oberverwaltungsrat  Seuferle,  Leiter  der  Hauptfürsorgestelle  Stuttgart 


Was  würde  wohl  ein  Sehender  empfinden, 
wenn  man  ihn  mit  verbundenen  Augen  mehrere 
Tage  lang  dem  Großstadtverkehr  mit  allen 
seinen  Gefahren  aussetzen  würde?  Und  wäre 
er  wohl  geneigt  und  bereit,  ein  solches  Experi= 
ment  ohne  zwingende  Not  zu  wiederholen?  Die 
meisten  Menschen  werden  diese  Frage  ver= 
neinen,  sie  sollte  ihnen  aber  zu  denken  geben. 
Erblindete  sind  täglich  nicht  r»ur  der  Gefahr  des 
Straßenverkehrs,  sondern  vielen  täglichen  Be= 
drohungen  ausgesetzt,  vor  allem  einem  hohen 
Verschleiß  ihrer  Nervenkraft,  am  deutlichsten 
auf  dem  Wege  zu  oder  von  der  Arbeit,  nicht 
weniger  aber  bei  der  Ausübung  ihrer  Berufs» 
arbeit,  ja  selbst  beim  Essen  noch.  Und  diese 
Belastung  will  Stunde  um  Stunde  und  Jahr  um 
Jahr  bewältigt  werden. 

Früherblindete  in  anderer  Situation 
Erblindung  war  in  den  Jahren  vor  den  beiden 
Weltkriegen  in  der  Regel  entweder  Folge  einer 


„Unsere  Fernsprechanlage“,  so  schreibt  der 
Landgerichtspräsident  in  Flensburg,  „wird  von 
dem  kriegsblinden  Justizangestellten  Werner 
Jessen  seit  1943  bedient.  Mit  erstaunlicher 
Sicherheit  versieht  Jessen  seinen  Dienst  und 
stellt  die  gewünschten  Verbindungen  — auch 
Fernverbindungen  — einwandfrei  her.  Die  für 
einen  Behördenbetrieb  erforderlichen  Auf- 
zeichnungen der  einzelnen  Ferngespräche 
unter  Angabe  des  Ortes,  der  Bezeichnung  des 
Teilnehmers,  der  Rufnummer  des  Anmelden- 
den und  des  Aktenzeichens  werden  von  ihm 
auf  einer  Schreibmaschine  gefertigt.  Es  sind 
bisher“,  so  schließt  das  Gutachten,  „keine 
Klagen  über  Verzögerungen  pp.  vorgebracht 
worden.  Er  steht  in  keiner  Weise  den  ge~ 
Sunden  Kräften  nach.“ 


schicksalsmäßig  verlaufenen  Erkrankung  oder 
aber  Merkmal  Blindgeborener.  Unter  ihr  ver= 
steht  man  die  Unfähigkeit  des  Auges,  Licht  auf» 
zunehmen  und  zu  unterscheiden;  die  Folgen 
davon  sind  ernstester  Natur  und  bedeuten  eine 
vollständige  Umstellung  des  von  der  Erblindung 
betroffenen  Menschen,  schon  im  rein  psycho» 
logischen  Sinne. 

An  sich  ist  nur  der  Früherblindete  „nicht» 
sehend".  Er  lebt  in  einer  anderen  Welt  und  muß 
sich  dem  Sehenden  unter  meist  langwierigen 
und  immer  schmerzlichen  Erfahrungen  anglei» 
chen.  Er  kennt  nicht  den  optischen  Raum,  er 
weiß  nur  um  ihn.  ln  seinem  Umgänge  mit 
Sehenden  ist  er  jedoch  gezwungen,  sich  dessen 
Sprache  zu  bedienen  und  dessen  Begriffe  zu 
erarbeiten  und  in  sich  aufzunehmen.  So  weiß 
der  Früherblindete  z.  B.,  daß  die  Sterne,  die 
Sonne,  der  Mond  vorhanden  sind,  er  spricht  von 
ihnen,  seine  Phantasie  schmückt  alles  aus,  wie 
er  es  in  den  schönsten  Träumen  erhofft.  Aberdas 
Fundament  aller  Erkenntnis,  die  praktische  An» 
schauung.  Ist  ihm  in  fast  allem  fremd. 

Im  Gegensatz  dazu  durchlebt  der  Mensch  bei 
einer  Späterblindung  eine  wirkliche  Katastrophe. 
Bei  einer  Erkrankung,  die  eine  Erblindung  er» 
warten  läßt,  mag  er  sich  noch  auf  ihre  Folgen 
vorbereiten  können.  Für  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Kriegsblinden  hingegen,  die  von 
einer  Sekunde  zur  anderen  ihr  Augenlicht  ver» 
loren,  bricht  eine  Welt  zusammen,  aus  deren 
Trümmern  sie  . sich  ein  neues  Leben  aufbauen 
müssen. 


Totale  Umstellung  des  Daseins 

Der  Impuls  dazu  scheint  zunächst  entschwun» 
den  zu  sein.  Um  sich  dem  Leben  wieder  einiger» 
maßen  anpassen  zu  können,  muß  eine  völlige 
Umstellung  des  Daseins  erfolgen.  Neben  einer 
inneren,  menschlichen  Ausrichtung  auf  die  neuen 
Gegebenheiten  wird  er  in  solchen  Fällen  fast 
regelmäßig  auch  eine  neue  Berufsausrichturig 
vornehmen  müssen.  Er  ist  also  einer  Art  von 
seelischem  Läuterungsprozeß  unterworfen  und 
sinkt  oft  in  bitterste  Mutlosigkeit,  die  mit  vie» 
len  qualvollen  Zweifeln  verbunden  ist.  Um  die» 
sen  Zustand  zu  überwinden,  bedarf  es  meist 
langer  Zeiträume.  Erst  dann  empfindet  der 
Späterblindete,  daß  die  Kraftquellen  zum  Auf» 
bau  eines  neuen  Lebens  in  der  Hauptsache  in 
ihm  selbst,  in  seinem  Charakter,  seiner  Per» 
sönlichkeit  liegen. 

Durch  liebevolles  Verständnis  seiner  Um» 
gebung  muß  diese  Quelle  jedoch  vielfach  erst 
angeschlagen,  gewissermaßen  zum  Fließen  ge» 
bracht  werden.  Das  tastende  Hineinfinden  in 
neue  Lebensverhältnisse,  die  dabei  auftreten» 
den  vielfachen  Rückschläge  lösen  nicht  selten 


42 


iäiäiiEgs^gl 


Wanderer 


Holzschnitt  von  Ottilie  Ehlers-Kollwltz 


43 


Minderwertigkeitslcomplexe  aus,  verbunden  mit 
tiefer  Niedergeschlagenheit  und  dem  Gefühl, 
daß  es  nie  geschafft  wird,  sich  umzustellen  und 
neue  Leistungs=  und  Lebensfreude  zu  finden. 
Erst  nach  und  nach  kehrt  langsam  die  Selbst= 
Sicherheit  wieder,  und  zwar  wenn  durch  Erfolge, 
also  durch  die  Bestätigung  der  Leistungsfähig= 
keit,  erkennbar  wird,  daß  wirklich  Aussichten 
bestehen,  wieder  ein  vollwertiges  Glied  der 
menschlichen  Gesellschaft  zu  werden. 


Immer  aber  wird  Maßstab  für  den  Spät= 
erblindeten  und  seine  Arbeit  der  Sehende  sein. 
Dies  hat  die  nicht  immer  erwünschte  Wirkung, 
daß  der  Blinde  unter  erschwerten  Vorausset= 
Zungen  gezwungen  ist.  Gleiches  zu  leisten  wie 
der  Sehende.  Daß  er  diese  Leistungen  auch  zu 
vollbringen  vermag,  beweisen  zahllose  Bei= 
spiele;  die  wenigsten  Menschen  aber  ahnen, 
mit  welchem  Kraftaufwand,  vor  allem  im  An= 
fangsstadium  der  späteren  Erblindung,  diese 
Leistung  verbunden  ist.  Mit  der 
Blindheit  sind  ja  nicht  zu  vermeidende 
Behinderungen  verbunden.  In  kör= 
perlicher  Hinsicht  liegt  eine  Be= 
Schränkung  in  der  Bewegungsfreiheit 
vor,  die  mindestens  anfänglich  sehr 
schwer  ertragen  wird.  Hier  ist  der 
Späterblindete  gegenüber  dem  Früh= 
erblindeten,  der  sich  seit  seiner  Ju= 
gend  an  seinen  Zustand  weitgehend 
anpassen  konnte,  in  erheblichem 
Nachteil.  Von  großer  Bedeutung  für 
die  Späterblindetep  ist,  sich  keines» 
falls  zu  gestatten,  normale  Bewegun» 
gen  wie  Spaziergänge  und  Wände» 
rungen  auf  ein  Mindestmaß  zu  be= 
schränken;  tut  er  dies,  muß  er  schä» 
digende  Auswirkungen  auf  seinen 
Gesundheitszustand  in  Kauf  nehmen. 
Die  Muskulatur  erschlafft,  er  atmet 
nur  mit  einem  kleineren  Teil  der 
Lunge,  wird  dadurch  anfällig  für 
Krankheiten,  da  der  Körper  dann 
nicht  widerstandsfähig  bleibt. 

Schlimmer  aber  ist,  daß  dann  Re» 
aktionen  auf  den  Gemütszustand 
nicht  ausbleiben.  Da  und  dort  tritt 
eine  schlechte  Körperhaltung  ein, 
nicht  zuletzt  deshalb,  weil  die  Ver» 
gleichsmöglichkeit,  die  Sehenden  zu 
eigen  ist,  fehlt.  Sind  Späterblindete 
nicht  starke  Persönlichkeiten  und 
wird  ihnen  der  richtige  Maßstab  nicht 
dauernd  zum  Bewußtsein  gebracht, 
unterwerfen  sie  sich  allmählich,  aber 
sicher  dem  passiven  Teil  ihres  Innen» 
lebens,  da  sie  ohnehin  unbewußt  im 
Willensleben  der  Seite  der  Passivität 
näherstehen.  Ein  wesentliches  Merk» 
mal  der  Erblindung  ist  ohnehin,  daß 
die  Ablenkung  nach  außen  fehlt.  Der 
Blick  wird  zwangsläufig  nach  innen 
und  auf  das  Ich  gerichtet.  Dadurch 
steht  der  eigene  Körper  leicht  zu  sehr 
im  Mittelpunkt  des  Interesses,  seine 
Funktionen  erlangen  unter  Umstän» 
den  eine  nicht  gewollte,  überschätzte 
Bedeutung.  Hier  ist  stetige  Selbst» 
Zucht  unerläßlich.  Dort,  wo  egozen» 
trische  Züge  auftreten,  wird  es  Auf» 
gäbe  einer  liebevollen  Umgebung 
sein,  in  feiner  Form  mitzuhelfen,  den 
normalen  Zustand  wiederherzu» 
stellen. 


Im  Schloß  Solitude  bei  Stuttgart  war  während  des 
Krieges  ein  Lazarett  für  Kriegsblinde  untergebracht,  das 
nach  dem  Zusammenbruch  unter  der  Verwaltung  der 
Hauptfürsorgestelle  Stuttgart  als  Umschulungsstätte  für 
Kriegsblinde  eingerichtet  wurde.  Hier  nahmen  insgesamt 
704  Kriegsblinde  an  Kursen  teil,  in  denen  sie  für  einen 
neuen  Beruf  geschult  wurden.  Schloß  Solitude  bedeutete 
also  für  einen  beträchtlichen  Prozentsatz  aller  Kriegs- 
blinden eine  Lebenswende.  Von  den  704  Kriegsblinden  er- 
griffen 90  den  Beruf  eines  Masseurs,  46  den  eines  Steno- 
typisten,  288  erhielten  eine  Ausbildung  als  Blindenhand- 
werker und  280  belegten  die  Grundausbildungsfächer, 
d.  h.  sie  erlernten  die  Blindenpunktschrift  und  die  Hand, 
habung  einer  normalen  Schreibmaschine.  Viele  gingen 
danach  zu  Handelsschulen  oder  Universitäten  oder  setzten 
in  ihrer  Heimat  ihre  Ausbildung  fort.  Das  Heim  wurde 
später  zu  einem  Schwerbeschädigtenheim  umgebaut  und 
dient  zum  Teil  der  Dauerunterbringung  Schwerst- 
beschädigter,  außerdem  aber  auch  der  Erholung. 


44 


Den  ersten  Brief  an  die  Braut  oder  an  die  Frau  selber  schreiben  zu  können,  ohne  ihn  einer 
Schwester  diktieren  zu  müssen,  das  war  im  Umschulungslazarett  für  jeden  Kriegsblinden 
so  etwas  wie  ein  Triumph.  Kaum  ein  Fach  wurde  eifriger  geübt  als  Schreibmaschine- 
schreiben. Schließlich  schreiben  ja  auch  tüchtige  sehende  Maschinenschreiber  „blind“.  Warum 
sollte  das  nicht  auch  ein  Kriegsblinder  können?  Mit  freundlicher  Geduld  hilft  die  Schwester 
in  den  Übungsstunden. 


Wie  man  einem  Kriegsblinden  begegnen  soll 
Beobachtet  man  einen  Blinden  etwa  bei  Ein= 
kaufen  und  Führungen  in  der  Öffentlichkeit,  so 
fällt  dem  Sehenden  auf,  daß  eine  gewisse  Ab= 
hängigkeit  vorhanden  ist.  Auch  bei  stärkster 
Aktivität  des  Späterblindeten  wird  ein  schmerz= 
lieh  empfundener  Rest  einer  solchen  Abhängige 
keit  vorhanden  bleiben.  Hier  bedarf  es  gütiger 
Betreuung  in  des  Wortes  wahrstem  Sinne,  um 
auf  keinen  Fall  das  Gefühl,  nicht  oder  nicht 
mehr  vollwertig  zu  sein,  aufkommen  zu  lassen. 
Der  Späterblindete  weiß  sehr  wohl,  was  er  ver= 
loren  hat,  er  wird  nie  Freude  darüber  empfinden 
können,  wenn  sich  ihm  gegenüber  Mitleid 
äußert,  es  ist  auch  wenig  taktvoll,  insbesondere 
wenn  es  sich  um  Mitreisende  in  Eisenbahnen, 
Straßenbahnen  usw.  handelt,  etwa  in  den  Ruf 
auszubrechen  „Ach  der  arme  Kriegsblinde";  der 
Kriegsblinde  verzichtet  auf  den  Ausdruck  dieser 
Art  von  Interesse  gern;  er  wird  ihm  entgegen= 
gebrachte  Achtung  aber  stets  zu  schätzen  wissen 
und  es  immer  dankbar  empfinden,  wenn  ihm 
ohne  viele  Worte  Erleichterungen  im  Straßen= 
verkehr  gewährt  werden,  wenn  man  ihm  bei= 
spielsweise  beim  Einsteigen  in  die  Straßenbahn 
ganz  selbstverständlich  erspart,  im  Gedränge 
sich  durchkämpfen  zu  müssen,  und  wenn  man 


ihm  bei  sonstigen  Begegnungen  und  am  Arbeits= 
platz  Freundlichkeit  und  Zuvorkommenheit 
erweist.  ^ 

Ich  habe  es  mir  in  jahrzehntelangem  Umgang 
zur  Regel  gemacht  — und  ich  kann  dies  auch 
von  meinen  Mitarbeitern  sagen  — , alle  Blinden, 
mit  denen  ich  je  zu  tun  hatte,  freundlich  und 
höflich,  aber  soweit  irgendwie  vermeidbar,  nie 
unter  Ansprache  ihrer  Erblindung  zu  behandeln, 
und  dies  haben  sie  stets  dankbar  empfunden. 
Man  muß  immer  neue  Wege  suchen,  um  einen 
Blinden  von  seinem  Zustand  abzulenken,  zu= 
nächst  dadurch,  daß  man  ihn  sozusagen  zu  den 
„Sehenden"  rechnet  und  seine  Erblindung  nicht 
zu  seinem  zentralen  Wesensmerkmal  macht. 
Darüber  hinaus  aber  werden  auch  gewisse  Sinne 
bei  ihm  verfeinert,  werden  z.  B.  die  Finger  des 
Blinden  vergleichsweise  seine  Augen  und  stei= 
gert  sich  auch  sein  Tastgefühl  in  einem  für 
Sehende  unvorstellbaren  Maße,  so  darf  nie 
außer  acht  gelassen  werden,  daß  Arbeit,  und 
zwar  befriedigende  Arbeit  für  ihn  die  unent= 
behrliche  Medizin  ist. 

Erstklassige  Berufsarbeit 

Als  Träger  eines  Blindenschulungsheimes, 
durch  das  rund  700  Kriegsblinde  ihre  AusbiU 


45 


düng  erhalten  haben  und  deren  Lebensweg, 
soweit  möglich,  sorgfältig  verfolgt  worden  ist, 
glaube  ich  zu  der  Behauptung  berechtigt  zu  sein, 
daß  die  Erblindung  allein  kein  Hinderungsgrund 
ist,  um  nicht  in  einem  neuerlernten  Beruf  erst» 
klassige  Arbeit  leisten  zu  können.  Eine  ganze 
Anzahl  meiner  früheren  Schützlinge,  die  vor- 
dem etwa  ein  Handwerk  erlernten  oder  noch 
Schüler  waren,  mußten  sich  beruflich  vollständig 
umstellen.  Sie  leisten  in  ihren  jetzigen  Berufen 
zum  Teil  nicht  nur  Gutes,  sondern  Vorzügliches; 
dabei  ist  es  gleichgültig,  ob  ihre  Begabung  und 
Neigung  sie  in  ein  Blindenhandwerk  übergehen 
ließen,  ob  sie  als  Masseur  oder  Stenotypist,  als 
Telefonist  oder  als  Spezialarbeiter  in  einem 
Industriebetrieb  stehen,  oder  ob  sie  als  Rechts- 
anwalt, Richter,  höherer  Verwaltungsbeamter, 
ja  als  Pfarrer,  als  Musiker  im  Hauptberuf  oder 
sonstwie  tätig  sind,  sie  stellen  ihren  Mann.  Zur 
Ehre  und  zum  Lob  ihrer  Frauen  aber  soll  gesagt 
sein,  daß  diese  — in  viel  höherem  Maße  als 
Frauen  sonst  — auch  ihre  Frau  stellen  und  zu 
den  besten  Kameraden  ihrer  Männer  geworden 
sind. 

Wir  haben  beispielsweise  damals  in  unserem 
Blindenschulungsheim  unter  gütiger  Assistenz 
der  Schwestern  Tanzabende  eingeführt,  um 
unsere  Blinden  zu  lehren,  sich  unter  Führung 
ihres  weiblichen  Partners  unbefangen  im  Tanz- 
saal zu  bewegen.  Gefördert  worden  ist  u.  a.  die 
Ausübung  von  Sport,  besonders  aber  das 
Schwimmen,  und  eine  ganze  Anzahl  früherer 
Nichtschwimmer  hat  erst  nach  ihrer  Kriegs- 
erblindung gelernt,  welche  Wohltat  es  ist,  das 
nasse  Element  zu  beherrschen;  alle  sind  uns 
dafür  immer  dankbar  geblieben.  Aus  der  Schau 
einer  langjährigen  Erfahrung  in  der  Blinden- 
arbeit heraus  möchte  ich  auch  hier  nicht  ver- 
säumen, auf  die  günstigen,  ich  möchte  sagen, 
lockenden  Wirkungen  und  ap^  die  Steigerung 


Einen  unerhörten  Aufwand  an  Geduld  erfor- 
dert das  Erlernen  der  Blindenpunktschrift. 
Die  ohnehin  schon  übermäßig  strapazierten 
Nerven  des  Kriegsblinden  haben  hier  in  vie- 
len Fällen  so  versagt,  daß  mancher  Kamerad 
dieses  mühsame  Lernen  aufgegeben  hat.  Viele 
aber  haben  es  geschafft  und  lesen  ihre 
Punktschriftbücher  im  gleichen  Tempo,  als  ob 
ihnen  vorgelesen  wird.  Freundliche  und 
immer  wieder  ermutigende  Hilfe  war  dazu 
in  dem  Ümschulungslazarett  nötig. 


Arbeits-  und  Berufskleidung 

Herren*  und  Knabenkleidung 
Sportkleidung 


Kempel  & Leibfried,  Urach  (Württemberg) 

KLEIDERFABRIKEN  UND  WEBEREI 


46 


des  Lebensgefühls  gerade  durch  den  Schwimm= 
Sport  zu  verweisen.  Es  ist  mir  immer  eine  große 
Freude,  in  den  Sommermonaten  im  Freibad 
einige  meiner  jungen  Freunde,  die  kriegsblind 
sind,  zu  treffen;  mehrere  davon  freuen  sich 
königlich  darüber,  daß  sie  mich,  ihren  früheren 
Lehrmeister,  jetzt  an  Schnelligkeit  und  Aus= 
dauer  im  Schwimmen  weit  geschlagen  haben. 

Es  fehlt  die  Spiegelung 

Dadurch,  daß  die  Ablenkung  nach  außen  fehlt, 
beziehen  viele  Blinde  manches  auf  das  eigene 
Ich,  wie  wir  sagten.  Dadurch  befinden  sie  sich 
in  dauernder  Gefahr,  empfindlich  zu  werden. 
Daher  rührt  vielleicht  auch  die  Neigung,  eine 
nicht  immer  berechtigte  Kritik  an  anderen  zu 
üben,  weil  eben  der  Kanal,  der  zur  Selbst» 
erkenntnis  führt,  viel  eher  und  viel  häufiger 
Verstopfungen  ausgesetzt  ist  als  etwa  bei 
Sehenden.  Letztere  erkennen  durch  Geste  und 
Mienenspiel  ohne  weiteres  die  Unmöglichkeit 
ihres  Benehmens  anderen  gegenüber,  während 
dem  Blinden  die  Wirkung  seiner  Person,  seines 
Ausdrucksvermögens  auf  Mitmenschen  verloren» 
gehen  kann,  wenn  er  sich  nicht  sorgsam  be= 
obachtet.  Um  hier  sicher  nicht  gewollte  Takt» 
losigkeiten  zu  vermeiden,  muß  der  Erblindete  in 
viel  höherem  Maße  wie  der  Sehende  das  ganze 
Leben  hindurch  stetig  an  sich  selbst  arbeiten, 
sich  so  zu  erziehen,  daß  Entgleisungen  vermie» 
den  bleiben,  also  das  Auge  als  Kontrollorgan 
durch  Willenserziehung  und  Beherrschung  zu 
ersetzen.  Trägt  die  Frau  des  Erblindeten  in 
hohem  Maße  an  seinem  Schicksal  mit,  so  ist  es 
hier  mit  ihre  Aufgabe,  dem  Kriegsblinden  auf» 
tretende  Schwächemomente  in  gütiger  Form  und 
in  feiner  Weise  zum  Bewußtsein  zu  bringen. 
Nicht  immer  kann  die  Frau  des  Kriegsblinden 
eine  starke  Persönlichkeit  sein,  und  nicht  immer 
ist  Gefühl  und  das  Wissen  um  das  Umsorgen 
seiner  Person  dem  Erblindeten  eine  stets  neue 
Quelle  dankbarer  Anerkennung  gegenüber 
seinem  besten  Lebenskameraden,  leicht  können 
sich  hier  in  der  Zeit  des  ersten  Zusammenlebens 
zwischen  Ehegatten  Spannungen  entwickeln,  für 
die  am  Ende  weder  der  Kriegsblinde  noch  seine 
Frau  wirklich  verantwortlich  sind.  Die  stetige 
Bereitschaft,  hier  nichts  krumm  zu  nehmen,  ist 
auch  ein  Teil  dauernder  Selbsterziehung  der 
Blinden. 


Überwindbare  Schwierigkeiten 

Viel  zuwenig  beachtet  wird,  daß  es  notwendig 
ist,  den  Späterblindeten  gegenüber  am  besten 
alle  Schilderungen  mit  optischen  Daten  zu  füh» 
ren.  Dadurch  wird  er,  wenn  dieser  Begriff  erlaubt 
ist,  wieder  zum  innerlich  Sehenden.  Er  soll 
immer  und  immer  wieder  dazu  angehalten 
werden,  auch  in  seiner  Freizeit,  die  Gesellschaft 
Sehender  aufzusuchen,  daipit  er  sich  einer 
etwaigen  Weltflucht  entgegenstemmt  und  stets 
zu  Vergleichsmöglichkeiten  angeregt  wird.  Der 
Kriegsblinde  will  nur  durch  seine  Leistungen 
anerkannt  sein,  er  verschmäht  richtigerweise 


Mitleid.  Ist  es  möglich  — und  es  wird  möglich 
sein— , mit  Hilfe  des  neuen  Schwerbeschädigten» 
gesetzes  die  arbeitsfähigen  Blinden  in  Beruf  und 
Verdienst  zu  bringen,  gilt  es,  ihre  Umgebung 
mit  den  sich  aus  der  Lichtlosigkeit  zwangsläufig 
ergebenden  Eigenheiten  im  Lebensablauf  der 
Blinden  vertraut  zu  machen,  Umgebungs» 
Schwierigkeiten  also  von  vornherein  schon  gar 
nicht  aufkommen  zu  lassen,  vor  allem  aber  ein 
besonders  achtungsvolles  Benehmen  gegenüber 
den  Blinden  zu  zeigen. 

Was  Blinde  zu  leisten  vermögen,  wird  jedem 
klar,  wenn  er  häufiger  etwa  mit  den  Leitern  der 
Kriegsblindenarbeitsgemeinschaften  geschäftlich 
zu  tun  hat.  Hier  tritt  klar  hervor,  daß  der  Ver» 
lust  des  Augenlichts  keinesfalls  ein  Absinken 
von  Geschäftstüchtigkeit  und  beruflichem  Wage» 
mut  zur  Folge  hat.  Bringt  man  im  Berufsleben 
dem  Kriegsblinden  das  nötige  Verständnis  und 
beim  täglichen  Ablauf  der  Geschehnisse  die 
erforderliche  Rücksichtnahme  dar,  so  wird  man 
bald  finden,  daß  die  Erblindung  alles  andere, 
nur  nicht  berufliches  Versagen  zur  Folge  zu 
haben  braucht.  Was  für  prächtige  Menschen 
sind  doch  jene  Kriegsblinden,  die  in  den 
Geschäftsstellen  und  an  der  Spitze  ihrer  Ver» 
bandsgliederungen  stehen  und  dabei  geradezu 


Eines  Tages  war  es  dann  soweit:  der  Kriegs- 
blinde konnte  froh  und  stolz  das  Umschu- 
lungslazarett verlassen.  Froh  und  stolz  sind 
auch  die  Schwestern,  weil  sie  mitgeholfen 
haben,  einem  Menschen,  der  vor  Monaten 
zermürbt  und  verzagt  ankam,  den  Rückweg  in 
ein  erfülltes  Leben  zu  ebnen. 

Fotos  (4!):  Seeger 


47 


der  Anker  des  Lebensschiffs  der  Kriegsblinden 
geworden  sind! 

Gelingt  es,  und  es  wird  gelingen,  mit  der  Zeit 
die  zum  Teil  unhaltbaren  Wohnungsverhält= 
nisse  unserer  Kriegsblinden  zu  bereinigen,  ihnen 
also  ein  behagliches,  zum  Ausruhen  geeignetes 
Heim  zu  schaffen,  in  dem  sie  neue  Kraft  zu 
täglich  neuem  Tun  schöpfen  können,  und  wird 
das  Verständnis  um  sie  und  ihre  Lebensverhält» 
nisse  neu  geweckt,  und  dazu  sollen  diese  Zeilen 
dienen,  so  wird  auch  ihr  Leben  freudiger  und 
freundlicher  gestaltet.  Kommen  aber  trotzdem 
da  und  dort  Stunden  der  Niedergeschlagenheit 
oder  gar  der  Verzweiflung,  so  gilt  hier  ein  Wort 
Dostojewskijs,  das  er  für  den  Alltag  geprägt  hat: 

„Held  sein,  eine  Minute,  eine  Stunde  lang, 
das  ist  leichter,  als  in  stillem  Heroismus  den 
Alltag  tragen.  Nehmt  es  nur  auf  euch,  das  Leben 
in  diesem  grauen,  eintönigen  Alltag,  dieses 
Wirken,  für  das  euch  niemand  lobt,  dessen  HeU 
dentum  niemand  bemerkt,  das  in  niemandem 
Interesse  für  euch  erweckt;  wer  diesen  grauen 
Alltag  erträgt  und  dennoch  dabei  Mensch  bleibt, 
der  ist  wirklich  ein  Held." 


Bei  den  Minoxwerken  in  Heuchelheim  bei 
Gießen  ist  der  Kriegsblinde  Joh.  Schwarz  in 
der  Abteilung  „Teilkontrolle"  tätig.  Das  für 
diese  Arbeiten  notwendige  feine  Gefühl,  so 
sagt  anerkennend  die  Firmenleitung,  ist  bei 
ihm  von  äußeren  Einflüssen  frei  und  stark 
ausgeprägt.  Seine  große  Arbeitsfreude  und 
seine  Zuverlässigkeit  machen  ihn  zu  einem 
beliebten  Kollegen.  Foto;  v Deschwanden 


Wer  ist  „Kriegsblinder“? 

Der  Ausdruck  „kriegsblind"  scheint  in  der 
deutschen  Öffentlichkeit  längst  ein  fester  Be» 
griff  geworden  zu  sein.  Dennoch  fehlt  ihm 
aber,  wie  man  immer  wieder  feststellen  muß, 
eine  klare  Umgrenzung.  Jedermann  weiß,  daß 
es  Kriegsblinde ''gibt.  Das  ist  nicht  selbstver» 
ständlich,  denn  noch  im  vorigen  Jahrhundert 
wußte  man  wenig  davon,  da  die  ärztliche  Kunst 
noch  nicht  im  entferntesten  so  wie  heute  bei 
schweren  Kopfverletzungen  helfen  und  die 
Verwundeten  am  Leben  erhalten  konnte.  Auch 
hat  der  moderne  Krieg  mit  seinen  Schnell» 
feuerwaffen  und  Explosivgeschossen  eine  weit 
größere  Anzahl  von  Kopfverletzten  mit  sich 
gebracht  als  früher,  insbesondere  auch  weit 
mehr  Kriegsblinde.  Bis  zum  ersten  Weltkrieg 
blieben  es  immer  nur  wenige,  aber  schon  die 
Jahre  1914  und  1915  ließen  so  viele  Soldaten, 
und  zwar  Angehörige  aller  Gesellschafts» 
schichten,  das  Augenlicht  verlieren,  daß  die 
Öffentlichkeit  in  besonderem  Maße  an  ihrem 
Schicksal  Anteil  nahm.  Einzelpersonen  und 
karitative  Verbände,  insbesondere  auch  die 
erst  1912  gegründete  Selbsthilfevereinigung 
der  Zivilblinden,  also  der  Reichsdeutsche 
Blindenverband,  organisierten  vielerlei  Sam» 
mel»  und  Hilfsmaßnahmen.  Die  Kriegsblinden 
empfanden  es  aber  mehr  und  mehr  als  schmerz» 
lieh,  öbjekte  des  Mitleids  und  der  Blindenfür» 
sorge  zu  sein,  was  sie  vor  allem  beim  Aufent» 
halt  in  den  Blindenerholungsheimen  spürten, 
die  der  Reichsdeutsche  Blindenverband  mit  den 
für  die  Kriegsblinden  gesammelten  Geldern  ein» 
gerichtet  hatte.  Sollten  sie  in  die  Reihen  der 
zwar  bemitleideten,  im  übrigen  aber  von  der 
Welt  der  Sehenden  ausgeschlossenen  Blinden 
gehören?  Gehörten  sie  nicht  im  Grunde  immer 
noch  — wie  vor  wenigen  Monaten  — der  Welt 
der  Sehenden  an? 

Viel  trug  zu  dieser  Trennung  der  Kriegs» 
blinden  von  den  Friedensblinden  auch  die  da» 
malige  verständnislose  amtliche  und  private 
Berufsberatung  bei,  die  ohne  Rücksicht  auf 
Vorbildung  und  früheren  Beruf  auch  für  die 
Kriegsblinden  nur  die  typischen  Blindenberufe 
wie  Korb»  und  Bürstenmacher  kannte.  Die 
Kriegsblinden  fühlten  sich  in  erster  Linie  als 
Kriegsverletzte,  und  auch  heute  noch  ist  ihre 
seelische  und  geistige  Situation  wesensunter» 
schieden  von  der  eines  Zivilblinden,  ins» 
besondere  der  Kindheits»  oder  Geburtsblinden, 
die  ja  mit  der  Welt,  die  sie  umgibt,  nur  schwer 
eine  Vorstellung  verbinden  können. 

So  nahmen  die  Kriegsblinden  aus  einer  für 
sie  bezeichnenden  Aktivität  heraus  schon  1916 
selber  die  Meisterung  ihres  Schicksals  in  die 
Hand,  um  die  Verbindung  mit  der  sehenden 
Welt  nicht  zu  verlieren.  Sie  gründeten  einen 
Bund,  der  schließlich  mit  der  Erfassung  aller 
3000  Kriegsblinden  des  ersten  Weltkrieges  zu 
einer  echten  Schicksalsgemeinschaft  wurde. 


48 


f^ff 


Foto;  Barbara  Seidl-Herberz 


Die  Frage,  wer  a's  „Kriegsblinder"  zu  be= 
zeichnen  ist,  kann  darüber  hinaus  natürlich 
genau  nur  mit  rechtlichen  Hinweisen  geklärt 
werden,  also  gegenwärtig  unter  Bezugnahme 
auf  das  Gesetz  zur  Regelung  der  Versorgung 
der  Kriegsopfer  (Bundesversorgungsgesetz  oder 
„BVG").  Da  besteht  nun  die  merkwürdige  Tat= 
Sache,  daß  im  gesamten  BVG,  trotz  vielfacher 
Sonderregelungen  für  die  Kriegsblinden,  der 
Begriff  „Kriegsblinder"  nur  im  § 25  (2)  aus= 
drücklich  verwandt  wird.  Bei  allen  anderen  Be= 
Stimmungen,  z.  B.  § 11,  § 13,  § 31  und  § 35  BVG, 


ist  nur  von  „Blinden"  die  Rede.  Dies  ist  voll= 
auf  berechtigt,  denn  für  das  BVG  ist  ja  die 
Blindheit  ohnehin  eine  der  vielfachen  Folge= 
erscheinungen  der  im  Kriege  erlittenen  Ver=> 
letzungen  und  Gesundheitsstörungen,  wie  es 
daneben  die  Hirnverletzten  oder  die  Ampu= 
tierten  usw.  gibt.  Entscheidend  ist  allein,  daß 
im  Sinne  des  BVG  nur  derjenige  als  „Kriegs» 
blinder"  zu  bezeichnen  ist,  dessen  Blindheit  in 
ursächlichem  Zusammenhang  mit  dem  Wehr» 
dienst  oder  mit  den  Kriegsereignissen  steht 
(§  1 BVG).  Gemeint  sind  also  Beschädigungen, 


49 


die  bei  Ausübung  militärischer  Dienstverrich« 
tungen  erlitten  wurden,  ob  durch  Unfall  oder 
durch  Feindeinwirkung,  oder  Beschädigungen, 
die  durch  die  bei  solchem  Dienst  eigentümlichen 
Verhältnisse  herbeigeführt  wurden.  Ferner 
gelten  alle  unmittelbaren  Folgen  des  Krieges, 
vor  allem  also  die  Folgen  des  Luftkrieges  — aus 
diesem  Grunde  finden  wir  unter  den  Kriegs» 
blinden' auch  sehr  viele  Frauen  und  Kinder  — 
ebenso  die  Folgen  der  ' mit  dem  Krieg  ver» 
bundenen  Tatbestände  der  Kriegsgefangen» 
Schaft,  Internierung  usw. 


„Blind"  im  Sinne  des  BVG  ist  jeder  auf 
solche  Art  Beschädigte,  der  „nichts  mehr  oder 
so  wenig  sieht,  daß  er  sidi  in  einer  ihm  nicht 
vertrauten  Umwelt  nicht  allein  zurechtfinden 
kann",  wie  es  in  den  Verwaltungsvorschriften 
zu  § II  und  § 35  festgelegt  ist.  Sobald  dies 
durch  ärztliche  Gutachten,  gemäß  den  Anhalts» 
punkten  für  die  ärztliche  Gutachtertätigkeit  im 
Versorgungswesen,  im  Rentenbescheid  rechts» 
kräftig  festgestellt  und  anerkannt  ist,  handelt 
es  sich  um  einen  „Kriegsblinden". 

Dr.  P.  Plein 


BBC 


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RRENHUT 

in  Haar  und  Velour 

HUTFABRIK  ROCKEL  G.M.B.H. 

ALSFELD  (OBERHESSEN) 


5° 


Kriegsblinde  erzählen: 


Tränen  um  Troll 


Dort  stehen  die  beiden  kleinen  Tannen,  dort, 
wo  im  Garten  unseres  Hauses  der  Rasen  ist! 
Schatten  wirft  das  Haus  tagsüber  um  die  heißen 
Stunden  des  Mittags.  Wie  immer  setze  ich  mich 
zu  ihnen,  zu  meinen  kleinen  Tannen.  Was  sage 
ich,  kleinen  Tannen?  Sind  sie  noch  klein,  so  wie 
sie  es  waren  vor  mehr  als  fünf  Jahren?  Meine 
Hände  gleiten  über  die  jungen  Triebe.  Beim 
Erheben  stelle  ich  fest,  daß  sie  fast  einen  Meter 
hoch  geworden  sind.  Meine  beiden  kleinen 
Tannen!  Aber  — da  ist  ein  Hügel,  ein  blumen= 
übersäter  kleiner  Hügel,  just  dort,  wo  die 
Tannen  stehen,  und  wieder  gleiten  meine 
Hände  über  die  beiden  Bäumchen.  Wie  ein 
Pärchen  haben  sie  sich  miteinander,  ineinander 
verbunden,  verbunden,  wie  es  so  kommen 
mußte  in  den  fünf  Jahren,  weil  es  weitergeht, 
das  Leben.  Aber  — ich  wollte  doch  von  meinem 
Troll  sprechen,  von  meinem  Troll.  Angesichts 
des  Hügels,  dieses  kleinen  Grabhügels  will  ich 
sprechen  von  Troll,  sagen,  warum  dort  die  Tan= 
nen  sind,  die  Blumen,  der  Hügel,  das  Kreuz. 
Will,  daß  der  Wind  es  bringt,  was  ich  denke 
hier  am  Grabe  des  Troll. 

Da  klappert  wer  mit  Tellern,  auch  Töpfe 
schrapt  man  und  reinigt  sie,  und  Kinder  vom 
Grundstück  nebenan  pfeifen  einen  Gassen» 
hauer.  Wind  fährt  mir  durch  das  Haar!  Der 
Wind,  ja,  von  dort  weht  er,  wohin  ich  einst 
geschritten  bin  mit  Troll,  von  wo  aus  unsere 
Wege  zumeist  begannen  und  wo  Mutter  und 
Frauchen  uns  abends  zurückerwarteten,  vom 
Weg  dort,  abseits  der  breiten  Straße.  Warum 
erzähle  ich  das  von  Troll?  Muß  gerade  jetzt  die 
Nachbarin  mit  ihren  Kindern  zetern  und 
schreien,  daß  es  widerhallt  von  den  kleinen 
Häusern  gegenüber?  Das  Feuerzeug  klickt,  eine 
Zigarette  soll  mich  beruhigen.  Kamerad,  wenn 
deine  Hände  den  Kopf  deines  Hundes  fassen, 
du,  sei  glücklich,  doch  — jetzt  erzähl'  ich  dir 
von  Troll!  Seltsam,  was  eine  Zigarette  bis» 
weilen  fertigbringt! 

Von  übermäßigem  Wuchs  war  er,  er,  mein 
Troll.  Stark  und  ungestüm,  jung  und  schwarz 
wie  das  Gefieder  des  Kolkraben.  Pranken  hatte 
Troll,  wie  sie  nicht  oft  zu  finden  sind  beim 
deutschsbelgischen  Schäferhund,  und  Augen 
wie  Bernstein  und  Zähne  wie  Elfenbein.  Gleich 
Glas  sprängen  die  Knochen,  sagten  die  Leute. 
Wer  hatte  nicht  trotz  Schwere  der  Zeit  zu  fres» 
sen  für  ihn?  Mein  Gott  — , sind  das  fünf  Jahre 
her,  fünf  endlos  lange  Jahre?  Winzig  nur 


waren  die  beiden  Tännchen  derzeit,  als  wir  sie 
ihm  aufs  Grab  setzten,  und  heute?  Meine  Hände 
greifen  ihren  Stamm.  Unglaublich,  kinderarm» 
dick  sind  sie  fast  geworden.  • 

Kamerad,  ich  weiß  nicht,  was  du  durchlebt 
hast.  Aber  — soll  ich  dir  sagen,  daß  ich  noch 
heute  sein  Bellen  höre,  das  Knirschen  des  Le» 
ders  seines  Führgeschirrs  und  aufschrecke  des 
Nachts  im  Schlaf,  weil  — , doch  hör'  weiter  vom 
Troll.  Von  Ortschaft  zu  Ortschaft  zogen  wir, 
mein  Hund  und  ich.  Es  füllte  sich  mein  Ruck» 
sack  in  der  schweren  Zeit  nach  dem  Kriege. 
Daß  meine  Familie  nicht  Not  litt,  das  war  allein 
sein  Verdienst.  Woche  um  Woche  unermüdlich 
Monat  um  Monat,  sonnabends  ging  es  zum 
Hamstern.  Dieses  Wort  kennst  du  doch  noch  aus 
der  Zeit,  Kamerad,  oder?  Nun,  ich  kann  jetzt 
schwer  sprechen  von  Treue,  von  all  dem,  was 
war  um  uns  zwei,  um  meinen  Hund  und  mich. 
Und  doch  kam  es  eines  Tages,  geschah,  tat  sich 
wie  immer  im  Ablauf  alles  Irdischen.  Der  Tier» 
arzt  mußte  kommen!  Der  Mann  kam  noch  ein» 
mal,  ein  drittes  und  ich  glaube  noch  viele  Male. 
Ich  spürte  es,  hörte  dann  und  ja  — — , eine 
Rettung  gibt  es  nicht  mehr,  Wassersucht!  Der 
Tierarzt  sagte  es.  Zusehends  schwoll  der  Leib 
meines  Hundes,  wurde  dicker  von  Tag  zu  Tag. 
Troll  trank  nur  noch.  Sein  Leib  wurde  zum 
Erbarmen  ungestalten.  Entsetzlich  trat  das 
Rückgrat  hervor.  Meine  Hand  wagte  ich  nicht 
darüberzulegen.  Heiß  ging  der  Atem  meines 
Tieres,  und  Röcheln  war  in  ihm,  ein  furcht» 
bares  Röcheln! 

Was  weiter  geschah  zu  jener  Zeit,  was  sich 
dann  tat  eines  Abends,  als  der  Förster  kam, 
so  genau  kann  ich  es  nicht  mehr  sagen,  kann  es 
nicht  aussprechen.  Eisige  Ruhe,  Schweigen 
währte  minutenlang!  Wer  ihn  geliebt  hatte, 
verschloß  sich  rpit  den  Händen  das  Ohr,  und 
ich  — ich  zählte  und  zählte,  weiß  nicht,  wie 
weit  ich  kam  mit  meinem  Zählen,  zählte  noch, 
bis  der  Schuß  fiel.  Ein  Knall  zerriß  die  Luft,  ich 
habe  das  Echo  gehört,  seltsam,  daß  ich  das  ver» 
nahm,  dreimal,  viermal  oder  mehr. 

Längst  war  tiefer  Abend  um  unsere  Ortschaft 
und,  Kamerad,  als  die  drei  großen  Männer 
miteins  da  waren,  begriff  ich  erst!  Schwere 
Pickel  schlugen  sie  in  die  Erde,  ihre  Spaten 
kreischten  im  steinigen  Boden.  Kamerad,  ich 
sagte:  es  wurde  Nacht!  Als  ich  seinen  Kopf 
nahm,  das  warme  klebrige  Blut  fühlte,  du,  da 
war  ich  der  Dunkelheit  dankbar.  Von  drei  gro» 


SdiadodilictQ 

€IN  WeiNBRÄND,  D€R  HÄLXWÄS  SCIN  NÄ\\e  VeRSPRlCHT 


4* 


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f3en  und  derben  Männern  sprach  ich;  sie  haben 
es  mir  leicht  gemacht,  leicht  und  schwer  zu= 
gleich.  Männer  weinen,  Männer  unserer  Zeit 
weinen  um  einen  toten  Hund?  Warum  sprach 
keiner,  wie  es  sonst  ihre  Art  war?  Weshalb 
gruben  und  schaufelten  sie  so  schnell,  so  hastig? 
Eng  war  meine  Kehle,  wie  zugeschnürt.  Ich 
habe  doch  das  große  Sterben  derzeit  erlebt! 
Aber  hier,  Männer  weinen  um  einen  Hund,  nur 
um  einen  Hund  . . . 

Längst  ist  kein  Pickeln  mehr  um  uns,  kein 
Schaufeln,  nur  Stille.  Eine  unbeschreibliche 
Stille.  Beim  Buchenberg  schreit  ein  Nachtvogel, 


und  Irgendwo  gehen  Menschen  über  die  neue 
Teerstraße. 

So  — so  war  es  um  Troll! 

Meine  Hände  fühlen  heute  wieder  die 
Stämme  der  kleinen  Tannen.  Verzeih,  Kame= 
rad,  wenn  ich  mich  etwas  verlor.  Jetzt  ist  Mit= 
tag,  und  fünf  Jahre  sind  vergangen.  Du  sollst 
aber  hören,  was  ich  sage,  wenn  du  deinem 
Hund  durch  die  Halskrause  fährst:  Sei  gut  zu 
ihm,  sehr,  sehr  gut!  Am  Ende  könnte  es  dir 
sonst  so  gehen  wie  mir.  Ein  ungerechter  Hieb, 
den  du  ihm  gibst,  gereut  dich  vielleicht  wie  bei= 
spielsweise  — mich:  heute  noch!  John  Warncke 


Ein  Realist  der  Mens(blid)keit 


Als  der  Geschäftsmann  Henry  Dunant  aus 
Genf  1859  Kaiser  Napoleon  III.  in  der  Lom= 
bardei  aiifsuchen  wollte,  um  bei  ihm  seine  alge= 
rische  Mühlenkonzession,  die  ihm  die  Kolonial» 
Bürokraten  verweigerten,  durchzusetzen,  geriet 


Henry  Dunant,  gehören  am  8.  Mai  1828  in 
Genf,  war  ursprünglich  ein  nüchterner  Ge- 
schäftsmann. Durch  Zufall  erlebte  er  1859  in 
der  Schlacht  bei  Solferino  das  grauenvolle 
Leid  verlassener  Verwundeter.  So  wurde  er 
zum  geistigen  Schöpfer  des  Roten  Kreuzes. 
Nach  einem  Holzschnitt  von  Prof.  v.  Dombrowski 


er  in  Solferino  in  die  blutigste  Schlacht  des 
Jahrhunderts.  Ein  typischer  Zeitmensch,  nur  sei» 
nen  Geschäften  auf  Kosten  der  menschlichen 
Substanz  lebend,  stand  hier  plötzlich  der  Reali» 
tät  des  nackten  Lebenskampfes  in  seiner  grau» 
samsten  Gestalt  gegenüber.  Er  schloß  nicht  feige 
die  Augen  und  floh  nicht,  er  brach  auch  nicht 
zusammen  vor  dem  Inferno  einer  ungeahnten 
Barbarei,  die  bis  zurNiedermetzelung  Tausender 
wehrloser  Verwundeter  auswucherte:  Dunant 
erlebte  sein  Damaskus. 

Der  Genfer  Kaufmann  zog  die  Konsequenz 
und  handelte,  er  schuf  auf  dem  Schlachtfeld 
durch  bloßes  Helfen  jenseits  der  bis  dahin 
üblichen  Scheidung  von  Freund  und  Feind,  von 
Siegern  und  Besiegten,  ein  überdauerndes 
Werk,  er  rief  mit  traumwandlerischer  Sicherheit 
die  Urzelle  des  Roten  Kreuzes  ins  Leben.  Und 
nach  dem  Erstaunen,  das  jeder  schöpferische 
Beginn  in  der  Masse  Mensch  bewirkt,  erntete  er 
schon  mit  der  praktisch  hilflosen,  weil  unvor» 
bereiteten  Tat  von  Solferino  den  Sieg,  den  sie 
in  sich  barg:  das  Volk  von  Solferino,  die  italie» 
nischen  Bäuerinnen  gehorchten  seinem  Ruf  und 
halfen  mit  — und  es  erwachte  angesichts  von 
abertausend  verblutenden,  verschmachtenden 
Verwundeten  der  erkennende  Leitruf  über  dem 
Feld  des  Grauens:  „Tutti  fratelli!"  Alle  sind^ 
Brüder!  — Auch  die  feindlichen  Brüder.  — Ddr 
wehrlose,  wunde  Feind  wurde  verbunden  und 
versorgt,  soweit  dies  ohne  die  primitivsten 
Hilfsmittel  überhaupt  möglich  war. 

Bis  dahin  ist  das  Erleben  und  Handeln 
Dunants  die  Erfahrung  und  Tat  eines  aus  Her» 
zensträgheit  und  Geldjagd  erwachten  Mannes 
seiner  Zeit.  Es  hat  immer  und  vor  allem  im 
ig.  Jahrhundert  erschütterte  Herzen  gegeben, 
die  aus  dem  Erleben  mitmenschlichen  Leides 
zum  Samaritertum  als  der  Forderung  der  Stunde 
fanden  und  dann  wieder  in  ihr  gewohntes 
Leben  zurückkehrten. 

Dunants  Wandlung  führte  jedoch  zu  einer 
weltweiten  Mission,  die'  den  ganzen  Menschen 
abforderte.  Und  einzigartig  wurde  sein  Werk 
nur  deshalb,  weil  er  in  seinem  zähen  Ringen 
um  eine  übernational  bindende  Konvention  der 


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in  aen  Kriegen  von  J866  und  1870171  trat,  wenige  Jahre  nach  der  Genfer  Konvention, 
zum  ersten  Male  das  „Rote  Kreuz“  als  Schutzmacht  der  Menschlichkeit  in  Erscheinung.  Diese 
rührende  Zeichnung  von  Albert  Hendschel  mag  zwar  die  Teilnehmer  der  Kriege  des  20.  Jahr- 
hunderts lächeln  lassen,  aber  doch  ist  sie  ein  schönes  und  ehrlich  gemeintes  Dokument.  Die 
Helferin  trägt  bereits  die  Armbinde  des  Roten  Kreuzes.  Henry  Dunant  war  bald  in  Ver- 
gessenheit und  in  größtes  Elend  geraten,  aber  seine  Schöpfung  und  seine  Ideale  hatten  sich 
durchgesetzt.  Millionen  verwundeter  Soldaten  sind  ihm  Dank  schuldig. 


Staaten  bewies,  daß  hier  kein  Romantiker  des 
Gefühls,  sondern  ein  Realist  der  Menschlichkeit 
seine  Forderung  an  die  Menschheit  richtete:  mit 
den  wachsenden  Waffenwirkungen,  die  seit  der 
Heraufkunft  der  Technik  zu  unausdenkbaren 
Vernichtungen  führen  müssen,  den  Kampf 
durch  ein  von  allen  anerkanntes  und  völker= 
rechtlich  bindendes,  begrenzendes  Maß  zu  ver= 
menschlichen  — und  im  Zeitalter  der  Masse,  der 
anonymen  Kollektiv=Gewalten  und  ihrer  groß= 
mächtigen  Apparaturen  dem  Menschen  ein 
erstes  und  letztes  Grundrecht  zu  sichern,  dem 
Individuum  Mensch,  wie  es  als  Einzelwesen  ge= 
boren  wird  und  sterben  muß. 

Keine  idealistische  Parole:  „Nie  wieder 
Krieg!"  — Kein  ideologischer  Absolutheits= 
Anspruch:  „Die  Waffen  nieder!"  — Dunant 
kannte  den  Menschen  in  seiner  Paradoxie, 
seine  zwiespältige  Natur,  seine  Götzen  und 
Dämonen,  sein  Unmaß  und  seine  Grenze.  Er 
ahnte  die  Heraufkunft  der  vernichtenden  Mächte 
des  20.  Jahrhunderts.  Und  er  blieb  deshalb  ein 


unbestechlicher  Realist,  der  nicht  mehr  forderte, 
als  „hier  und  heute"  zu  erreichen  war.  So  siegte 
seine  Idee  über  das  tragische  Schicksal  ihres 
ersten  Trägers  hinaus,  der  sich  durch  ein  diffa= 
mierendes  Elend  bis  ins  hohe  Alter  quälen 
mußte. 

Das  Rote  Kreuz  überdauerte  die  beiden  un= 
menschlichsten  Kriege  der  Geschichte,  seine  Auf= 
gaben  wuchsen  über  das  gesetzte  Maß  des 
19.  Jahrhunderts  weit  hinaus;  es  stand  im  Luft= 
krieg  vor  den  verstümmelten  und  verbrannten 
Frauen,  Greisen  und  Kindern,  im  Partisanen= 
krieg  und  im  Bürgerkrieg  vor  dem  Geisel= 
System,  im  totalen  Krieg  vor  der  Zwangsarbeit, 
Austreibung  und  Tötung  von  Millionen  Zivi= 
listen. 

Und  obgleich  es  — wie  sein  Gründer  in  Sol= 
ferino  — nicht  das  Feuer  der  Unterwelt  zu 
löschen  vermochte,  versuchte  es  zumindest,  mit= 
ten  hinein  in  den  Rachen  der  Hölle  zu  greifen, 
und  zeugte  so  für  die  Bruderschaft  alles  Leben= 
digen  — im  Dienst  an  Freund  und  Feind,  auch 


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^t)U  iPcHafi  ‘poGtiwr  'K^vatttf » 


wenn  es  paradox  scheint,  den  Mord  zuzulassen 
und  nach  dem  Schlachten  den  Überlebenden, 
soweit  sie  wehrlos  geworden  sind,  zu  helfen. 

Nach  jener  Schlacht  bei  Solferino  lagen  40  000 
Verwundete  hilflos  in  ihrem  Blut;  die  ganze 
Nacht  hindurch  hörte  man  das  Schreien  und 
Jammern  der  Verwundeten,  und  es  war  einfach 
unvorstellbar,  daß  die  Ärzte  sich  der  „feind- 
lichen" Verwundeten  annahmen.  Was  galten 
Menschen!  „Was  wollen  Sie!  Man  kann  keinen 
Eierkuchen  backen,  ohne  Eier  zu 'zerschlagen!" 
Das  war  die  Antwort  des  Kriegsmanns,  des 


Generals  Beaufort,  als  ihm  Dunant  auf  dem 
Schlachtfeld  Vorwürfe  machte. 

Mit  Mühe  gelang  es  Dunant,  österreichische 
Ärzte,  die  als  Gefangene  weggeführt  wurden, 
zur  Pflege  der  Verwundeten  frei  zu  bekommen. 
Er  bildete  eine  erste  Samaritergruppe.  Ein  An= 
fang  war  gemacht. 

Jeder  deutsche  Soldat,  gerade  auch  diejenigen, 
denen  dieses  Buch  hier  gilt,  haben  etwas  von 
dem  Segenswerk  Dunants  am  eigenen  Leibe  er= 
fahren.  Darum  gelte  ihm  auch  hier  ein  Wort 
des  Dankes.  Gerhard  Eschenhagen 


Vom  „Sehen"  der  Kriegsblinden 


Daß  wir  Kriegsblinden  einmal  haben  sehen 
können,  ist  unser  Schmerz  und  zugleich  unser 
Glück,  auf  das  wir  nicht  um  alles  verzichten 
möchten.  Schmerz  deshalb,  weil  wir  wissen, 
was  wir  verloren  haben.  Glück,  weil  uns  das 
Gegenständliche  der  Welt,  wenn  wir  es  nen= 
nen  hören,  zum  Bilde  wird,  weil  wir  es  „sehen". 
Freilich  ist  der  Vorgang  unseres  „Sehens"  an= 
ders  als  bei  den  Sehenden.  Während  diesen 
das  Bild  unmittelbar  durch  das  Auge  bewußt 
wird,  müssen  wir  es  aus  dem  Schatz  unserer 
Erinnerungen  in  uns  erst  hervorsuchen  und 
„sehen"  es  innerlich.  Daß  dieses  Bild  von  Wald, 
Wiese,  Berg,  Straße,  Haus  und  Heim  nicht  der 
Wirklichkeit  entspricht,  selbst  wenn  man  es 
uns  noch  so  genau  beschreibt,  versteht  sich  von 
selbst.  Doch  kommt  es  darauf  auch  nicht  so 
sehr  an  wie  darauf,  daß  uns  die  Welt  außer 
uns  nicht  überhaupt  verödet  und  daß  wir  fort= 
fahren,  sie  zu  „sehen". 

Zu  diesen  Gedanken  regt  mich  eine  Beob= 
achtung  an,  die  ich  an  mir  selbst  gemacht  habe. 
In  den  ersten  Monaten  nach  meiner  Verwun= 


düng  „sah"  ich,  wenn  ich  draußen  war  und 
durch  die  Straßen  ging,  so  lebendig,  daß  ich 
die  Straßen,  durch  die  ich  ging  und  die  ich  nicht 
kannte,  mit  buntem  Leben  füllte.  Ich  „sah" 
Straßen,  Verkehrsmittel,  Bäume,  Menschen, 
„sah"  z.  B,  eine  Straßenbaustelle  mit  Warnungs» 
Schild,  aufgerissenem  Straßenpflaster,  frei- 
liegenden Straßenbahnschienen,  den  dampfen- 
den  Teerwagen,  die  hantierenden  Männer  — 
alles  Dinge,  die  wohl  zu  irgendwelchen 
Straßenbildern  gehören  mochten,  aber  hier  und 
in  dieser  Art  gar  nicht  vorhanden  waren.  Das 
ging  so  weit,  daß  ich  plötzlich  den  Schritt  ver- 
hielt, weil  ich  spielende  Kinder  nicht  umlaufen 
wollte,  die  ich  vor  mir  auf  dem  Weg  mit  Puppen- 
wagen und  einem  Holzpferd  am  Bindfaden 
stehen  „sah";  oder:  daß  ich  auf  einmal  den 
Kopf  einzog,  weil  ich  mich  auf  einen  Mauer- 
vorsprung zugehen  „sah".  Auch  diese  Hinder- 
nisse waren  in  Wirklichkeit  gar  nicht  da.  Sie 
gehörten  aber  zu  dem -Bild  'in  mir,  das  ich  mir 
von  der  Umwelt  machte.  Nach  und  nach  verlor 
sich  dieses  „Sehen",  die  Umwelt,  die  ich  durch- 


di.e^^l/Uelt  • . . 


Artikel  und  Buchauszüge  von  bleiben- 
dem Wert  aus  den  führenden  Zeitschriften 
und  meistgelesenen  Büchern  der  Welt 
Monatlich  für  1 Mark 


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Winter  im  Dorf 


Holzschnitt  von  Ottilie  Ehlers-Kollwitz 


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ging,  wurde  mehr  und  mehr  zum  wesenlosen, 
gestaltlosen  Raum. 


Ich  denke  mir  nun,  daß  es'  so  oder  ähnlich 
auch  anderen  kriegsblinden  Kameraden  ge= 
gangen  sein  mag.  Und  hierin  liegt  die  Gefahr, 
daß  wir  die  gegenständliche  Verbindung  zu 
unserer  Umwelt  verlieren,  daß  wir  zu  „sehen" 
verlernen.  Freilich  soll  an  Stelle  des  von  mir 


eben  geschilderten  „Phantasie=Sehens"  ein  der 
Wirklichkeit  möglichst  angenähertes  „Sehen" 
treten.  Das  aber  will  geübt  und  ständig  ge= 
pflegt  sein.  Hier  liegt  eine  wichtige  Aufgabe 
unserer  Begleitung,  vor  allem  unserer  Frauen. 
Sie  sollen  uns  helfen,  unsere  Umwelt  zu 
„sehen".  Sie  sollen,  ohne  daß  wir  fragen,  uns 
unsere  Umgebung  so  genau  wie  möglich  be= 
schreiben,  sollen  viel  Farbe  ins  Bild  tun  — 
wissen  wir  doch,  was  Farbe,  was  Licht  ist  — 
sollen  uns  von  Gebäuden  die  Größe,  Form  und 
Bauart  beschreiben,  sollen,  wenn  wir  in  freier 
Natur  sind,  uns  die  Landschaft  „sehen"  lassen, 
und  zwar  systematisch,  wie  wir  es  als  Soldaten 
bei  der  Geländebeschreibung  taten,  Vorder= 
grund,  Mittelgrund,  Hintergrund,  immer  von 
links  nach  rechts,  sollen  uns  auf  Besonderhei= 
ten,  einen  schönen  Baum  etwa,  „aufmerksam" 
machen,  kurz,  uns  alles  mit  „sehen"  lassen, 
was  sie  selbst  sehen. 

Das  ist  nicht  immer  leicht  und  will  gelernt  sein; 
aber  es  lohnt  sich,  daß  sich  unsere  Begleiter 
ernsthaft  darum  bemühen;  denn  sie  machen  uns 
die  graue,  leere  Welt  bunt  und  gegenständlich 
lebendig.  Daneben  fällt  für  sie  selbst  noch  ein 
Gewinn  dabei  ab:  sie  selbst  lernen  bewußt  sehen, 
genau  sehen.  Aus  diesem  Grund  empfiehlt  man 
selbst  solchen,  die  nicht  zeichnen  können,  sich 
auf  Wanderungen  etwa  einen  Skizzenblock  mit= 
zunehmen  und  eifrig  zu  zeichnen,  was  sie  sehen 


„Bitte,  lies  mir  diesen  Brief  vor!“  — „Kannst  du  mir  jetzt  etwas  aus  der  Zeitung  vorlesen?“ 
Solche  Bitten  sind  jeder  Kriegsblindenfrau  vertraut,  und  immer  wieder  muß  sie  Zeit  haben 
für  ihren  Mann,  auch  wenn  es  die  Hausfrauenarbeit  gar  nicht  erlauben  will.  Das  Vorlesen 
stellt  Ansprüche,  aber  auch  das  Zuhören.  Mancher  Kriegsblinde  brauchte  viele  Monate,  ehe 
er,  z,  B.  beim  Studium,  sich  völlig  auf  das  Ohr  umgestellt  hatte  und  wirklich  aufnahm,  was 
ihm  vorgelesen  wurde.  Foto:  Dau 


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— ganz  gleich,  was  zeichnerisch  dabei  heraus» 
kommt  — , weil  sie  so  überhaupt  erst  richtig 
sehen  lernen.  Ein  solches  Zeichnen,  nur  mit 
Worten  und  aus  Worten  geformten  Bildern,  ist 
die  Beschreibung  der  Umwelt  durch  unsere  Be= 
gleitung. 

Ein  weiterer  Weg,  unser  Inneres  mit  Bildern 
zu  füllen,  ist  das  Lesen  guter  Naturbeschreibung 
gen  oder  für  den,  der  Freude  daran  hat,  von 
Reisebeschreibungen.  Wir  haben  wohl  früher, 
wenn  wir  ein  Buch  lasen,  solche  Beschreibungen 
von  Orten  oder  Naturbildern  gern  als  lang» 
weilig  überschlagen.  Heute  sollten  wir  sie  recht 
aufmerksam  lesen  und  das,  was  uns  da  erzählt 
wird,  recht  eindringlich  in  uns  aufbauen. 

Daß  wir  uns  die  Räume,  in  denen  wir  leben 
und  arbeiten,  die  nähere  Umgebung  unserer 
Wohnung,  den  Weg  zur  Arbeitsstelle  und  auch 
die  Menschen,  "mit  denen  wir  umgehen,  ganz 
genau  beschreiben  lassen,  ist  eigentlich  selbst» 
verständlich  und  Vorbedingung  dafür,  daß  wir 
in  unserer  näheren  Umwelt  heimisch  werden. 

Kurz,  „blind"  sind  wir  Kriegsblinden,  die 
wir  doch  einst  zu  den  sehenden  Menschen  ge» 
hörten,  nicht,  jedenfalls  so  lange  nicht,  als  wir 
uns  eine  Vorstellung  von  der  Umwelt  zu  er» 
ringen  und  zu  bewahren  suchen.  Bodo  Schütz 


Beim  Essen  hat  die  Frau  eines  Kriegsblinden 
immer  zwei  Teller  zu  beachten,  ihren  und  den 
ihres  Mannes.  Sie  muß  ihm  das  Fleisch  schnei- 
den (es  hat  immer  seinen  bestimmten  Platz 
auf  dem  Teller),  und  beim  Frühstück  streicht 
sie  für  ihn  die  Brote.  Kleinigkeiten?  Viel- 
leicht! Aber  eine  Vielzahl  solcher  Kleinig- 
keiten ergibt  eine  beträchtliche  Summe  . . . 


Wie  sie  ihren  Männern  die  Last  leidofer  madoen 


Ein  Wort  zum  Lobe  unserer  Frauen 


Das  ist  das  Äußere:  peinliche  Ordnung,  der 
Aschenbecher  immer  am  gleichen  Platz,  ebenso 
die  Sessel  und  Stühle,  der  Schuhanzieher  und 
die  Handschuhe.  Der  Mann  will  sich  nicht  an 
Gegenständen  stoßen,  die  er  vor  sich  nicht  ver» 
mutet  — darum  Zimmer»  und  Schranktüren 
immer  schließen!  — , und  er  will  rasch  finden, 
was  er  braucht.  Überhaupt  ist  im  äußeren  Leben 
einer  Kriegsblindenfrau  alles  Organisations» 
kunst:  da  muß  die  Zeit  zum  Vorlesen  aus  der 
Zeitung  einkalkuliert  werden  und  die  Zeit,  um 
den  Mann  — vielleicht  mit  dem  Tandem  — zur 
Arbeitsstätte  zu  bringen  oder  wenigstens  zur 
Straßenbahn,  und  schwieriger  noch:  die  Zeit, 
um  ihn  abzuholen.  Mancherlei  Belastung  kommt 
hinzu,  die  sonst  ein  Ehemann  seiner  Frau  ab» 
nimmt,  ob  es  das  Unkrautjäten  im  Garten  ist 
oder  das  Nachsehen  der  Schularbeiten  der  Kin» 
der.  Kurz,  der  Alltag  einer  Kriegsblindenfrau 
verlangt  von  ihr  eine  Menge,  dem  Beobachter 
meist  verborgener  Anstrengungen. 

Zu  dieser  Meisterung  des  Alltags,  der  die 
Kräfte  vieler  unserer  Frauen  vorzeitig  aufreibt. 


kommen  aber  weitere  wesentliche  Aufgaben. 
Es  sei  hier  nicht  von  den  vielen  Handreichungen 
und  Hilfeleistungen  gesprochen,  die  der  Kriegs» 
blinde  ständig  benötigt,  auch  nicht  von  der 
körperlichen  und  nervenmäßigen  Erschöpfung, 
mit  der  ein  Kriegsblinder  oft  von  der  Arbeits» 
Stätte  helmkehrt  und  die  es  ihm  unmöglich 
macht,  zum  Feierabend  irgend  etwas  Hübsches 
mit  seiner  Frau  zu  unternehmen;  es  sei  hier 
vielmehr  nur  einmal  auf  einen  tieferliegenden, 
bedeutungsschweren  Punkt  hingewiesen:  der 
Mann  behält  den  Kontakt  mit  der  Welt  allein 
durch  die  Augen  seiner  Frau,  das  heißt  also, 
daß  es  allein  an  der  Frau  liegt,  was  für  Vor» 
Stellungen  sich  der  Mann  von  der  Umwelt 
macht  und  m welchem  Maße  er  etwa  schon 
dadurch  innerlich  verarmt,  daß  Schönheit  und 
Fülle  des  Sichtbaren  ihm  nicht  mehr  mit  jener 
Plastik  vermittelt  werden,  die  einzig  die  dunk» 
len  Mauern  um  ihn  aufbrechen  kann.  Das  er» 
fordert  bei  der  Frau  viel  Kunst  nicht  nur  des 
Schilderns  in  Worten,  sondern  auch  der  Erlebnis» 
fähigkeit.  Schon  ein  Ausruf,  ein  Führen  der 


Die  „HOHENSONNE“  ORIGINAL  HANAU 

schenkt  Ihnen 

Wmm 

Gesundheit  - Schönheit  - Leistungssteigerung! 

O^OlNAl  HANAU 

57 


Für  jedeip.  Kriegsblinden  gibt  es  immer  wieder 
Stunden  tiefer  Niedergeschlagenheit,  auch  bei 
den  Kriegsblinden  des  ersten  Weltkrieges; 
denn  „gewöhnen“  kann  man  sich  nicht  daran. 
Tag  für  Tag  in  Dunkelheit  zu  leben,  ln  solchen 
Stunden  der  Depression  ist  es  immer  wieder 
die  Frau  des  Kriegsblinden,  die  ihm  neuen 
Mut  gibt.  Foto;  Seeger 

Hand  zu  einer  Knospe  etwa,  kann  viel  ver= 
mittein.  Glücklich  jener  Kriegsblinde,  der  sagen 
kann:  „Ich  habe  zwei  helle,  wache  Augen,  die 
Augen  meiner  lieben  Frau!" 

Das  sind  Schicksale 

Zu  einer  Zeit,  als  man  an  Krieg  und  Kriegs= 
geschrei  noch  nicht  dachte,  hatten  beide  die 


Ehe  geschlossen,  und  das  Leben  floß  dahin  in 
einer  ruhigen  Bahn.  Am  Steuer  des  Eheschiffes 
saß  ja  der  Mann.  Er  war  Halt  und  Stütze  für 
sie,  und  beide  meisterten  gemeinsam  die  un= 
ausbleiblichen  Schwierigkeiten  des  täglichen 
Lebens.  Dann  kam  der  Krieg,  und  mit  ihm  kam 
der  Abschied.  Die  Sorge  für  die  Familie  lag 
auf  den  Schultern  der  Frau.  Das  war  eine 
ungewohnte  Bürde. 

Dann  kam  eines  Tages  ein  Brief,  von  einer 
fremden  Hand  geschrieben,  und  in  diesem  Brief 
stand  die  Nachricht  von  der  schweren  Verwun= 
düng  des  Mannes.  Sein  Augenlicht  sei  gefähr= 
det,  hieß  es  da.  Sie  wußte,  was  das  zu  bedeuten 
hatte.  Allzu  gut  hatte  sie  seit  dem  Beginn  des 
schrecklichen  Krieges  gelernt,  das  zu  lesen,  was 
nicht  geschrieben  wurde  ... 

Sie  wußte  es:  ihr  Mann  war  durch  seine  Ver- 
wundung erblindet! 

Eine  Welt  brach  zusammen,  und  sie  meinte, 
die  Sonne  müsse  ihren  Schein  verlieren  und  die 
Welt  müsse  stille  stehen.  Aber  beides  geschah 
nicht!  Die  Sonne  schien  freundlich  wie  am 
Hochzeitstage,  und  die  Welt  drehte  sich  weiter. 
Das  Schicksal  ihres  Mannes  und  ihr  eigenes,  sie 
waren  ja  viel  zu  winzig,  um  den  Lauf  der  Welt 
zu  beeinflussen.  Und  diese  Erkenntnis  war  wohl 
der  erste  geringe  Anfang  ihres  Willens  zum 
Dennoch  und  zum  Trotzallem! 

Dann  sah  sie  eines  Tages  ihren  Mann  im 
Lazarett  wieder.  Es  war  bitterschwer,  und  es 
kostete  sie  fast  ein  Übermaß  an  Kraft,  aber  sie 
trat  ihm  mit  ihrer  heiteren,  gütigen  und  freund= 
liehen  Art  entgegen,  wie  früher.  Keine  Träne 
floß,  und  mit  keinem  Wort  erwähnte  sie  die 
schwere  Verwundung.  Sie  erwähnte  auch  nicht 
die  glückliche  Vergangenheit.  Nur  die  Gegen= 
wart  ist  lebendig  und  die  Freude,  sich  endlich 
wieder  zu  haben. 

^Allerdings:  was  da  geschah  vom  Zeitpunkt 
an,  als  sie  den  Brief  gelesen,  bis  zum  Augen= 
blick  des  Wiedersehens  mit  ihrem  Manne,  das 
geschah  im  stillen  Kämmerlein,  und  nur  sie,  die 
Frau,  weiß  darum,  und  sie  wird  nie  darüber 
sprechen. 


CAMERAS  . SICHERHEITSSCHLÖSSER 
SPIEGELLEUCHTEN 
MED.  KOLORIMETER 

ZEISS  IKON  AG  GOERZWERK 


BERLIN-FRIEDENAU  • RHEINSTRASSE  45-46  • AMERIKANISCHER  SEKTOR 


5« 


Ihr  freundliches,  scheinbar  unbekümmertes 
Wesen  aber  waren  die  ersten  Stützen,  an  denen 
sich  der  Mann  in  seinem  neuen  Leben  in  Nacht 
und  Dunkel  aufzurichten  vermochte. 

Eines  Tages  kehrte  der  Mann  heim.  Zur  Sorge 
um  die  Familie  kam  jetzt  noch  die  Pflege  des 
Mannes  hinzu  als  eine  zunächst  unbekannte 
Größe.  Dazu  kamen  Aufgaben  ganz  neuer  Art. 
Sie  mußte  sich  daran  gewöhnen,  aufs  Dach  zu 
steigen,  wenn  der  Wind  einen  Dachziegel  ge= 
löst  hatte.  Sie  lernte,  mit  dem  Hammer  und  der 
Zange  umzugehen,  den  Malerpinsel  zu  führen, 
die  Hacke  zu  schwingen  und  die  Schaufel  zu 
heben.  Sie  mußte  sich  aber  auch  mit  dem  Ge» 
danken  vertraut  machen,  daß  der  Feierabend 
dem  Manne  gehörte.  Die  fleißige  Nadel  mußte 

HÖR  AUF  DEN  HERZSCHLAG! 

Die  Sonne  soll  scheinen, 

Der  Mond,  er  soll  leuchten! 

Die  Wolke  muß  regnen, 
das  Erdreidi  zu  feuchten. 

Und  siehst  du  kein  Leuchten, 
weil  Nacht  dich  umgibt, 
so  hör  auf  den  Herzschlag 
der  Frau,  die  dich  liebt! 

Es  s<^lägt  mit  dem  Klang, 
der  tn  alledem  wohnt: 
in  Sonne  und  Erdreich 
und  Wolken  und  Mond! 

WILFRIED  MÜHLENSIEPEN 

ruhen.  Statt  dessen  lernte  sie,  ein  Buch  vorzu= 
lesen,  und  siehe  da!  Sie  erfuhr,  daß  die  Dinge 
schon  halb  getan  waren,  wenn  man  sie  nur  mit 
beiden  Händen  zugleich  anfaßte.  Mit  schier  un= 
endlicher  Geduld  und  zartem  Feingefühl  ver= 
suchte  sie,  ihren  Mann  zu  lenken  und  zu  führen. 
Nicht  zu  jedem  Augenblick  standen  Geduld  und 
Feingefühl  in  ausreichendem  Maße  zur  Ver= 
fügung.  Sie  war  ja  auch  nur  ein  Mensch,  deut= 
lieber  gesagt:  nur  ein  Mensch  . . . 


„Wie  bitte?  Sie  haben  mit  Ihrer  Frau  eine 
Radtour  gemacht?“  So  lauten  am  Montag- 
morgen die  ungläubigen  Fragen  der  Kollegen. 
„Und  ob!“  erklärt  lachend  der  Kriegsblinde, 
„allerdings  mit  dem  Tandem!  So  ein  Doppel- 
sitzer scheint  für  unsereins  erfunden  zu  sein.“ 

So  kam  es  zu  großen  und  kleinen  Schwierig= 
keiten  in  der  Ehe  und  in  der  Familie.  In  dem 
Maße  aber,  wie  sie  Herrin  dieser  Schwierig= 
keiten  wurde,  wuchs  die  Kameradschaft  zwi= 
sehen  den  beiden  zu  einem  Block  aus  einem 
einzigen  Guß.  Wenn  je  das  Wort  von  der 
Kameradschaft  Gültigkeit  hat,  so  hat  es  seinen 
tiefsten  Sinn  im  Ehe=  und  Familienleben  des 
Kriegsblinden  gefunden. 

Von  einer  anderen  Gruppe  von  Frauen  soll 
hier  noch  die  Rede  sein.  Als  junges  Mädchen 
lebt  man  das  Leben  der  glücklichen  und  unbe= 
schwerten  Jugend.  Da  tritt  plötzlich  und  unver= 


Zur  ßaarpfleße 

SCHWARZKOPF 


59 


„Ohne  die  Charlotte  hätte  ich  es  wohl  nie  geschafft!“  sagt  dieser  kriegsblinde  Rechtsanwalt. 
Charlotte  ist  seit  sechs  Jahren  seine  Frau  und  Mitarbeiterin.  In  vielen  Kriegsblindenehen, 
vor  allem  bei  den  selbständig  tätigen  Kriegsblinden,  ist  die  Frau  zur  Mitarbeiterin  ihres 
Mannes  geworden,  und  diese  gemeinsame  Arbeit  verbindet  beide  noch  enger.  Charlotte  ist 
inzwischen  Mutter  zweier  Mädchen  und  eines  Jungen  geworden.  Über  Langeweile  hat  sie 
also  nicht  zu  klagen,  auch  wenn  im  Haushalt  ein  Mädchen  hilft  und  im  Büro  eine  Sekretärin. 


mittelt  ein  Mann  in  das  Leben  dieses  jungen 
Mädchens,  ein  Mann,  der  vom  Kriege  sehr 
schwer  gezeichnet  ist.  Er  verlor  in  den  letzten 
Tagen  des  i.  Weltkrieges  sein  Augenlicht,  seine 
beiden  Hände  und  das  Gehör  fast  völlig.  Und 
das  junge  Mädchen  fühlt  ebenso  plötzlich  und 
unvermittelt  die  Berufung  in  sich,Lebensgefähr= 
tin  dieses  Mannes  zu  werden.  Sie  lernten  sich 
durch  einen  Zufall  im  Jahre  igzö  kennen  und 

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Um  die  Unversehrtheit  dieses  wertvollen  Kalen- 
ders zu  bewahren,  genügt  auch  Bestellung  unter 
Angabe  obenstehender  Kenn-Nummer 


heirateten  im  Jahre  1927.  Aus  der  Ehe  sind  drei 
Söhne  hervorgegangen,  drei  Jungen,  auf  die  die 
Eltern  stolz  sein  können.  Die  Mutter  und  Gattin 
eines  kriegsblinden  Ohnhänders  erzog  sie,  und 
unter  dem  Eindruck  der  Persönlichkeit  ihres 
vom  Kriege  schwer  getroffenen  Vaters  wurden 
sie  zu  brauchbaren  Menschen.  W$s  hat  diese 
Frau  in  ihrer  nun  27  Jahre  währenden  Ehe  alles 
hinter  sich  gebracht!  Sie  spricht  nicht  davon, 
und  niemand  kann  es  in  seiner  ganzen  Trag= 
weite  erfassen  als  nur  sie  und  ihr  kriegsblinder 
Mann.  Ein  Besuch  bei  ihnen  aber  ist  ein  Genuß. 
Man  spürt,  wie  beide  miteinander  verwachsen 
sind  und  wie  der  eine  des  anderen  Last  mit 
Geduld  trägt  und  wie  sie  Freude  und  Leid  mit= 
einander  teilen,  und  ich  meine,  daß  die  Freude 
in  ihrem  Leben  überwiegt. 

Solche  junge  Mädchen,  die  in  ihrem  jungen 
Leben  eine  Kehrtwendung  vollführten  und  es 
ganz  in  den  Dienst  ihres  schwergeprüften  Man= 
nes  stellten,  gab  es  nach  dem  1.  und  nach  dem 
2.  Weltkrieg.  Und  nach  beiden  verlorenen  Krie= 
gen  konnte  es  nicht  die  Rente  sein,  die  die 
jungen  Menschen  zu  diesem  Tun  bewogen  hätte. 
Die  Versorgung  der  Schwerkriegsbeschädigten 


60 


war  nach  beiden  Weltkriegen  durchaus  unge= 
nügend. 

„Große  Frauen  unserer  Zeit" 

Wenn  man  eine  Kriegsblindenfrau  von  sol= 
chen  inneren  Erfahrungen  sprechen  hört,  wenn 
man  sie  kennenlernt,  diese  tüchtigen,  immer 
unermüdlichen  Frauen,  die  das  Leben  ihres 
Mannes  ganz  zu  ihrem  eigenen  machen,  dann 
versteht  man,  daß  einer  der  bedeutendsten 
Männer  der  Gegenwart  ausrufen  konnte:  „Sie 
gehören  zu  den  großen  Frauen  unserer  Zeit!" 
Niemand  spricht  von  ihnen,  und  sie  treten 
nicht  in  das  Licht  der  Öffentlichkeit.  Und  wenn 
ihr  Mann,  den  sie  jahrzehntelang  betreut  und 
gepflegt  haben,  stirbt,  geraten  sie  meist  in 
Armut  und  Elend,  denn  die  Witwenrente  liegt 
weit  unter  dem  Existenzminimum. 

Aber  wir  gedachten  unserer  Frauen  nicht,  um 
hier  zu  klagen,  sondern  um  ihnen  zu  danken. 
Sie  haben  es  verdient,  daß  man  von  ihnen  weiß 
und  daß  man  über  sie  nachdenkt. 

Die  Frau  eines  Kriegsblinden  erlebt  oft  einen 
Schmerz,  den  wohl  niemand  unter  unseren 
sehenden  Lesern  bisher  bedacht  haben  dürfte. 
Eine  dieser  Frauen  schildert  — als  ob  sie  ein 
Gespräch  mit  einer  Schicksalsgefährtin  führe  — 
eine  solche  schmerzliche  Spannung: 

Daran  denkt  keiner  . . . 

Ihr  seid  unterwegs,  du  und  dein  Mann.  Ihr 
findet  einen  Sitzplatz  in  der  vollbesetzten 
Bahn.  Die  Mitfahrenden  sind  trotz  des  Ge» 
dränges  freundlich,  hilfsbereit.  Da  fängst  du 
die  Blicke  einiger  Umstehender  auf:  Sie  sind 
auf  deinen  Mann  gerichtet.  Daß^  seine  Augen 
oder  auch  seine  Stirn  oder  irgendein  anderer 
Teil  seines  Antlitzes  nicht  unversehrt  geblieben 
sind,  war  dir  lange  Zeit  hindurch  ein  Schmerz; 
denn  du  bist  eitel  auch  auf  deinen  Mann.  Du 
warst  von  jeher  stolz  auf  ihn,  auch  auf  sein 
Äußeres,  sein  gutes  Aussehen,  seine  gute  Hai» 
tung,  seinen  sicheren,  freien  Gang.  Nun  hast  du 
für  dich  diesen  Schmerz  bezwungen,  daß  es 
nicht  mehr  so  ist  wie  früher.  Wenn  nur  die 
Menschen  nicht  wären,  die  plumpen,  neu» 
gierigen,  taktlosen  Menschen!  Jedesmal  bei 
solchen  Begegnungen  ist  derselbe  Schmerz  wie» 
der  hellwach,  und  du  möchtest  weit  weg  sein, 
du  schämst  dich. 

Ja,  du  schämst  dich  deines  Mannes.  Und 
gleichzeitig  schämst  du  dich  deiner  selbst.  Du 
bist  hilflos  und  zornig  und  sehr  einsam  in  dei» 
nem  Kummer.  Und  du  fragst  dich:  Liebst  du 
deinen  Mann  denn  nicht  mehr  wie  früher?  Ist 


es  nicht  schlimm,  daß  du  dich  seiner  schämst? 
Du  fühlst  dich  klein  und  schlecht  und  minder» 
wertig.  Du  willst  wissen:  Ist  es  denn  nicht 
ganz  gleichgültig,  mit  welchen  Augen  andere 
euch  beide  betrachten?  Ob  sie  in  unverwandter 
Neugier  deinen  Mann  anstarren  und  auch  wohl 
den  Gefährten  neben  sich  auf  ihn  aufmerksam 
machen?  Und  wenn  es  nur  das  wäre!  Aber  so 
manches  Mal  werden  deine  sehr  wachen  Augen 
von  einem  Blick  getroffen,  der  dir  sagt:  Wie 
tust  du  mir  leid!  Wie  bist  du  deines  Mannes 
wegen  zu  bedauern!  Und  nicht  nur  die  Augen 
sagen  es.  Auch  wörtlich  kannst  du  es  hören. 


An  Mutters  Geburtstag  können  Vater  und 
Tochter  einmal  besonders  herzlich  zeigen,  wie 
dankbar  sie  der  Mutter  sind.  Gut  gelaunt 
holen  sie  noch  Blumen  für  den  Geburtstags- 
tisch. Die  Frau  eines  Kriegsblinden  hat  ja 
durch  die  Betreuung  ihres  Mannes  sehr  viel 
mehr  zu  tun  als  andere  Hausfrauen.  Sie  emp- 
fängt dafür  auch  sehr  viel  mehr  Dankbar- 
keit — allerdings  nicht  vom  Staat . . . 

Foto:  Bartl 


Der  gute  Schuh  für  alle 

40  Verkaufsstellen  im  Bundesgebiet 

Anschriften  der  Tack-Verkaufsstellen  durch: 
CONRAD  TACK  & CIE.  G.m.b.H.  Offenbach/Main 


6i 


D u aber  hast  ihn  wieder  haben  wollen.  Um 
jeden  Preis.  Und  so  ist  es  für  dich  — und  für 
uns  Kriegsblindenfrauen  alle  — gleichgültig, 
was  die  anderen,  die  „da  draußen",  denken  und 
sagen.  Es  fällt  uns  nicht  allen  gleichmäßig 
leicht,  das  zu  wissen,  uns  das  in  jedem  Augen= 
blick  deutlich  zu  machen.  Es  gibt  so  manche 
unter  uns,  die  erst  langsam  wieder  eine  feste 
Basis  gewinnen  mußte  oder  muß,  von  der  aus 
sie  der  Mitwelt  unbeirrt  gegenübertreten  kann. 

Eines  Tages  wird  es  ihnen  aufgehen:  Ihre 
Eitelkeit  sollte  jetzt  eine  andere  Richtung  be=> 
kommen.  Nicht  auf  äußere  Eigenschaften  und 
Vorzüge  ihres  Ehegefährten  sollten  sie  stolz 
sein,  sondern  vielmehr  auf  sein  in  hartem 
Kampf  neu  errungenes  Lebensgefühl,  auf  sein 
Sich»selbst=Behaupten,  auf  sein  Ja=Sagen  zum 
Leben,  auf  seine  innere  Haltung  und  Sicher» 
heit.  Und  doppelt  stolz,  wenn  sie'  wissen  dür» 
fen,  daß  sie  ein  wenig  dazu  geholfen  haben. 


Bei  Erreichen  einer  Bordsteinkante  bleibt 
der  Führhund  stehen  und  warnt  auf  diese 
Weise  seinen  Herrn.  Nach  einem  kurzen 
Tasten  mit  dem  Stock  gibt  der  Kriegsblinde 
ein  Kommando,  und  weiter  geht’s. 


Weberei  Frittlingen 

ALBER  & CO.,  G.m.b.H. 

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popeline, Färberei  und  Ausrüstung 
Planen,  Decken,  Zelte 
Regen-  und  Sportbekleidung 


Oh,  welche  Geduldsprobe! 

Seufzer  eines  Führhundhalters 
Zu  einer  Geduldsprobe  eigener  Art  ist  für 
mich  mein  Führhund  geworden,  und  zwar  was 
das  Verhalten  der  Sehenden  anlangt.  Anschei» 
nend  glauben  viele,  daß  ich  ihn  nicht  gut 
genug  für  sein  treues  Führen  belohne.  So  wird 
er  gefüttert,  gestreichelt,  geneckt,  und  alles 
ohne  mich,  den  Besitzer,  zu  fragen.  Alle  meine 
Bedenken  werden  beiseitegeschoben  mit  dem 
Bemerken,  daß  mein  Hund  ja  ein  so  lieber  Kerl 
sei,  dem  man  nicht  widerstehen  könne.  Das 
wäre  ja  noch  zu  ertragen,  und  auch  die  täg= 
liehen  Gespräche  über  Hunde,  die  ich  morgens 
und  nachmittags  zu  führen  gezwungen  bin, 
wenn  ich  im  Abteil  sitze.  Aber  — wenn  nur  das 
Schnalzen  nicht  wäre!  Vor  uns  wird  geschnalzt, 
hinter  uns  wird  geschnalzt.  Vorübergehende 
schnalzen,  und  bevor  ich  im  Lokal  oder  Abteil 
bin,  schnalzt  schon  jemand  — , und  jedesmal 
gibt  es  mir  einen  Stich.  Ich  weiß  nicht,  soll  es 
Anfeuern  sein,  damit  der  Hund  besser  führt, 
oder  was  sonst?  Ich  glaube,  es  ist  Gedanken» 
losigkeit.  Und  ich  ertappe  mich  manchmal  bei 
dem  recht  verständlichen  Gedanken,  daß 
mein  nächster  Hund  ein  ausgesprochen  häß= 
liches  Tier  sein  soll,  das  jeden  anknurrt,  der 
sich  zu  nähern  wagt.  Alfred  Spitzer 


\\  ir  Kriegsblinden  können  unser  Leben  nur  meistern, 
wenn  uns  helfende  Hände  entgegengebracht  werden! 

Im  Beruf,  auf  der  Straße, 

bei  allen  Begegnungen  brauchen  wir  Ihr  Verständnis, 
diso  nicht  Ihr  Mitleid,  sondern  Ihre  Hand! 

40219/40223/45275/45308/45310/45323/51312  


62 


Beim  Stöbern  unter  alten  Büchern  einer  ehr= 
würdigen  Bibliothek  fiel  mir  ein  merkwürdiges, 
im  Jahre  1840  erschienenes  Buch  in  die  Hände, 
eine  Reisebeschreibung  in  englischer  Sprache. 
Der  Titel  lautete  übersetzt  „Reisen  in  Madeira, 
Sierra  Leone,  Teneriffa,  St.  Jago,  Fernando  Po 
etc.  etc."  Der  Inhalt  interessierte  mich  nicht 
besonders  — Erdkunde  war  immer  meine 
schwache  Seite  — , und  auch  den  Autor  kannte 
ich  nicht.  Oder  haben  Sie  schon  einmal  etwas 
von  James  Holman  gehört?  Ich  wollte  das  Buch 
bereits  weglegen,  als  mein  Blick  auf  eine  merk= 
würdige  Stelle  in  der  Einleitung  des  1.  Kapitels 
fiel. 

Aber  vernehmen  wir  zunächst  einmal  eine 
kleine  Probe,  die  von  der  Kunst  plastischen 
Beschreibens  zeugt,  wie  sie  diesen  James  Hol= 
man  in  seiner  Zeit  hochberühmt  gemacht  hat. 
Ein  fast  willkürlich  herausgegriffener  Abschnitt 
aus  dem  Kapitel  8.  Da  lesen  wir: 

Die  Reibung  der  Bärte 

„Um  9 Uhr,  wie  sie  versprochen  hatten, 
kamen  der  König  von  Baracoüta,  sein  Bruder 
und  fünf  oder  sechs  andere  Häuptlinge  an  Bord 
unseres  Schiffes.  Eine  Beschreibung  ihrer  phan= 
tastischen  Kleidung  dürfte  interessant  sein. 
Zuerst  einmal  waren  ihre  Körper  von  oben  bis 
unten  mit  einer  bestimmten  Art  von  Farbe  oder 
Schminke  eingeschmiert:  die  Farbe  Seiner Maje= 
stät  war  gelb,  wie  die  der  chinesischen  Herr= 
Scherfamilie,  die  seiner  Begleiter  dunkelrot.  Das 
Haupthaar  war  in  langen,  dünnen  Locken 
frisiert,  die  am  Rücken  herunterhingen  und 


statt  mit  Pomade  und  Puder  mit  .Ocker  und  öl 
steifgemacht.  Über  der  Stirn  waren  die  Haare 
ebenfalls  in  gleichmäßige  Locken  aufgeteilt  und 
hingen  über  beide  Ohren  herab,  was  mich  fast 
an  den  Stil  von  van  Dykes  Frauenporträts 
erinnerte.  Die  Anordnung  der  Locken  ließ  die 
Stirn  hoch  genug  erscheinen,  daß  man  auf  eine 
gute  Portion  Intellekt  schließen  konnte.  Dieser 
Eindruck  wurde  künstlich  verstärkt  durch  die 
Sitte,  das  Haar  bis  ein  Inch  über  dem  natür= 
liehen  Ansatz  abzurasieren.  Bei  manchen  waren 
an  Stelle  von  Locken  7 bis  8 Perlenschnüre  sorg= 
fähig  auf  dem  Vorderteil  des  Kopfes  befestigt. 


63 


Sie  waren  einzeln  hinter  den  Ohren  herum» 
geführt,  und  ihre  Enden  hingen  bis  auf  die 
Schultern. 

Dieser  einzigartige  ornamentale  Kopfschmuck 
^vurde  überragt  von  einem  flachen  Hut  mit 
schmaler  Krempe,  der  wiederum  umrahmt  war 
von  einem  merkwürdigen  Flechtwerk  aus  Blät= 
tern,  Tierknochen  und  weißen  und  roten  Federn, 
von  denen  die  letzteren  aussahen,  als  habe  man 
sie  in  das  Blut  eines  sterbenden  Tieres  getaucht. 
Nacken  und  Arme,  Oberkörper  und  Beine  von 
den  Knien  an  waren  umschlungen  mit  Bändern 
und  Perlenschnüren  mit  den  eingeflochtenen 
Wirbeln  kleiner  Schlangen.  Überdies  trugen  sie 
lange  Bärte.  Diese  rieben  sie  — ob  aus  Gründen 
der  Etikette  oder  als  Dankbarkeitsbezeigung, 
war  nicht  zu  erkennen  — an  den  Bärten  der= 
jenigen  unter  uns,  die  auch  einen  trugen. 

Wir  zeigten  ihnen  unser  Schiff,  unser  Vieh, 
ließen  die  Bordkapelle  spielen,  und  nachdem  sie 
alles  mit  Staunen  und  kindlicher  Freude  unter» 
sucht  hatten,  verließen  sie  das  Schiff  zufrieden 
und  in  bester  Stimmung." 

1810  als  Seeoffizier  erblindet 

Ist  es  denkbar,  daß  eine  so  ungemein  farbige, 
ganz  auf  das  Auge  bezogene  Beschreibung  von 
einem  völlig , Erblindeten  stammt?  Und  es  ist 
in  der  Tat  so;  James  Holman,  geboren  am 
15. 10. 1786  in  Exeter,  trat  als  junger  Kadett 
im  Jahre  1798  in  die  britische  Marine  ein.  Im 
Englisch=Französischen  Krieg  wurde  er  1810  ver» 
wundet  und  verlor  sein  Augenlicht  völlig.  Aber 
der  junge  Seeoffizier  verlor  nichts  von  seinem 
Lebensmut.  Schon  einige  Jahre  nach  seiner  Er» 
blindung  unternahm  er  weite  Reisen  durch 
Europa  (z.  B.  in  den  Jahren  181g  bis  1821  Frank» 
reich,  Italien,  die  Schweiz  und  Holland),  worüber 
er  in  seinem  ersten,  1822  erschienenen  Buch 
berichtete.  Schon  als  Sehender  hatte  er  große 
Seereisen,  vor  allem  in  amerikanischen  Gewäs» 
sern,  gefnacht,  und  ihm  kam  zugute,  was  noch 
heute  jedem  Kriegsblinden  zugute  kommt:  die 
Herkunft  aus  der  Welt  des  Sehens,  die.  Erinne» 
rung  an  das  Geschaute  und  damit  ein  gutes 
Vorstellungsvermögen.  Er  lebte,  wie  es  auch 
heute  jeder  Kriegsblinde  versucht,  weiterhin 
in  der  Welt  der  Sehenden. 

Spionageverdacht  der  Russen 

Sein  erster  Versuch,  die  ganze  Welt  zu  um» 
reisen,  scheiterte  schon  damals  in  einem  Land, 
das  heute  noch  immer  nicht  für  Reisende  beson» 
ders  zu  empfehlen  ist,  nämlich  in  Rußland. 
Etwa  1000  Meilen  hinter  Smolensk  verhaftete 
man  den  Blinden  und  bezichtigte  ihn  der 
Spionage  für  England.  Er  wurde  gewaltsam  an 
die  Westgrenze  zurückgebracht  und  kehrte 
durch  Österreich,  Sachsen,  Preußen  und  Han» 
nover  nach  England  zurück.  Diese  mißglückte 
Reise  beschrieb  der  Unermüdliche  in  einem  zu 
seiner  Zeit  aufsehenerregenden  Buch  „Reise 
durch  Rußland"  1825. 

Bald  darauf  gelang  ihm  aber  der  große  Plan, 
wenn  er  auch  fünf  Jahre  dazu  brauchte:  er 


reiste  um  die  Welt.  Er  umschiffte  Afrika,  durch» 
wanderte  große  Teile  von  Indien,  drang  so  weit 
in  China  vor,  als  man  es  ihm  gestattete,  be= 
suchte  im  Sommer  1831  Australien,  dann  das 
amerikanische  Festland  und  kehrte  1832  nach 
England  zurück.  In  nicht  weniger  als  sechs  Bän» 
den  beschrieb  er  seine  Erlebnisse.  Zehn  Jahre 
später  war  er  auf  dem  Balkan,  zuvor  — aus  der 
Beschreibung  davon  drucken  wir  hier  Abschnitte 
ab  — auf  Madeira  und  Teneriffa,  kurz,  Holman 
war  ein  Reisender  aus  Leidenschaft  und  dazu 
ein  geschickter  und  fleißiger  Schriftsteller. 

Als  James  Holman  am  27.  7. 1857  in  London 
starb,  konnte  er  vielleicht  nicht  von  sich  sagen, 
daß  er  viel  in  der  Welt  gesehen  hätte,  aber 
er  hatte  die  Welt  erlebt  und. einen  erstaunlichen 
Beweis  seines  Lebensmutes  erbracht. 

„Es  hat  doch  für  Sie  keinen  Zweckt“ 

Was  mir  beim  Blättern  in  dem  vergilbten 
Buch  von  der  Madeirareise  Holmans  auffiel  und 
was  mich  veranlaßte,  mich  mit  diesem  be= 
wundernswerten  Kriegsblinden  zu  beschäftigen, 
waren  einige  Abschnitte  aus  der  Einleitung  des 
1.  Kapitels;  hier  lernen  wir  Holmans  persön» 


liehe  Einstellung  zu  seinem  Schicksal  kennen, 
und  es  ist  merkwürdig:  ein  Kriegsblinder,  der 
in  unserer  Gegenwart  diese  Worte  Holmans 
hört,  wird  sie  gern  unterschreiben.  Holman 
schreibt  dort: 

„Ich  glaube,  die  Leidenschaft  für  das  Reisen 
ist  manchen  Naturen  angeboren.  Jedenfalls 
kenne  ich  selbst  den  Wunsch,  ferne  Länder  zu 
erforschen,  von  frühester  Jugend  an.  Es  lockte 
mich,  den  Einflüssen  des  Klimas,  der  Gebräuche 
und  Gesetze  auf  die  Spur  zu  kommen,  die  all 


64 


James  Holman  (1786 — 1857)  trat  1798  in  die 
britische  Marine  ein  und  verlor  als  junger 
24jähriger  Offizier  im  Kriege  sein  Augenlicht. 
Trotz  seiner  Erblindung  machte  er  viele  große 
Reisen,  darunter  auch  eine  mehrjährige  Reise 
rund  um  die  Erdkugel.  Er  schrieb  viele  Bücher, 
die  ihn  zu  einem  der  beliebtesten  Reiseschrift- 
steller seiner  Zeit  machten.  Auf  unserem  Bild 
hat  er  eine  der  frühesten  Schreibtafeln  für 
Blinde  vor  sich. 

die  verschiedenen  Lebensformen  gestalten  hal= 
fen,  mit  unermüdlicher  Sorgfalt  die  Unter= 
schiede  zu  untersuchen,  die  die  Nationen  der 
Erde  voneinander  trennen  Ich  glaube  daran, 
da(3  eine  weise  und  gütige  Vorsehung  meine 
Fähigkeiten  und  Kräfte  in  diese  Richtung  lenkte, 
als  zu  einer  Quelle  des  Trostes  in  dem  schweren 
Los,  von  den  Freuden  und  Schönheiten  der 
sichtbaren  Welt  abgeschlossen  zu  sein.  Die 
dauernde  Beschäftigung  des  Geistes,  die  An= 
regung  seelischer  und  körperlicher  Betätigung 
tragen  zur  Verminderung,  ja  zur  Überwindung 
des  Gefühles  bei,  etwas  zu  entbehren  und  ver= 
loren  zu  haben.  Dieses  Gefühl  hätte  mich  ohne 
Zweifel  niedergedrückt,  während  die  BefriedU 
gung  meiner  Reiseleidenschaft  kaum  Zeit  zum 
Verzagen  läßt,  sondern  im  Gegenteil  lauter 
Freude  bringt. 

Als  ich  in  die  Marine  eintrat,  fühlte  ich  den 
unwiderstehlichen  Drang,  so  viel  von  der  Erde 
zu  sehen,  als  ich  irgend  konnte.  Ich  wollte  nicht 
ruhen,  bis  mir  die  Umsegelung  der  ganzen 
Welt  gelungen  wäre.  Aber  im  Alter  von  24  Jah= 
ren,  mitten  in  den  starken,  frischen  und  frohen 
Enthusiasmus  meiner  Jugend  hinein,  traf  mich 
das  Unglück.  Ich  kann  nicht  beschreiben,  wie 
mir  zumute  war,  als  man  mir  sagte;  daß  ich 


wahrscheinlich  das  Augenlicht  verlieren  würde. 
Die  Zeit  der  Ungewißheit  war  am  schwersten, 
und  ich  bat  meine  Ärzte,  mir  auch  das  Schlimmste 
nicht  zu  verschweigen.  Ihre  Antwort  erleichterte 
mich,  anstatt  meine  Bedrücktheit  zu  vergrößern. 
Ich  konnte  mich  nun  keinen  falschen  FIoffnun= 
gen  mehr  hingeben. 

Immerhin  war  meine  Gesundheit  damals  so 
angreifbar,  mein  Sinn  so  bedrückt  und  ängstlich, 
daß  ich  gar  nicht  auf  den  Gedanken  gekommen 
wäre,  jemals  mein  Land  allein  verlassen  zu 
können.  Aber  mit  der  Rückkehr  von  Kraft  und 
Gesundheit,  mit  der  Notwendigkeit,  sich  auf 
einen  Punkt  zu  konzentrieren,  überkam  mich 
meine  alte  Leidenschaft.  Allein  und  blind  wagte 
ich  *mich  auf  meinen  gefährlicheri  und  un= 
gewöhnlichen  Weg,  und  ich  kann  nicht  zurück^ 
blicken  auf  all  die  Szenen,  die  mich  umgaben, 
all  die  merkwürdigen  Entdeckungen  und  Um= 
stände,  die  mir  vertraut  wurden,  ohne  ein  leb= 
haftes  Gefühl  der  Dankbarkeit  für  die  gütige 
Fügung  des  Allmächtigen,  der  mich  das  größte 
menschliche  Unglück  überwinden  ließ  durch 
Erfüllung  meines  größten  Wunsches. 

Wenn  Sie  mich  fragen,  welche  Vergnügen 
denn  der  angeblich  stärkende  Geist  des  Reisens 
einem  Mann  in  meiner  Lage  bringen  könne, 
dann  möchte  ich  Sie  fragen:  Wer  könnte  sein 
Leben  ertragen  ohne  einen  Sinn,  ohne  das 
Streben  nach  einem  Ziel,  dessen  Erreichung  all 
seine  seelischen  Kräfte  zu  gesunder  Aktivität 
aufruft?  Ich  wüßte  nicht,  was  aus  mir  hätte 
werden  sollen,  wenn  mein  Verlangen,  dieses 
Ziel  zu  erreichen,  enttäuscht  worden  wäre. 

Man  fragt  mich  immer  wieder,  und  ich  möchte 
es  hier  ein  für  allemal  beantworten,  was  es 
denn  für  einen  Zweck  hätte  zu  reisen,  wenn 


5 


65 


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Sicherheit  und  Selbstvertrauen 


66 


man  nichts  sieht.  Meinen  Sie  wirklich,  jeder 
Reisende  hätte  gesehen,  was  er  beschreibt? 
Sogar  Humboldt  selbst  griff  auf  die  Beobachtun» 
gen  anderer  zurück.  Es  stimmt,  daß  mir  alles 
Bildhafte  in  Natur  und  Kunst  verschlossen  ist. 
Aber  vielleicht  stärkt  dieser  Umstand  den  Sinn 
für  das  Besondere.  Man  unterscheidet  und 
untersucht  genauer  und  feiner,  als  ein  gewöhn» 
lieber  Reisender  für  nötig  hält,  dem  der  ober» 
flächliche  Blick  genügt  und  der  sich  mit  dem 
ersten  geschauten  Eindruck  zufrieden  gibt.  Ich 
bin  gezwungen,  alles  einzeln  zu  erforschen  und 
zu  erfragen,  und  komme  durch  geduldiges 
Untersuchen,  durch  Anregungen  und  Beleh- 
rungen zu  gründlicherer  Kenntnis  als  manche 
anderen  Reisenden.  Meine  Blindheit  bewahrt 
mich  vor  übereilten  und  ungerechten  Schlüssen. 

Obwohl  ich  mir  mein  Augenlicht  natürlich 
zurückwünsche,  glaube  ich  doch  nicht  weniger 
interessante  Punkte  auf  meinen  Reisen  aufzu- 
suchen als  die  Mehrzahl  meiner  Zeitgenossen. 
Glauben  Sie  mir,  das  ist  das  Geheimnis  meiner 
Freude  am  Reisen.  Es  gibt  mir  den  dauernden 
Trost  geistiger  Betätigung  und  reizt  mich  zu 
physischer  Anstrengung." 

Der  heitere  Handel  der  Sierra  Leone 

Zum  Abschluß  sei  noch  ein  besonders  hüb- 
scher Abschnitt  wiedergegeben,  mit  dem  Hol- 
man  seltsame  Handelssitten  erzählt: 

Der  Handel  der  Sierra  Leone  mit  dem  Hinter- 
land erstreckt  sich  hauptsächlich  auf  die  Foulahs 
und  dieMandingos.  Sie  bringen  Gold  in  kleinen 


Selbst  beim  Sackhüpfen  müssen  die  Frauen  ein  wenig  den  Steuermann  spielen,  damit  es 
keine  Karambolagen  gibt.  Bei  den  Kameradschaftsfesten  der  Kriegsblinden  geht  es  immer 
sehr  lustig  her.  Hier  geben  sich  auch  jene,  denen  ihr  Schicksal  schwer  zu  schaffen  macht, 
fj^i  und  unbefangen,  weil  sie  hier,  im  Kreis  der  Kameraden,  weder  angestaunt  noch  bemit- 
leidet werden.  ^ ^ * 

Foto:  Neven-du  Mont 


5* 


67 


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Mengen  und  tauschen  es  gern  gegen  europäische 
Artikel.  Ihre  Art  zu  reisen  ist  nicht  wenig  sclt= 
sam.  Zuerst  wählen  sie  unter  sich  einen  Führer, 
der  für  die  ganze  Expedition  verantwortlich 
ist.  Dann  machen  sie  sich  auf  den  Weg,  min= 
destens  sechs,  manchmal  aber  bis  dreißig  oder 
mehr  an  der  Zahl.  Jeder  trägt  auf  dem  Kopf 
eine  Art  Korb  mit  seinem  Hemd,  einem 
Flaschenkürbis  und  einer  Schaffelltasche,  die 
den  Koran,  etwas  Reis,  Brot,  Messer,  Schere 
und  ähnliche  nützliche  Dinge  enthält.  Zwischen 
all  diese  Dinge  stecken  sie  ihr  Beutelchen  mit 
Gold.  Sie  verschließen  die  Tasche,  indem  sie 
die  Schmalseiten  des  korbähnlichen  Gebildes 
aufeinanderlegen  und  das  Ganze  mit  einem 
starken  Strick  zusammenbinden,  den  sie  aus 
Gras  machen.  Auf  den  Korb  legen  sie  lose 
Bogen  und  Köcher  für  den  Fall,  daß  sie  unter» 
Wegs  von  wilden  Tieren  im  Walde  oder  von 
einem  der  Stämme  angegriffen  werden,  durch 
deren  Gebiet  sie  ihr  Weg  führt.  Außerdem 
tragen  sie  eine  Art  Speer  aus  einem  langen 
Bambusstab  mit  Eisenspitze  und  eine  Art 
Messer  oder  Schwert,  das  sie  mit  Hilfe  eines 
Riemens  um  den  Arm  schlingen.  Unterwegs 
leben  sie  hauptsächlich  von  den  wilden  Früchten 
des  Landes,  gelegentlich  erhalten  sie  auch  etwas 
in  den  Dörfern,  durch  die  sie  kommen.  Sie 


Eine  Liebkosung,  die  man  gut  verstehen  kann!  Das  Fohlen  spürt  genau,  daß  es  einen  treuen 
und  sachverständigen  Herrn  hat:  Und  der  kriegsblinde  Bauer  beschäftigt  sich  besonders 
gern  mit  dem  Vieh,  weil  seine  Hand  warmes  Leben  fühlt.  So  wird  für  ihn  sogar  das  Pferde- 
putzen zur  Freude.  Foto:  Dau 


laufen  nur  zwischen  6 und  lo  Uhr  morgens  und 
zwischen  2 und  6 Uhr  am  Nachmittag. 

Wenn  sie  endlich  in  Freetown  angelangt  sind, 
drücken  sie  sich  erst  einmal  zwei  Tage  in  der 
Stadt  umher,  um  die  Goldpreise  herauszu» 
bekommen.  Dabei  sind  ihnen  ihre  Landsleute 
behilflich,  die  schon  länger  in  der  Stadt  leben 
und  etwas  Englisch  können.  Diese  Leute  be> 
streiten  ihren  Lebensunterhalt  davon,  daß  sie 
alle  anderen  betrügen,  die  armen  Wanderer 
ebenso  wie  die  reichen  Kaufleute. 

Der  Handel  selbst  dauert  drei  bis  vier  Tage. 
Danach  denken  sie  aber  nicht  etwa  daran,  die 
Kolonie  schon  wieder  zu  verlassen.  Sie  treiben 
sich  in  den  Straßen  umher,  schauen  hier  herein, 
befühlen  da  die  ausgelegten  Waren,  und  zwei 
oder  drei  Tage,  bevor  sie  endlich  abziehen,  ver= 
kündet  die  ganze  Gesellschaft  allenthalben,  daß 
sie  sich  nun  auf  den  Rückweg  mache.  Das  ist 
ein  Wink  mit  dem  Zaunpfahl  und  soll  heißen, 
daß  man  nun  Geschenke  für  sie  bereitlegen 
möge.  Wenn  man  ihnen  nichts  gibt,  halten  sie 
einem  folgende  Rede: 

„Mein  Freund",  sagt  einer,  fügt  den  Namen 
des  Kaufmanns  hinzu,  breitet  mit  großer  Geste 


Ahl  MEINE  FRAU 


Du  kamst  zu  mir,  als  Dunkel  um  mich  war 
und  ich  in  Kälte  einsam  irre  ging. 

Jetzt  ist  mein  Leben  reich  und  warm  und  klar, 
und  alle  Not  ward  mir  durch  dich  gering. 

Du  trägst  mit  mir  und  für  mich  manche  Last, 
und  manch  ein  Schmerz  um  mich  und  durch 
mich  schlug  dich  wund. 

Karg  leuchtet  dir  der  Freude  Glast, 
dir,  die  ein  Herz  voll  Hoffen  zu  mir  trug. 

BODO  SCHÜTZ 


die  Arme  aus  und  streckt  die  Hände  von  sich, 
„seht  Ihr  meine  Hände?  Seht  Ihr,  daß  sie  leer 
sind?  Ganz  leer!  Wenn  ich  in  mein  Land  zurück» 
komme,  werden  mich  meine  Leute  fragen,  ob 
ich  nicht  den  großen  Kaufmann  gesehen  habe. 
Und  das  wird  bedeuten:  wo  hast  du  seine 
Geschenke?  Oh,  wenn  sie  sehen,  daß  meine 
Hände  leer  sind,  werden  sie  mich  einen  Lügner 
heißen,  denn  sie  werden  niemals  glauben,  daß 
der  große  Kaufmann  irgend  jemand  mit  leeren 
Händen  gehen  läßt.  Ich  bin  von  meinem  Lande 
hergewandert,  nur  um  Euch  zu  sehen,  nur  zu 
Euch  bin  ich  gekommen.  Gewiß,  ich  habe  dies» 
mal  nur  wenig  gebracht,  aber  wenn  ich  zurück» 
komme  zu  meinen  Leuten  und  ihnen  sage:  ich 
*war  bei  dem  großen  Kaufmann,  seht  hier  die 
Geschenke,  die  ich  von  ihm  bekommen  habe  — 
o glaubt  mir,  dann  werden  alle  kommen 
und  Euch  Ware  bringen,  soviel  Ihr  nur  wollt." 

Das  endet  natürlich  regelmäßig  mit  einem 
Geschenk,  und  die  habgierigen  afrikanischen 
Händlerseelen  sind  versöhnt  und  strahlen. 

(Übersetzungen:  Helga  Jahr) 


Die  Pferde  kennen  ihren  Herrn.  Mit  kundi- 
ger Hand  schirrt  er  sie  trotz  seiner  Erblindung 
an.  Foto  (2):  Engert 


Das  Füttern  der  Kühe  ist  seine  Sache.  So 
macht  sich  ein  kriegsblinder  Bauer  in  Königs, 
brunn  bei  Augsburg  auf  seinem  Hof  trotz  sei- 
nes Alters  immer  noch  nützlich. 


69 


Kriegsblinde  erzählen: 

Ein  seltsamer  Grenzausweis 


Es  sei  hier  ein  halb  komisches,  für  manchen 
Leser  vielleicht  auch  halb  gruseliges  Abenteuer 
erzählt: 

Anfang  1946  war  ich  zur  blindentechnischen 
Grundausbildung  in  einem  Heim  an  der  thü« 
ringisch=bayerischen  Zonengrenze.  Nach  dort 
war  ein  Teil  der  Silex=Schule  -aus  Berlin  ver» 
lagert  worden.  Da  die  Schule  mit  Kriegsblinden 
nicht  voll  ausgelastet  war,  wurden  auch  Arm» 
amputierte  zur  Umschulung  auf  neue  Berufe 
dorthin  entsandt.  Dies  war  gerade  für  uns 
Kriegsblinde  insofern  recht  angenehm,  als  wir 
nun  Kameraden  hatten,  die  uns  etwas  vorlesen 
und  uns  helfen  konnten  und  nicht  zuletzt:  die 
mit  uns  in  den  nahegelegenen  Wäldern  spa» 
zierengehen  konnten,  denn  es  stand  nur  eine 
einzige  Schwester  zur  Betreuung  zur  Ver» 
fügung,  und  wir  waren  zehn  Blinde. 

Da  es  zu  jener  Zeit  noch  keine  Ausweise 
gab,  stellte  unsere  Schule  vorläufige  Personal» 
ausweise  aus,  die  auch  von  den  Behörden  — 


und  selbst  von  der  dortigen  russischen  Orts» 
kommandantur  — anerkannt  wurden.  Dies  war 
sehr  wichtig,  denn  einige  hundert  Meter  hinter 
unserem  Heim  verlief  im  Wald  die  Zonen» 
grenze. 

Nun  geschah  es  eines  Tages  wieder,  daß  sich 
ein  Armamputierter  einen  Kriegsblinden  unter 
den  verbliebenen  Arm  klemmte  und  sie  in  den 
Wald  spazierengingen.  Sie  genossen  so  recht 


den  herrlichen  Vorfrühling.  Die  Freude  wurde 
aber  nach  kurzer  Zeit  jäh  unterbrochen  durch  ein: 
„Stoi!"  Hinter  einem  Busch  trat  ein  russischer 
Posten  hervor  und  verlangte  „Dokumenti", 
also  die  Personalausweise. 

Der  Armamputierte  griff  in  die  Tasche,  holte 
den  Ausweis  der  Schule  hervor,  und  die  Sache 
war  „karosch".  Aber  — o Schreck!  Der  Blinde 
hatte  seinen  Ausweis  zu  Hause  gelassen.  Es 
entspann  sich  das  übliche  Kauderwelsch  mit 
Zeichensprache,  wie  es  üblich  ist,  wenn  keiner 
des  anderen  Sprache  beherrscht.  Alles  nützte 
nichts.  Der  Posten  verlangte,  daß  der  Blinde 
mit  zur  Kommandantur  sollte,  während  der 
Armamputierte  gehen  konnte. 

Da  kam  dem  Kriegsblinden  im  letzten 
Augenblick  eine  rettende  Idee.  Er  griff  hoch, 
nahm  seine  beiden  Glasaugen  heraus  und  hielt 
sie  dem  Soldaten  auf  der  flachen  Hand  entgegen. 
Da  hörte  er  auf  einmal  nur  noch  ein  schallen» 
des  Gelächter  und  brechende  Zweige.  Der  Soldat 
war  so  erschrocken,  daß  er  mit  schlotternden 
Knien  das  Weite  suchte,  als  sei  der  leibhaftige 
Teufel  hinter  ihm  her.  Diese  Augensprache 
hatte  er  verstanden,  hier  war  kein  weiterer 
Ausweis  mehr  nötig.  J.  Hirthammer 

Keiner  traute  sich  . . . 

Eine  kleine  Erinnerung 

Im  Mai  1944  wurde  ich  verwundet  und  verlor 
dabei  mein  Augenlicht.  Vom  Lazarett  aus 
wurde  ich  auf  unbestimmte  Zeit  in  meine  Hei» 
mat  beurlaubt.  Unser  Dorf  hatte  mehrere  hun» 
dert  Einwohner,  jeden  kannte  ich.  Meine  Eltern 
waren  sehr  erschüttert  über  mein  Los,  aber 
schlimmer  erging  mir  das  mit  meinen  Bekann» 
ten  und  allen  Ortseinwohnern.  Eines  Tages 
machte  ich  mich  auf,  um  einen  Spaziergang 
durch  unseren  Ort  zu  machen,  in  dem  ich  jeden 
Weg  und  Steg  kannte.  Aber  es  war  alles  wie 
ausgestorben.  Wohl  hörte  ich  von  weitem 
flüstern,  aber  wie  ich  näher  kam,  wurde  alles 
still,  und  man  ließ  mich  ruhig  vorbeiziehen. 
Obwohl  mich  jeder  kannte,  getraute  sich  kei» 
ner,  mich  anzüsprechen.  Mir  wurde  es  langsam 
unheimlich  zumute,  es  kam  sogar  so  weit,  daß 
man  mich  gegen  eine  offene  Tür  laufen  ließ, 
obwohl  Menschen  in  der  Nähe  waren. 


Seit  1866 


Wollstoffe  für  Damen-  und  Kinderkleidung 


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70 


Dieses  übergroße  Mitleid  ging  mir  auf  die 
Nerven,  bis  es  mir  gelang,  den  Kontakt  selbst 
herzustellen.  Die  Gelegenheit  bot  sich  beim 
Kaufmann.  Ich  trat  ein  mit  einem  lauten 
„Guten  Morgen",  und  zögernd  wurde  mir  ge= 
dankt.  Da  fragte  ich:  „Sagt  mal,  trauert  ihr 
schon  um  mich,  so  wie  ihr  seht,  lebe  ich  ja 
noch."  Und  dann,  nach  einem  guten  Witz, 


kamen  wir  sehr  gut  ins  Gespräch.  Von  dieser 
Zeit  an  wurde  das  Verhältnis  zu  den  Sehenden 
von  Tag  zu  Tag  besser.  Ich  wurde  nun  auch 
des  öfteren  eingeladen,  und  alle  Menschen 
kommen  mir  freundlich  und  ohne  Scheu  ent= 
gegen.  Es  machte  mir  nun  auch  wieder  Freude, 
in  unserem  Ort  zu  leben,  und  ich  trug  mein 
Schicksal  leichter,  Artur  Birr 


Einer  von  Tausenden  erzählt 

Der  Weg  ins  Dunkle  und  der  Weg  zurück  ins  Leben 


1942.  Der  Rückzug  aus  dem  Kaukasus  war 
beendet  und  der  Kuban=Brückenkopf  gebildet. 
Wir  sollten  uns  in  einem  herrlich  gelegenen 
Weinort  von  den  schweren  Rückzugskämpfen 
erholen.  Wir  taten  das  um  so  lieber,  als  wir 
hörten,  daß  sich  in  diesem  Ort  eine  große 
Sektkellerei  mit  riesigen  Vorräten  befinde. 
Aber  — kaum  hatten  wir  uns  häuslich  ^n» 
gerichtet,  kaum  einmal  den  russischen  Sekt 
probiert,  uns  kaum  zur  Ruhe  begeben,  als  wir 
auch  schon  wieder  mitten  in  der  Nacht  alar» 
miert  wurden.  Wir  hatten  uns  zu  früh  gefreut! 
Irgendwo  im  Rücken  unserer  Kaukasusfront 
sei  es  dem  Gegner  bei  Nacht  und  Nebel  gelun» 
gen,  einen  Landekopf  zu  bilden,  so  hörten  wir. 
Nach  einem  Tagesmarsch  waren  wir  da,  und 
in  der  folgenden  Nacht  lösten  wir  eine  aus» 
geblutete  Panzereinheit  ab. 

Es  war  eine  herrliche,  sternklare  Vollmond» 
nacht.  Es  war  so  hell,  daß  man  mühelos  lesen 
konnte,  und  es  war  ein  herrlicher  Fleck,  diese 
Bucht  von  Noworossijsk,  aber  auch  ein  sehr 
gefährlicher.  Zwar  war  das  Meer,  dicht  halb» 
links  von  uns,  seltsam  glatt  und  friedlich. 
Dunkel  und  geheimnisvoll  lag  das  Wasser  im 
Mondlicht,  dazu  links  von  uns  die  schroffen, 
kahlen  Gebirgsrücken  des  Kaukasus.  Ich  nahm 
das  großartige  Bild  dieser  nächtlichen  Land» 
Schaft  tief  in  mich  auf,  als  ob  ich  ahnte,  daß 
es  der  letzte  Blick  auf  die  Schönheit  dieser 
Welt  sein  sollte. 

Jede  Deckung,  den  kleinsten  Schatten  aus» 
nützend,  jedes  Geräusch  vermeidend,  krochen 
Wir  in  das  Schützenloch,  das  Fritz  Menzer  und 
mir  zugewiesen  wurde.  Direkt  vor  uns  im 
nächsten  Haus,  kaum  40  Meter  entfernt,  saß 
der  Gegner.  Ab  und  zu  ein  Feuerstoß  von 
drüben  . . . unwillkürliches  Ducken  . , . das 
Zischen  der  Leuchtspurgeschosse  über  uns  hin» 


weg.  Ab  und  zu  ein  Granatwerfereinschlag  in 
der  Nähe.  Leuchtspurgranaten  gurgelten  und 
rauschten  nach  drüben  und  schlugen  mit  lautem 
Krach  ein.  Die  Splitter  surrten  bis  zu  uns  her» 
über.  Dann  wieder  die  Antwort  der  Russen. 
Kurz  — das  Übliche.  Die  erste  Nacht  in  einer 
neuen  Stellung.  Und  über  all  dem  Grausigen 
wölbte  sich  der  majestätische  Sternenhimmel. 
Noch  heute  ist  mir  dieser  Anblick  unvergeß» 
lieh:  die  flimmernden,  glitzernden  Sterne  mit 
dem  stillen,  freundlich  lächelnden  Mond. 

Opfer  der  eigenen  Artillerie 

Stündlich  lösten  wir  beide  uns  am  MG.  ab. 
Schon  fingen  die  Sterne  an  blasser  zu  werden. 
Der  Tag  war  nicht  mehr  weit.  Wieder  hörte 
ich  hinter  mir  Abschüsse  de  eigenen  Artillerie. 
Die  Granaten  schlugen  drüben  ein,  doch  einige 
krepierten  rechts  von  mir  dicht  bei  einem  SMG. 
der  4.  Kompanie.  Ich  dachte  wütend:  Die 
Eigenen,  diese  Esel,  die  schießen  ja  zu  kurz! 
Ich  setzte  sofort  meinen  Stahlhelm  auf  und 
duckte  mich  tief  in  unser  Felsenloch.  Da  hörte 
ich  schon  die  nächsten  Abschüsse  hinter  mir. 
Ich  hatte  es  gleich  im  Gefühl:  „Die  nächste 
kommt  hierher",  und  im  nächsten  Augenblick 
schon  spürte  ich  einen  Schlag  am  Kopf.  Die 
Luft  blieb  mir  weg.  Dabei  war  es  plötzlich  um 
mich  her  stockfinster.  Mein  erster  Gedanke 
war:  Mich  hat’s  erwischt,  jetzt  ist  es  aus!  Ich 
riß  meine  Augen  auf,  versuchte  zu  meinem 
Kameraden  hinüberzublicken,  aber  vergeblich! 
Ich  führ  mit  der  Hand  ins  Gesicht,  wollte  die 
Augen  auswischen,  da  spürte  ich  Schmutz, 
klebrige  Flüssigkeit . . . 

„Fritz!  Fritz!"  rief  ich,  und  nochmals  „Fritz!" 
Was  war  das?  Ich  hörte  meine  eigene  Stimme 
nicht.  Hatte  ich  meine  Stimme  verloren,  oder 
hörte  ich  nichts  mehr?  Endlich  konnte  ich  wie» 


PjSrfeIt><M*fer 

^wenfenf 

Düsseldorfer  Senf  Industrie 

Düsrt'ldorf  • Otto  Frenze!  • l'rl.  I 2.'i.53;'56  ■' 


71 


Kegelklub  der  Kriegsblinden 


Noch  etwas  erschöpft  und  mitgenommen 
vom  heißen  Kampf  zeigt  uns  der  Kriegsblinde 
Hans  Lindner  das  Tischbanner  des  Kegel- 
klubs „Kameradschaft“.  Er  gründete  diesen 
Klub,  dem  nur  Düsseldorfer  Kriegsblinde  an- 
gehören, vor  25  Jahren.  „Wir  Kriegsblinden 
lassen  uns  die  Freude  am  Dasein  nicht  neh- 
men“. sagt  er,  „trotz  allem!“ 

der  freier  atmen,  und  da  hörte  ich  auch  meinen 
Kameraden:  „Menschenskind,  wie  siehst  du 
aus!  Du  hast  ja  nur  noch  den  Korb  von  deinem 
Stahlhelm  auf  dem  Kopf!  Und  dein  Gesicht!" 
Ja,  mein  Gesicht  brannte  auch  wie  höllisch 
Feuer,  und  ich  fühlte  das  warme  Blut  über  Ge= 
sicht  und  Hals  herunterlaufen  . . . 

Wiederum  riß  ich  die  Augen  auf  und  ver= 
suchte,  mich  umzublicken,  an  mir  herunter* 
Zusehen,  aber  tiefe  Dunkelheit  um  mich.  Kein 
Mond,  kein  Sternenhimmel,  älles  um  mich  in 
tiefster  Nacht!  Da  packte  mich  eine  unsinnige 
Angst,  und  ich  beschwor  meinen  Kameraden: 
„Fritz,  Fritz,  schnell!  Bring  mich  schnell  nach 
hinten  zum  Arzt!  Gleich  wird  es  hell,  und  dann 
können  wir  nicht  mehr  weg  von  hier!" 

Schlimme  Minuten 

„Ich  kann  das  MG.  nicht  verlassen,  ich  darf 
es  nicht!"  hielt  mir  Fritz  entgegen.  Doch  dann 
stellte  er  fest:  „Das  MG.  ist  kaputt  samt  der 
Munition,  auch  die  Handgranaten  sind  los* 
gegangen!"  Also  konnte  er,  nachdem  er  den 
Nachbarposten  verständigt  hatte,  mich  am  Arm 
packen  und  mich  ein  kleines  Stück  zurück  füh= 
ren.  Aber  er  fand,  behindert  durch  mich,  den 
Kompanie=Gefechtsstand  nicht.  Er  mußte  mich 
stehenlassen  und  allein  weitersuchen.  Er  hole 
mich  ab,  versprach  er.  So  stand  ich  nun  ganz 
allein  da,  irgendwo,  ohne  jede  Deckung,  ohne 
zu  wissen,  wo  vorn  und  wo  hinten  ist,  und 


wartete  und  wartete  auf  die  Rückkehr  meines 
Kameraden.  Dabei  fühlte  ich  das  Blut  ununter* 
brochen  herabtropfen.  Auch  an  meinem  rechten 
Arm,  das  spürte  ich  nun,  war  ich  verwundet. 

Wieder  packte  mich  die  Angst.  Wird  Fritz 
mich  wiederfinden?  Ist  ihm  etwas  zugestoßen? 
Wenn  der  Tag  anbricht,  stehe  ich  vielleicht  als 
Zielscheibe  da?  Ich  versuchte,  allein  zu  gehen, 
und  stolperte  ein  paar  Schritte  vorwärts.  Aber 
wohin?  Vielleicht  geradewegs  zum  Feind?  Ich 
kniete  mich  hin  und  wartete  weiter,  horchte  in 
die  Finsternis  hinein. 

Endlich,  nach  einer  halben  Ewigkeit,  kam 
Fritz  und  holte  mich.  Bald  darauf  brachte  mich 
ein  Melder  zum  Hauptverbandsplatz,  zum 
Arzt.  Mit  einer  fürchterlich  brennenden  Flüs* 
sigkeit  wurde  mir  das  Gesicht  abgewaschen. 
Beruhigend  klang  die  Antwort  auf  meine 
Frage,  was  mit  meinen  Augen  los  sei:  „Deine 
Nase  ist  noch  dran,  und  das  Sehen  kommt  auch 
wieder."  Ich  wurde  weiterbefördert  bis  zur 
nächsten  Bahnstation,  von  dort  mit  dem  Laza= 
rettzug  in  eine  Krankensammelstelle.  Flug= 
zeuge  sollten  uns  abholen.  Schon  wurden  wir 
in  Papiersäcke  verpackt  und  auf  den  Flugplatz 
gefahren,  aber  die  Ju.s  konnten  des  hohen 
Drecks  wegen  nicht  landen.  Also  mit  der  Bahn 
weiter,  wieder  ausgeladen,  wieder  warten  auf 
Flugzeuge.  Tage  vergingen,  und  ich  war  immer 
noch  nicht  in  augenärztlicher  Behandlung.  Als 
endlich  ein  Augenarzt  herbeigeholt  war,  machte 
der  zunächst  einen  mächtigen  Krach,  weil  man 
mich  solange  hatte  liegenlassen.  Er  leuchtete 
mir  mit  einer  Lampe  in  die  Augen,  und  wie 
freute  ich  mich:  als  er  ins  linke  Auge  leuchtete, 
sah  ich  plötzlich  Licht.  Wieder  kam  ich  in  ein 
anderes  Lazarett,  aber  noch  war  eine  Behänd* 
lung  der  Augen  nicht  möglich,  da  sie  dick  ver* 
schwollen  waren.  Aber  immerhin  kam  ich  zum 
ersten  Male  in  ein  richtiges  Bett.  Dann  noch  ein* 
mal  vergeblich  auf  den  Flugplatz,  bis  es  end* 
lieh  gelang.  Ich  wurde  nach  der  Krim  geflogen. 

Ich  weiß  nicht  mehr,  wie  viele  Tage  es  dauerte, 
bis  ich  endlich  von  einem  Lazarettzug  in  ein 
richtiges  Lazarett  gebracht  wurde,  tief  in  Ruß* 
land  noch,  aber  zu  einem  guten  Facharzt. 

„Ich  brauche  doch  keine  Blindenuhr!" 

Am  rechten  Auge  war  nichts  zu  heilen,  denn 
hier  war  der  Sehnerv  durchschossen,  aber  nach* 
dem  mir  aus  dem  linken  Augapfel  einige  Split* 
ter  herausgeschnitten  worden  waren,  konnte 
ich  sogar  durch  den  Verband  hindurch  eine 
Helligkeit  wahrnehmen,  wenn  das  elektrische 
Licht  im  Zimmer  eingeschaltet  wurde  oder 
wenn  mich  ein  Sonnenstrahl  traf. 

Als  ich  fieberfrei  war,  ging  es  mit  einem 
Kurierflugzeug  in  Richtung  Berlin  weiter.  Ich 
hatte  mir  früher  immer  gewünscht,  einmal  in 
solch  einem  Vogel  zu  sitzen  und  die  Welt  von 
oben  betrachten  zu  können.  Jetzt  war  es  so  weit, 
aber  — Ironie  des  Schicksals!  — ich  kam  ja 
dennoch  nicht  auf  meine  Kosten.  In  dem  Ber* 


7* 


liner  Lazarett  und  in  denkbar  bester  Pflege 
wuchs  meine  Hoffnung  von  Tag  zu  Tag,  bald 
wieder  sehen  zu  können,  denn  tatsächlich  nahm 
die  Helligkeit  vor  meinem  linken  Auge  zu. 

Eines  Tages  erhielt  ich  hier  den  Besuch  eines 
Herrn  Dann,  eines  Kriegsblinden  des  ersten 
Weltkrieges.  Er  überreichte  mir  im  Auftrag  der 
Deutschen  Kriegsblindenstiftung  eine  Blinden= 
uhr.  Ich  war  nicht  wenig  überrascht,  und  mir 
war  der  Vorgang  ganz  unverständlich.  Ich 
sagte:  „Ich  brauche  doch  keine  Blindenuhr,  ich 
kann  doch  bald  wieder  sehen!"  Der  Herr  be= 
ruhigte  mich;  ich  solle  die  Uhr  ruhig  nehmen; 
wenn  ich  wieder  sehen  könne,  solle  ich  sie  wie= 
der  zurückgeben. 

Dieser  Vorgang  machte  mich  doch  stutzig 
und  nachdenklich.  Als  ich  das  nächste  Mal  zur 
Untersuchung  in  die  Dunkelkammer  geholt 
wurde,  bat  ich  den  Arzt,  er  möchte  mir  rück= 
haltlos  die  Wahrheit  sagen.  Nach  einigem 
Zögern  sagte  er:  „Ihre  Augen  sind  sehr  schwer 
getroffen.  Man  hätte  es  vielleicht  mit  einer 
Operation  versuchen  können,  aber  Ihre  Augen 
sind  zu  schwer  getroffen ..." 

Der  Sturz  in  den  Abgrund 

Für  mich  fiel  die  Welt  ein!  Ich  drehte  mich 
um,  ließ  mich  auf  mein  Zimmer  bringen,  legte 
mich  ins  Bett  und  weinte,  weinte  wie  ein  klei= 


Manche  Kriegsblinde,  zumal  solche  mit 
Beinprothesen,  werfen  die  Kugel  aus  der 
Grätschstellung.  Das  erlaubt  auch  ein  sicheres 
Zielen. 


Gleich  kommt  der  große  Wurf  des  Abends!  Man  merkt  es  diesem  Kriegsblinden  an,  wie  er 
den  Abend  im  Kegelklub  der  Kriegsblinden,  genießt.  Fotos  (3);  BölU 


73 


die  Spitzenerzeugnisse 


aut  den  NIgrin-Werken  Carl  Centner 
Göppingen 


nes  Kind.  Das  war  mein  Todesurteil!  Hätte  ich 
noch  etwas  zum  Knallen  gehabt,  in  jener 
Stunde  hätte  ich  bestimmt  Schluß  gemacht.  Ich 
haderte  mit  Gott,  mit  der  Welt  und  vor  allem 
mit  mir  selber.  Warum  hatte  ich  in  jener  Nacht 
nur  den  Stahlhelm  aufgesetzt!  Ach,  hätte  ich 
es  doch  unterlassen!  Dann  wäre  ich  heute  weg 
von  dieser  Welt!  Was  konnte  das  Leben  noch 
für  einen  Wert  haben?  Ein  Dasein  in  Dunkel=> 
heit  schien  mir  unerträglich.  Es  schien  mir  ganz 
einfach  undenkbar,  dieses  Leben,  das  doch  kei» 
nes  mehr  war,  weiterzuführen. 

Doch  merkwürdig,  das  Leben  ging  weiter, 
auch  in  der  Finsternis.  Es  war  stärker.  Als  ein 
paar  Tage  später  der  Arzt  mich  aufforderte, 
täglich  eine  Stunde  aufzustehen,  da  fragte  ich 
mich  zwar:  W'as  soll  ich  denn  aufstehen?  Es 
hat  doch  keinen  Zweck!  Ich  kann  doch  keinen 


Schritt  allein  tun!  Doch  — Befehl  ist  Befehl,  und 
so  stand  ich  auf,  stand  an  meinem  Bett,  tastete 
mich  um  das  Bett  herum  und  nochmals  um  das 
Bett  herum,  dann  zum  Tisch  hin,  daran  entlang 
zum  Fenster,  zur  Türe  und  dann  zu  den  Betten 
der  Kameraden. 

Mein  erster  Orientierungsgang  ohne  fremde 
Hilfe!  Das  war  ein  überraschendes  Erlebnis. 
Man  konnte  also  auch  gehen,  ohne  zu  sehen? 
So  tastete  ich  am  nächsten  Tag  alle  Einrich= 
tungsgegenstände  ab  und  konnte  mir  bald  ein 
Bild  von  unserem  Zimmer  machen.  Der 
Aktionsradius  wurde  nach  und  nach  größer. 
Auch  über  die  Flure  suchte  ich  meinen  Weg 
selber.  „Immer  an  der  Wand  lang",  so  hieß 
nun  mein  Wahlspruch.  Mein  Selbstbewußtsein 
nahm  wieder  zu  und  damit  auch  mein  Lebens» 
Wille. 

Wir  „Blindgänger"  durchstreifen  Berlin 

Es  ist  wohl  einst  allen  Kriegsblinden  so  er» 
gangen  wie  mir,  daß  sie  nämlich  wie  ich  im 
Beisammensein  mit  Kameraden,  die  das  gleiche 
oder  ein  ähnliches  Los  trugen,  die  alte  Ruhe 
und  Heiterkeit  wiederfanden.  Besonders  war 
da  ein  Kamerad  namens  Eberling,  der  hatte 
nicht  nur  sein  Augenlicht,  sondern  auch  beide 
Hände  verloren.  Er  war  unter  uns  einer  der 
fidelsten  und  trug  sein  Geschick  mit  groß» 
artigem  Humor.  Wie  hilflos  war  er  doch,  er 
mußte  sich  ständig  von  fremden  Händen  hei» 
fen  lassen!  Da  verblaßte  mein  eigenes  Schick» 
sal. 

Meine  Wunden  heilten  allmählich  ab.  Nur 
die  Augen  begannen  zu  schrumpfen,  ich  konnte 
die  Augenlider  einfach  nicht  mehr  heben. 
Eines  Tages  war  es  so  weit,  daß  ich  meinen 
ersten  Ausgang  machen  durfte.  Andere  Karne» 
raden,  die  noch  einen  Sehrest  hatten,  nahmen 


Bei  ihrer  Ausbildung  wird  den  kriegsblinden  Masseuren  nichts  geschenkt.  Sie  haben  ein 
Jahr  hindurch  gewaltig  zu  pauken,  um  die  staatliche  Prüfung  bestehen  zu  können. 


74 


mich  in  die  Mitte,  und  hinaus  ging  es  wieder 
in  das  Leben.  Zuerst  allerdings  ging  es  zu 
einem  Optiker.  Eine  Brille  mußte  her!  Hinter 
der  fühlte  ich  mich  vor  all  den  neugierigen 
Blicken  der  lieben  Mitmenschen  geborgen.  So 
lernte  ich  Berlin  durch  meine  schwarze  Brille 
betrachten.  Ich  nahm  an  allem  Anteil,  sogar 
das  Kino  besuchten  wir  und  das  Theater.  Be» 
sonders  gut  gefiel  es  uns  Blindgängern  in  den 
Rheinischen  Winzerstuben.  Wer  verstände  das 
nicht! 

Ein  Fräulein  mit  sympathischer  Stimme 

Eines  Tages  hatten  wir  uns  bei  einer  solchen 
Streife  durch  Berlin  verlaufen.  Ein  Kamerad 
aus  Sachsen,  der  noch  etwas  sehen  konnte, 
sprach  eine  junge  Dame  an  und  fragte,  wie 
man  zum  Lazarett  gelangen  könne.  Eine  frische, 
jugendliche  Stimme  gab  lachend  eine  Auskunft 
und  setzte  hinzu:  „Es  wird  das  beste  sein,  ich 
begleite  Sie  dorthin.  Ich  hätte  sowieso  einen 
Spaziergang  gemacht."  Wir  nahmen  das  Fräu» 
lein  mit  der  sympathischen  Stimme  in  die 
Mitte,  und  lustig  plaudernd  ging  es  zum  Laza» 
rett.  Als  wir  dort  ankamen,  hatte  ich  mich 
schon  mit  dieser  süßen  Stimme  — sie  hieß 
Betty  — für  den  nächsten  Tag  verabredet. 

Am  folgenden  Tag  wartete  ich  mit  nagenden 
Zweifeln.  Wird  sie  auch  kommen?  Tatsächlich, 
das  Mädel  hielt  Wort.  Ich  war  ganz  glücklich, 
als  ich  an  diesem  Tag,  endlich  einmal  ganz 
allein  zu  zweien,  fern  der  Berliner  Steinwüste 
in  Feld  und  Wald  herumstrolchen  konnte.  Als 
wir  zwischen  wogenden  Kornfeldern  hingingen 
und  ich  meine  Hand  durch  Halme  und  Ähren 
gleiten  ließ,  dachte  ich  mit  Wehmut  an  mein 
heimatliches  Dorf  im  Schwäbischen  und  an  die 
elterliche  Landwirtschaft.  Aber  ich  war  stolz, 
daß  ich  meiner  Begleiterin  die  Getreidearten 
erklären  konnte,  die  ich  fühlte.  Und  als  Gegen» 
leistung  erklärte  mir  Betty,  als  wir  am  Wald» 
rand  saßen,  die  Schönheiten  der  märkischen 
Landschaft. 

Von  jetzt  an  hatte  ich  eine  aufmerksame, 
treubesorgte  Begleiterin.  Sooft  es  ihr  Dienst 
zuließ,  holte  sie  mich  ab. 

Erster  Besuch  in  der  Heimat 

Mitte  Juli  wurde  ich  bis  zum  Beginn  der  Um» 
Schulung  beurlaubt.  Ein  einäugiger  Kamerad 
brachte  mich  nach  Hause.  Hier  versuchte  ich, 
mich  möglichst  nützlich  zu  machen,  und  ließ 
mich  auf  Acker,  Wiese  und  Weinberg  mitneh» 
men.  Aber  es  war  zu  ärgerlich,  viele  Arbeiten 
konnte  ich  beim  besten  Willen  nicht  mehr  aus» 
führen,  am  allerwenigsten  in  den  Weinber» 
gen.  Nur  Trauben  schneiden  konnte  ich  noch, 
wie  ich  später  feststellte.  Als  ich  schließlich  von 
einem  Heuwagen,  den  ich  fast  fertig  geladen 
hatte,  hinunterstürzte,  war  mir  endgültig  klar« 
geworden,  daß  ich  einen  anderen  Beruf  erler» 


INALLEN  f A C H G E S C H Ä f T E N 


nen  mußte.  Aber  was?  Auch  Betty  grübelte 
mit.  Sie  verbrachte  während  der  Erntezeit  ihren 
Urlaub  in  meinem  Elternhaus,  und  als  sie  wie» 
der  zurück  nach  Berlin  fuhr,  betrachteten  wir 
uns  als  verlobt. 

Am  1.  September  1943  kam  ich  in  das  Um» 
Schulungslazarett,  und  zwar  zum  Schloß  Soli» 
tude  bei  Stuttgart.  Ich  alter  Esel  — schon  31 
Jahre  alt  war  ich  — mußte  nun  wieder  die 
Schulbank  drücken.  Schreiben  und  lesen  zu  1er» 
nen  hieß  nun  die  Parole.  Eine  Stunde  Punkt» 
Schriftmaschine,  eine  Stunde  Schreibmaschine, 
eine  Stunde  lesen,  so  ging  es  mit  mancherlei 
Fächern  Tag  für  Tag.  Der  Kopf  rauchte. 

Ich  werde  Masseur 

Schlimm  war  es  anfangs  mit  dem  Lesen  der 
Punktschrift.  Ich  fühlte  wohl  die  kleinen  War» 
zen  auf  dem  Papier,  aber  ich  konnte  sie  nicht 
unterscheiden,  und  beim  Unterricht  mußte  ich 
oft  mit  einem  kläglichen  Gestammel  aufwarten. 
Da  in  Rußland  meine  Fingerspitzen  erfroren 
waren,  konnte  ich  einfach  nicht  fühlen.  Es  kam 
vor,  daß  ich  voller  Verzweiflung  mitten  in  der 
Nacht  meine  Fibel  vornahm,  um  den  Sinn  der 
geheimnisvollen  Punkte  zu  erforschen.  Aber 
ich  blieb  beharrlich  und  schaffte  es  auch  endlich. 

Während  dieser  Grundausbildung  wurde  die 
Frage  der  Berufsauswahl  immer  dringlicher.  Im 


75 


i4u8  Indochina  heimgekehrt  — als  Kriegsblinder!  Auf 
einem  Pariser  Bahnhof  wird  er  empfangen.  Auch  deutsche 
Fremdenlegionäre  verloren  im  Dschungel  ihr  Augenlicht 
und  kehrten  inzwischen  nach  Deutschland  zurück.  Und 
auch  in  Korea  forderte  der  Krieg  Opfer.  „Blindgeschossen“ 
— soll  das  nie  ein  Ende  nehmen? 


Berliner  Lazarett  hatte  ich  einen  Kriegsblinden 
des  ersten  Weltkrieges  kennengelernt,  der  dort 
als  Masseur  beschäftigt  war.  Auch  der  Beruf 
des  Telefonisten  wäre  in  Frage  gekommen, 
aber  damals  fiel  mir  das  Lesen  noch  zu  schwer. 
Richtige  Büroberufe  haßte  ich  noch  von  der 
Zeit  her,  als  ich  Rechnungsführer  auf  einem 
Rittergut  war.  Also:  Masseur! 

Bald  besuchte  ich  eine  staatliche  Massage= 
schule  in  der  Nähe  von  Straßburg.  Als  ich 
hörte,  daß  die  Ehefrauen  kriegsblinder  Mas= 
sageschüler  an  der  gleichen  Schule  ausgebildet 
werden  könnten,  entschloß  ich  mich,  kurzer» 
hand  zu  heiraten  und  meine  Frau  zur  Schule 
mitzunehmen.  Ich  überlegte  mir,  daß  Betty  mir 
eine  Idilfe  und  Stütze  sein  würde,  selbst  dann, 
wenn  sie  später  nicht  mitarbeiten  sollte.  Ich 
hatte  dann  doch  wenigstens  einen  verstehenden 
Menschen,  mit  dem  ich  über  Berufsfragen 
sprechen  konnte.  Diese  Überlegungen  haben 
sich  später  als  sehr  richtig  erwiesen. 

Pfingsten  1944  heirateten  wir.  Eine  Woche 
zuvor  begann  der  Kursus.  Schon  rückte  die 
Westfront  näher,  und  Herr  Professor  Kohl» 
rausch  mußte  seine  Vorlesungen  oft  im  Luft» 


schutzkeller  halten.  Schließlich  wurde 
die  Schule,  ein  paar  Tage  vor  der 
Eroberung  Straßburgs,  rvach  Stutt» 
gart  verlegt.  Hier  machte  ich  meine 
staatliche  Prüfung  und  wurde  am 
31.  Dezember  1944  aus  der  Wehr» 
macht  entlassen.  Ich  war  wieder 
Zivilist. 

Der  Kampf  draußen  in  der  zivilen 
Welt  begann  anfangs  verheißungs» 
voll.  Frühzeitig  hatte  ich  mich  um 
eine  Anstellung  an  den  Lazaretten 
in  Bad  M.  beworben,  und  als  ich 
sogar  eine  Wohnung  dort  erhalten 
hatte,  begann  ich  meine  Arbeit.  All 
die  vielen  Verwundeten  wollten  be= 
handelt  sein.  Es  war  eine  ungeheure 
Anstrengung  für  mich,  aber  meine 
Arbeit  machte  mir  Freude,  besonders 
wenn  ich  bemerkte,  daß  ich  Erfolg 
hatte.  Der  kleinste  Erfolg  war  für 
mich  eine  Genugtuung:  du  bist  trotz 
deiner  Blindheit  noch  zu  etwas  nütze! 
Jetzt  erst  wurde  ich  der  Mensch,  der 
ich  früher  war.  Meine  Arbeit  ging  mir 
über  alles.  Der  Umgang  mit  den 
Patienten  gab  mir  das  sichere  Gefühl, 
mitten  im  Leben  zu  stehen. 

Und  dann  — arbeitslos! 

Aber  im  Winter  1946  verlor  ich 
meine  innere  Ruhe.  Ich  war  arbeits» 
los  geworden!  Aus  dem  Lazarett  war 
zunächst  ein  Interniertenhospital  ge» 
worden,  an  dessen  Stelle  nun  ein  Tbc» 
Krankenhaus  errichtet  wurde.  Nun 
saß  ich  zu  Hause,  und  mein  Leben 
war  wieder  eintönig,  grau  und  trübe. 
Ich  kam  wieder  ins  Grübeln.  Untätig» 
keit  ist  für  einen  Blinden  Gift.  Man  kommt  ins 
Sinnieren,  in  ein  einziges,  auswegloses  Fragen 
nach  dem  Warum.  Was  ist  der  Sinn  des  Lebens? 
Meines  Lebens?  Dieses  furchtbare  Frage»und» 
Antwort=Spiel,  mit  dem  Gedanken  immer  unter» 
Wegs  und  immer  um  das  „Warum"  kreisend, 
ist  ein  aufreibender  Zeitvertreib.  Es  ging  noch 
an,  wenn  ich  Radio  hörte,  aber  man  kann  es 
nicht  von  morgens  bis  abends  tun.  Ich  wurde 
unausstehlich  und  mürrisch. 

Ich  lese  wieder  Bücher 

Ich  sah  ein:  so  konnte  es  nicht  weitergehen! 
Ich  mußte  mir  eine  Betätigung  schaffen.  Da 
faßte  ich  den  Entschluß,  meine  Punktschrift» 
bücher  auszugraben  und  wieder  den  Sinn  der 
verhaßten  Punkte  zu  enträtseln.  Als  erstes  fiel 
mir  ein  Roman  in  die  Hände,  „An  heiligen 
Wassern"  von  Johann  Heer.  Das  Fühlen  machte 
mir  immer  noch  große  Schwierigkeiten,  aber 
dann  stellte  ich  mit  Befriedigung  fest,  daß  das 
Gefühl  meiner  Fingerspitzen  besser  geworden 
war.  Dieser  Roman  fesselte  mich  derart,  daß 
ich  mir  keine  Ruhe  ließ,  ehe  ich  die  Punktschrift 


76 


wieder  voll  beherrschte.  Ich  wurde  nun  Abon= 
nent  der  „Marburger  Umschau"  — einer  Zeit» 
Schrift  in  Blindendruck  — und  wurde  ein  flei= 
ßiger  Benutzer  der  Marburger  HochschuU 
bücherei  für  Blinde. 

Als  Sehender  war  ich  eine  richtige  Leseratte 
gewesen,  und  nun  war  ich  wieder  eingekehrt 
in  diese  schöne  Welt  des  Buches.  So  wurde  ich 
wieder  der  alte  Mensch,  der  seine  ganze  Um» 
gebung  vergessen  konnte,  wenn  er  ein  gutes 
Buch  vor  sich  hatte.  .Alle  Grübelei  hatte  ein 
Ende. 

Am  1.  Oktober  1947  erhielt  ich  auch  wieder 
einen  Arbeitsplatz.  Ich  konnte  helfen  und  mei» 


nem  Leben  wieder  Inhalt  geben.  So  stehe  ich 
heute  mitten  im  Leben  und  bin  ein  zufriedener, 
selbstbewußter  Mensch,  dem  die  Arbeit  am 
hilfsbedürftigen  Mitmenschen  über  alles  geht. 
Allerdings,  bisweilen  kommen  schwarze  Stun» 
den,  in  denen  ich  mit  meinem  Schicksal  hadere. 
Aber  ich  kann  ohne  bitteren  Stachel  wieder  an 
jene  unvergeßliche,  sternklare  Vollmondnacht 
in  der  Bucht  von  Noworossijsk  denken.  Und  in 
meinen  Träumen  sehe  ich  mit  aller  Deutlichkeit 
das  runde,  volle  Gesicht  des  Mondes  still  und 
freundlich  lächelnd  auf  mich  herabblicken,  als 
wolle  er  sagen;  „Sei  still,  es  wird  schon  alles 
gut  werden  . . Karl  Stark 


(Ein  £)er3og  ftarb  al6  ßne00blm5cr 

Karl  Wilhelm  Ferdinand  von  Braunschweig  und  die  Schlacht  bei  Auerstedt 


Die  Mitwelt  hat  in  Karl 
Wilhelm  Ferdinand  neben 
Friedrich  dem  Großen  den 
herrlichsten  Helden,  den 
weisesten  Staatsmann  der 
Zeit  gesehen.  Niemand  ist 
lauter  gefeiert  worden  als 
er,  auf  niemand  hat 
Deutschland  und  Europa 
größere  politische  Hoff» 
nungen  gesetzt  als  auf  ihn. 

Der  Grund  hegt  darin, 
daß  Karl  Wilhelm  Ferdi» 
nand  in  allem  der  echte 
Sohn  seines  Jahrhunderts 
gewesen  ist.  So  ist  es  kein 
Widerspruch,  wenn  wir 
feststellen:  Seine  Zeitge» 
nossen  mußten  nie  vor 
stürmisch  genialem  Vor» 
wärtsdrängen,  vor  der 
Kraftentfaltung  leiden» 
schädlich  politischen  Ehr» 
geizes  zurückschrecken, 
durch  den  ganz  große 
Männer  ihrer  Mitwelt  un» 
heimlich  und  rätselhaft 
werden.  So  reif,  so  klug, 
so  klar  auch  seine  Gedan» 
ken  waren,  über  die  Ideen 
seiner  Zeit  ragter  sie  doch 
nie  hinaus.  Abei  er  hat  es 
wunderbar  verstanden, 
kantisches  Pflichtbewußt» 
sein  und  Sittenstrenge, 
Au.fkiärung  und  Humani» 
tät,  enzyklopädische  Schön» 
geisterei  und  patriarcha» 
lische  Staalsfüi'sorge  zu 
einer  Einheit  lebendig  zu» 
sammenzuschließen  und 
alle  abstrakten  Gedanken 
umzusetzen  in  praktische, 
fruchtbare  Wirklichkeit. 


Herzog  Ferdinana  von  araunscnweig  wird  mit  zerschossenen  Augen 
vom  Schlachtfeld  bei  Auerstedt  (1806)  getragen. 

(Nach  einem  Holzschnitt  von  J.  J.  Kirchhoff) 


77 


Gerade  aber  weil  er  ganz  in  seiner  Epoche 
wurzelte,  ist  die  Geschichte,  die  nur  nach  den 
Maßstäben  des  Fortschrittes,  der  Weiterentwick= 
lung  wertet,  über  ihn  hinweggeschritten.  Denn 
der  neuen  Zeit  ist  Karl  Wilhelm  Ferdinand  kein 
Wegweiser  oder  Bahnbrecher  geworden.  Es  war 
sein  herbes  Schicksal,  daß  sein  Tod  auch  das 
Ende  seines  Jahrhunderts  bedeutete,  daß  mit 
Auerstedt  das  alte  Preußen  zu  Grabe  sank  und 
frische  Kräfte  auf  neuen  Grundlagen  einen 
neuen  Staat  schufen,  in  den  des  Herzogs  Wirken 
nicht  mehr  reichen  sollte. 

Es  gibt  in  der  Geschichte  eine  Persönlichkeit, 
deren  Charakter  an  den  Welfen  erinnert:  Wal» 
lenstein.  Wie  jener  war  Karl  Wilhelm  Ferdinand 
dazu  berufen,  inmitten  stürmischer  Zeiten  der 
legitimen  Macht  Rückhalt  und  Tatkraft  zu  ver« 
leihen,  einem  alten  Staatskörper  neues  Leben 
einzuflößen  und  eine  beherrschende  Stellung 
über  den  Parteien  einzunehmen.  Wie  dem  Fried= 
länder  kamen  auch  Karl  Wilhelm  Ferdinand  die 
Zeit,  die  Umstände  und  die  Menschen  entgegen. 
Wie  jener  vermochte  er  es  aber  nicht,  diese 
Umstände  auszunützen,  weil  er  im  entscheiden» 
den  Augenblick  immer  wieder  vor  der  Ver« 
antwortung  eigenmächtiger  Handlungen,  vor 
dem  kühnen  Entschlüsse  zurückbebte.  Aus  dem 
Gefühl  der  inneren  Unsicherheit  und  Schwäche 
brannte  in  beiden  die  Angst  vor  dem  Urteil  der 
Mitwelt  und  bestimmte  ihre  Handlungen.  Des» 
halb  scheiterten  beide  schließlich  an  der  Tragik 
ihres  Lebens,  daß  alle  leidenschaftliche  Hingabe 
nicht  den  glühenden  Willen,  aller  klare  Verstand 
nicht  jenen  staatsmännischen  Dämon  ersetzen 
kann,  der  aus  eigener  Kraft  heraus  schaffen, 
gestalten  und  die  Welt  erneuern  muß. 

Der  Verlauf  des  für  Preußen  so  Verhängnis» 
vollen  Krieges  gegen  Napoleon  ist  allgemein 
bekannt.  Der  Oberbefehl  über  das  Heer  und 
damit  dqs  Geschick  des  Staates  wurde  dem 
Weifenherzog  anvertraut.  Karl  Wilhelm  Ferdi» 
nand  war  damals  ein  einundsiebzigjähriger 
Greis,  noch  immer  körperlich  rüstig  und  von 
ungeschwächter  Geisteskraft,  aber  sein  Mangel 
an  Entschlossenheit,  das  zaghafte  Mißtrauen  in 
die  eigene  Kraft,  das  allzu  vorsichtige  Abwägen 
jeder  überhaupt  denkbaren  Möglichkeit  — 
Charaktereigenschaften,  die  schon  früher  seine 
kriegerischen  Erfolge  beeinträchtigt  hatten  — , 
waren  mit  den  Jahren  noch  gewachsen.  Hinzu 
kam  seine  fast  krankhafte  Besorgnis,  den  einst 
in  seiner  Jugend  erworbenen  Kriegsruhm  am 
Ende  seiner  Tage  einzubüßen.  Am  14.  Oktober 
1806  sah  sich  die  preußische  Armee,  die  in  zwei 


Hauptteilen  getrennt  im  Saaletal  bei  Jena  und 
Auerstedt  stand,  zu  gleicher  Zeit  von  über» 
legenen  Streitkräften  angegriffen.  Napoleon 
selbst  überwältigte  an  der  Spitze  der  Korps  von 
Ney,  Lannes,  Soult  und  Augerau  den  preußischen 
linken  Flügel,  während  den  vom  Weifenherzog 
befehligten  Heeresteilen  durch  Marschall 
Davoust  eine  vollständige  Niederlage  bei» 
gebracht  wurde. 

Der  Herzog  hatte  im  Schlachtgewühl  seine 
alte  Kaltblütigkeit  wiedergefunden  und  setzte 
sich  unerschrocken  dem  feindlichen  Feuer  aus. 
Eine  französische  Kugel  traf  ihn  in  der  rechten 
Schläfe  und  beraubte  ihn  der  Sehkraft  beider 
Augen.  Man  hob  ihn  auf  ein  Pferd  und  brachte 
ihn  glücklich  aus  dem  Gefecht  nach  Auerstedt, 
wo  sein  Leibarzt  Dr.  Voelker  ihm  den  ersten 
Verband  anlegte. 

Diese  Verwundung  in  einem  Zeitpunkt,  da 
die  Entscheidung  unmittelbar  bevorstand,  fiel 
schwer  zu  Ungunsten  der  preußischen  Waffen  in 
die  Waagschale.  Mit  ihr  hörte  jeder  einheitliche 
Oberbefehl  auf,  jeder  handelte  nur  noch  auf 
eigene  Faust.  Mit  einem  Schlage  hatte  der  Ver» 
lust  der  Doppelschlacht  von  Jena  und  Auerstedt 
den  bis  dahin  noch  immer  die  preußischen  Fäh» 
nen  umschwebenden  Zauber  der  Unbesiegbar» 
keit  zerstört. 

Der  unglückliche  Herzog  wurde  von  Dr.  Voel» 
ker  und  Oberst  v.  Kleist  trotz  der  Schmerzen, 
die  die  Wunde  verursachte,  auf  Nebenwegen 
eilig  in  seine  Residenz  Braunschweig  gebracht. 
Da  Napoleon  jeden  Gnadenerweis  gegen  das 
Land  wie  die  Person  des  Herzogs  ablehnte, 
regelte  Karl  Wilhelm  Ferdinand  die  Erbfolge 
und  schloß  seine  älteren,  von  Kindheit  an  blin» 
den  Söhne  zugunsten  des  jüngsten  Friedrich 
Wilhelm  aus,  der  dann  später  bei  Quatrebas 
fiel.  Erstmals  unterschrieb  hierbei  der  Herzog, 
ohne  sehen  zu  können,  seinen  Namen,  ziemlich 
fest,  mit  den  gewohnten  Zügen. 

Zwar  erreichte  Karl  Wilhelm  Ferdinand  auf 
seiner  weiteren  Flucht  dänischen  Boden,  doch 
hatten  die  Unbequemlichkeiten  des  Transportes 
seinen  Zustand  wesentlich  verschlimmert.  Am 
" 10. 11. 1806  starb  er  in  Ottensen  bei  Altona  und 
wurde  in  dem  Gewölbe  der  dortigen  Dorfkirche 
beigesetzt,  bis  vier  Jahre  nach  der  Befreiung 
Deutschlands  vom  Joch  Napoleons  seine  sterb» 
liehen  Reste  in  dem  alten  Dom  Heinrichs  des 
Löwen  zu  Braunschweig  ihre  letzte  Ruhestätte 
fanden. 

Dr.  Alexander  Tuchs 


Dos  bewährte  Hustenbonbon,  hergestellfjnil^jExTrekhBn^vgetf^nerJljeilpflajT^cg^ 


IN  DER 

NEUEN  .FRISCHHALTEPACKUNG 


Meine  Begegnung  mit  einem  Kriegsblinden 

Der  Brief  einer  dankbaren  Massage-Patientin 


Liebe  Gertrud! 

Wie  leid  tut  es  mir,  daß  Dein  Arm  Dir  noch 
so  schmerzhafte  Beschwerden  macht.  Es  ist  schon 
keine  Kleinigkeit,  so  ein  Armbruch,  und  aus 
eigener  Erfahrung  kann  auch  ich  Dir  nur  drin= 
gend  die  angeratene  Massagebehandlung  emp= 
fehlen.  Nun  fragst  Du  mich,  ob  Du  nicht  lieber 
zu  einem  sehenden  Masseur  gehen  sollst  statt 
zu  dem  Kriegsblinden,  den  man  Dir  genannt 
hat. 

Nun:  bevor  ich  selbst  den  üblen  Unfall  hatte, 
der  eine  langwierige  Nachbehandlung  erfor= 
derte,  hätte  ich  wohl  nicht  gleich  eine  so  klare 
Antwort  geben  können,  wie  ich  das  jetzt  ver=> 
mag:  ich  würde  immer  wieder  einem  Blinden 
den  Vorzug  geben,  obwohl  ich,  ehe  der  Kriegs» 
blinde  mich  behandelte,  zwei  sehr  tüchtige 
sehende  Masseure  hatte.  Die  Gründe  dafür  sind 
vielgestaltig,  und  ich  will  versuchen,  sie  Dir 
in  Kürze  zu  entwickeln. 

Zunächst  muß  ich  gestehen,  daß  mich  bei  der 
Eröffnung,  meine  Behandlung  würde  einem 
Nichtsehenden  anvertraut  werden,  eine  leise 
Angst  befiel:  wird  er,  der  ja  die  Reaktion  des 
Schmerzes  an  meinem  Gesicht  nicht  ablesen 
kann,  mit  meinem  noch  überaus  schmerzemp» 
findlichen  Bein  nicht  zu  gewaltsam  umgehen, 
wie  ich  es  von  manchem  Sehenden  ohne  böse 
Absicht  erfuhr?  Wird  er  von  mir  an  Beweglich» 
keit  nicht  mehr  verlangen,  als  ich  schon  leisten 
kann?  Diese  Sorge  war  aber  wenige  Augen» 
blicke,  nachdem  der  Blinde  mein  Krankenzimmer 
betreten  hatte,  völlig  geschwunden  und  machte 
dem  Gefühl  einer  vertrauensvollen  Sicherheit 
Platz,  die  von  jeder  Bewegung,  ja,  dem  ganzen 
Wesen  des  Mannes  ausging. 

Wie  wohltuend  war  es  allein  schon,  sich  einem 
Menschen  gegenüberzufinden,  der  nicht  vom 


Tempo  des  beruflichen  Getriebes  gehetzt,  son» 
dem  in  einer  von  der  Außenwelt  unbeeinflußten 
Ruhe  an  seine  Arbeit  ging!  Auch  irrten  die 
Hände  nicht  ziellos  umher,  sondern  griffen 
geschickt  und  sicher  zu;  so  vergaß  ich  ganz,  daß 
sie  einem  Blinden  gehörten.  Mit  welcher  Behüt» 
samkeit  wurde  das  verletzte  Glied  abgetastet 
und  wie  rasch  die  Schmerzzone  ohne  meine 
geringste  Mithilfe  festgestellt!  Es  war  fast,  als 
spürte  der  Blinde  den  Schmerz  eher  als  ich 
selbst,  und  er  war  daher  imstande,  ihn  zu  ver» 
meiden!  Mit. einer  Konzentration,  wie  sie  nur 
dem  eigen  ist,  der  durch  keinerlei  optische  Ein» 
drücke  abgelenkt  wird,  wurde  die  Massage  ge» 
handhabt  und  von  mir  in  ihrer  äußerst  einfühl» 
Samen  und  doch  kräftigen  und  gezielten  Art 
als  ungemein  wohltuend  und  wirksam  empfun» 
den.  Das  hat  sich  in  all  den  Monaten,  die  mein 
komplizierter  Fall  an  Behandlungszeit  erfor» 
derte,  nicht  geändert;  auch  im  heftigsten  Ge» 
triebe,  wo  alles  rannte  und  die  Unruhe  sich 
überall  bemerkbar  machte,  behielt  der  Blinde 
die  stets  gleiche,  konzentrierte  und  sichere 
Gelassenheit  und  teilte  sie  unwillkürlich  dem 
Patienten  mit.  So  ergab  sich  das  für  den  Hei!» 
erfolg  so  wesentliche  Vertrauensverhältnis  zum 
Behandelnden  von  selbst.  Ich  spürte  es:  diese 
Hände  wollten  wohl  und  nicht  wehe  tun! 

Gleichzeitig  mit  dieser  äußeren  Wirkung  ent» 
stand  aber  eine  andere,  die  mir  vielleicht  noch 
wertvoller  geworden  ist.  Zum  ersten  Male  er» 
lebte  ich  ja  die  Begegnung  mit  einer  mir  bis 
dahin  ganz  fremden  Welt,  dem  Schicksal  der 
Kriegsblinden!  Fast  schäme  ich  mich  heute, 
sagen  zu  müssen,  daß  ich  sie  vorher  nicht 
gekannt  habe.  Ich  habe  sie  zwar  nicht  bewußt 
gemieden,  aber  eben  auch  nicht  gesucht  — über 
ein  gelegentliches  mitleidiges  Gedenken  und 
einige  Geldspenden  ging  es  nicht  hinaus,  und 


LASTWAGEN. TRAMBUSSE 


79 


Gebr.  Mayer  GmbH. 

Trikotwarenfabriken 

Burladingen 


so  bedeutete  diese  Begegnung  für  mich  etwas 
entscheidend  Neues.  Ich  erfuhr  bald,  wie  wenig 
angebracht  das  Gefühl  des  bloßen  Mitleids  ist, 
wenn  es  nicht  im  echten  Wortsinn  zum  Mit= 
Leiden  führt. 

Hier  stand  mir  ja  ein  Mensch  gegenüber,  der 
als  voller  Mensch  genommen  sein  wollte  und 
der  zwar  nicht  optisch  sehen  konnte,  aber  dafür 
eine  Fähigkeit  der  inneren  Schau  und  eines 
reichen  Erlebens  besaß,  wie  sie  uns  „Sehenden" 
weithin  fehlt.  Hier  wurde  ein  Schicksal  — wohl 
eines  der  schwersten,  das  junge,  hoffnungsfrohe 
Menschen  treffen  kann  — nicht  in  dumpfer  Er= 
gebung  oder  gar  Verbitterung  ertragen,  sondern 
willig  angenommen  und  sinnvoll  gestaltet  und 
dadurch  zu  einem  Kraftfeld  gewandelt,  das  noch 
anderen  sich  mitzuteilen  vermochte.  Wie  klein 
erschien  daneben  das  eigene,  vorher  als  so 
schwer  empfundene  Unglück,  und  wie  fühlte 
man  sich  aufgerufen,  sich  der  Wirkung  dieser 
Kräfte  zu  überlassen!  Im  Grunde  kann  ja  erst 
derjenige,  der  selbst  durch  Leid  gegangen  und 
nicht  daran  zerbrochen  ist,  anderen  Leidenden 
Hilfe  geben. 

Während  der  Behandlung  ergab  sich  so  man= 
ches  Gespräch,  das  über  das  Vordergründige 
hinaus  in  das  Wesentliche  vorzustoßen  suchte. 


und  oft  hat  es  mich  betroffen,  wie  unbestechlich 
und  klar  ein  Blinder,  der  nicht  von  äußerlichem 
Beiwerk  und  Zufälligkeiten,  die  das  Auge  fes= 
sein,  abgelenkt  wird,  den  Wesenskern  seiner 
Mitmenschen  zu  erfassen  vermag. 

Und  — anfangs  überraschend  — auch  noch 
dies  als  schöne  Zugabe:  auch  der  Sinn  für 
Heiterkeit  und  Humor  erwies  sich  als  nicht  ver= 
kümmert,  gerade  im  gemeinsamen  Lachen  war 
auch  die  leiseste,  aus  der  Blindheit  des  andern 
herrührende  Trennung  völlig  überwunden.  Wie 
überflüssig  war  doch  meine  anfängliche,  scheue 
Distanzierung  gewesen! 

Ob  Du  nun  verstehen  kannst,  warum  ich  Dir 
ohne  Einschränkung  Mut  machen  möchte.  Dich 
von  einem  Kriegsblinden  behandeln  zu  lassen? 
Du  wirst  dabei  nur  gewinnerr,  und  für  diese 
Menschen,  die  im  Schatten  leben  müssen,  ist 
es  doppelt  wichtig,  die  nahe  Verbundenheit  mit 
der  Welt  der  Sehenden  und  ein  Verstehen  zu 
spüren,  das  unserer  von  Gleichgültigkeit  und 
Mißtrauen  erfüllten  Menschheit  sobitter  not  tut. 

Ich  hoffe.  Du  wirst  mir  bald  von  Deiner  Be= 
handlung  durch  den  kriegsblinden  Masseur  be= 
richten. 

Mit  herzlichen  Grüßen  und  guten  Wünschen 

Deine  Else. 


Ein  kleines  Problem  ist  es  immer,  wenn  ein  Kriegsblinder  etwas  unterzeichnen  soll.  Zwar 
kann  er  schreiben  — selbst  das  verwundert  manchen  Sehenden!  — , ober  es  muß  ihm  die 
Hand  dorthin  geführt  werden,  wo  die  Unterschrift  stehen  soll.  Für  jeden  kriegsblinden 
Kaufmann  oder  Beamten  ist  diese  tägliche  kleine  Schwierigkeit  längst  belanglos  geworden. 
Aber  es  gibt  viele  Kleinigkeiten  dieser  Art.  angefangen  bei  der  Kunst,  sich  selbständig  eine 
Zigarette  anzuzünden,  bis  hin  zum  richtigen  Erkennen  des  Geldes.  Fotos  (2):  Lengemann 


So 


Viele  Einwohner  Kassels  kennen  den  Finanzbeamten  Hellmut  Vogt  und  schätzen  ihn  als 
tüchtigen  Fachmann  und  stets  hilfsbereiten  Menschen.  Tausende  von  Lohnsteuerkarten 
gingen  während  der  letzten  Jahre  durch  seine  Hand.  Seine  Sekretärin  und  Vorleserin  steht 
ihm  seit  drei  Jahren  zur  Seite  und  bringt  ihn  nach  dem  Dienst  zur  Straßenbahn. 


Seltsame  Visite 

Im  Kriegsblindenlazarett  war  es  üblich,  daß 
jeder  Sehende  beim  Betreten  eines  Zimmers 
seinen  Namen  und  Rang  sagte,  damit  die  Blin= 
den  orientiert  waren.  Das  geschah  natürlich 
auch,  wenn  ein  Arzt  das  Zimmer  betrat.  Das 
machten  wir  uns  für  einen  Spaß  zunutze,  der 
— ich  gebe  es  zu  — recht  derb  war: 

Eines  Tages  trifft  ein  neuer  Kamerad  ein. 
Er  wird  auf  sein  Zimmer  geführt  und  erhält 
sein  Bett  angewiesen.  Einige  Zeit  später  öffnet 
sich  seine  Zimmertür,  und  eine  Stimme  meldet 
sich:  „Ich  bin  der  Stabsarzt.  Für  das  Kranken= 
journal  muß  ich  noch  einige  Fragen  an  Sie 
richten."  Eine  markante  Stimme.  Der  Kriegs» 
blinde  nimmt  einigermaßen  Haltung  an  und 
gibt  gehorsam  alle  gewünschten  Auskünfte. 

Er  ahnt  nicht,  daß  sich  nur  ein  paar  „alte" 
Kameraden  einen  Jux  mit  dem  „Neuen" 
machen.  Hinter  dem  Fragenden  stehen  die  an» 
deren  Bösewichter  und  verbeißen  sich  das 
Lachen.  Zunächst  ganz  harmlose  und  über» 
zeugende  Fragen:  Name?  Geburtstag?  Rang? 
Wo  verwundet?  Verheiratet? 

Dann  aber  werden  die  Fragen  fataler:  Dienst» 
strafen?  Freundin?  Uneheliche  Kinder?  Krank» 


heiten?  Der  letzte  Punkt  wird  höchst  genau 
vorgenommen.  Schulleistungen?  Besondere 
Wünsche?  Kurz,  der  Kamerad  wird  buchstäb» 
lieh  bis  unters  Hemd  ausgefragt.  Der  Fragende, 
der  ja  selber  nichts  sehen  kann,  tut  so,  als  ob 
er  alles  in  eine  dicke  Akte  einträgt.  Als  man 
aber  draußen  den  richtigen  Stabsarzt  heran» 
nahen  hört,  wird  die  seltsame  Visite  rasch 
abgebrochen. 

Am  andern  Morgen  ließ  dann  der  Stabsarzt, 
der  diesen  Streich  bald  herausgekriegt  hatte, 
doch  einige  warnende  Worte  von  sich,  in  die 
eine  Richtung  strenger,  in  die  andere  Richtung 
versöhnlicher.  Es  ist  dann  auch  nicht  wieder 
vorgekommen.  Lux 

Dumm  gewesen 

Eines  schönen  Tages  kam  zu  uns  ein  Hand» 
werker,  der  schon  in  früheren  Jahren  öfter  bei 
uns  gearbeitet  hatte,  und  nahm  eine  Reparatur 
im  Hause  vor.  Dabei  sah  er  mich  mit  der 
Schreibmaschine  schreiben  und  beobachtete 
auch,  wie  ich  in  mein  Magnetophon  sprach. 
Sichtlich  stieg  sein  Interesse  an  mir  und  meiner 
Tätigkeit,  und  er  schien  sich  darüber  Ge» 
danken  zu  machen.  Als  er,  nach  Beendigung 


Megenbesch^verden 


Bullpicli 

PULVER  40  PPG..  TABLETTEN  0.30u.l.50 


6 


8l 


seiner  Reparatur,  dann  ein  paar  Tage  später 
wiederkam,  um  die  Rechnung  zu  überreichen, 
brachte  er  auch  seine  Frau  mit.  Anscheinend 
hatte  diese  die  Neugier  hergetrieben.  So  äußerte 
sie  auch  schon  nach  kurzer  Zeit  den  Wunsch, 
das  Magnetophon  zu  sehen,  und  ich  zeigte  ihr 
bereitwillig  das  kleine  Wunder  und  auf  welche 
Weise  ich  es  fürs  Maschinenschreiben  ver- 
wende. 

Als  der  Besuch  beendet  war  und  sich  das 
Ehepaar  verabschiedete,  konnte  die  gute  Frau 


ihre  Meinung,  der  sie  irgendwie  Ausdruck  zu 
geben  versuchte,  nicht  mehr  zurückzuhalten. 
Sie  sprach  zu  meiner  Frau:  „Wissen  Sie,  es  ist 
schon  ein  großes  Unglück,  daß  Ihr  Mann  im 
Krieg  blind  geworden  ist.  Es  ist  aber  auch  ein 
großes  Glück,  daß  er  dafür  jetzt  so  gescheit 
wurde!" 

Da  blieb  mir  nur  die  fatale  Überlegung 
übrig:  Wie  dumm  muß  ich  gewesen  sein! 

Wilhelm  Schwind 


Glückliche  Tage  in  der  Hauptstadt  Perus 

Kleine  Plauderei  über  die  Merkwürdigkeiten  der  Stadt  Lima 


Während  der  Überfahrt  hatte  man  mir  er- 
zählt, daß  die  Stadt  Lima  nicht  gerade  schön 
sei,  die  Straßen  seien  sehr  schlecht  gepflastert, 
und  alles  sei  sehr  staubig,  weil  es  so  gut  wie 
gar  nicht  regne.  Wenn  es  aber  einmal  regne, 
seien  überall  große  Pfützen  und  die  Wege  so 
glitschig,  daß  Mensch  und  Tier  Mühe  hätten, 
nicht  auszurutschen.  Verunglücke  ein  Tier  auf 
der  Straße,  dann  lasse  man  es  einfach  liegen, 
und  die  Aasgeier  kämen  dann  und  übernähmen 
das  Amt  der  Gesundheitspolizei.  Ich  sah  es 


später  tatsächlich:  diese  schrecklich  aussehen- 
den großen  Vögel  fressen  in  ganz  kurzer  Zeit 
bis  auf  das  Gerippe  alles  auf,  was  auf  der 
Straße  verendet. 

Ich  ließ  mich  jedoch  durch  all  das  Unken  an 
Bord  nicht  einschüchtern;  denn  ich  sagte  mir, 
daß  dort,  wo  mein  Verlobter  sich  wohl  fühle, 
auch  ich  mich  wohl  fühlen  würde.  Und  so  war 
es  auch.  Callao,  der  größte  Hafen  von  Peru  — 
hier  wurde  ich  abgeholt  — , machte  einen  sehr 
ordentlichen  Eindruck  auf  mich.  Und  noch  an- 
genehmer überrascht  war  ich 
von  der  gut  asphaltierten 
Chaussee,  die  von  Callao  nach 
Lima  führt.  In  großen  schönen 
Straßenbahnwagen,  in  denen 
man  nach  Belieben  die  Rücken- 
lehnen verstellen  kann,  je 
nachdem,  ob  man  vorwärts 
oder  rückwärts  fahren  will, 
gelangt  man  nach  Lima. 

Durch  ihre  dicken  lehm- 
artigen Mauern  fallen  in  Lima 
die  ganz  besonders  schönen 
alten  Kirchen  auf,  man  riecht 
förmlich  ihr  Alter,  wenn  man 
sie  betritt.  Frauen  und  Mäd- 
chen gehen  zum  Teil  heute 
noch  mit  ihren  wundervollen 
schwarzen  Spitzen-Mantillas, 
die  kunstvoll  im  Haar  be- 
festigt werden,  in  die  Kirche. 

So  war  bereits  mein  erster 
Eindruck  alles  andere  als  ent- 
täuschend. 

Drei  Schrilie  Abstand 
Gleich  aiii  Tage  meiner  An- 
kunft wurden  wir  in  der  deut- 
schen Gesandtschaft  in  Lima 
getraut.  Es  war  im  Jahre  1924. 
Lima  ist  die  Hauptstadt  von 
Peru,  eine  schöne  alte,  zum 
Teil  aber  auch  moderne  Stadt. 
Überall  findet  man  Plätze  mit 
Palmen,  mit  schönen  Anlagen 
und  Denkmälern.  Auch  gibt  es 


82 


Unuset  im  spanisdien  Kolo- 
nialstil mit  geschlossenen, 
v>/undeivolI  geschnUzten  dunk- 
len Holzbaikonen.  Durch  die 
Schnitzereien  der  Baikone 
konnten  die  Damen  des  Hau- 
ses ungesehen  das  Leben  und 
Treiben  auf  der  Straße  beob- 
achten, seinerzeit,  als  es  noch 
nicht  üblich  war,  daß  die  Da- 
men der  Gesellschaft  ohne  Be- 
gleitung auf  die  Straße  gingen. 
Es  verstieß  noch  vor  zwanzig, 
dreißig  Jahren,  als  ich  in  Peru 
lebte,  gegen  den  guten  Ton, 
allein  auch  nur  Besorgungen 
zu  machen.  Zumindest  mußte 
eine  ältere  Hausangestellte  als 
Begleiterin  mitgehen,  jedoch 
nicht  an  der  Seda  ihrer  Schutz- 
befohlenen, sondern  stets  ein 
paar  Schritte  hinterher.  Da- 
mals war  es  fast  unmöglich, 
d.aß  eine  Haustochter  irgend- 
einen Beruf  ergreifen  durfte. 
Die  Zeiten  haben  sich  geän- 
dert. Es  gibt  Töchter  aus  ersten 
Häusern,  die  heute  allein  im 
Beruf  stehen,  allein  ihre  Be- 
sorgungen machen  und  auch 
sogar  allein  ins  Kino  gehen, 
was  früher  einfach  unmöglich 
war. 


< Holzschnitte:  Fritz  Sindel 

suchten  die  deutsche  Schule  in  Miraflores  oder 
in  Callao.  Miraflores  (auf  deutsch:  Schau  die 
Blumen!)  ist  ein  entzückender  Villenvorort  von 
Lima  und  liegt  direkt  am  Meer. 

Hier  wohnen  die  meisten  Ausländer  in  hüb- 
schen Häusern  mit  gepflegten  Gärten.  Stark 
duftende  Sträucher  und  Blumen  stehen  in  den 
Gärten,  und  die  Terrassen  zieren  Rank- 
gewächse in  allen  Farben,  daß  es  eine  Pracht 
ist.  Viele  kleine  Kolibris  naschen  in  den  Blüten 
den  Honig.  Auch  lebt  dort  ein  Vögelchen,  das 
unserer  Feldlerche  ähnlich  ist  und  den  ganzen 
Tag  fröhlich  zwitschert  und  singt.  Eukalyptus- 
bäume, Akazien  und  andere  Bäume,  die  man 
hier  nicht  kennt,  säumen  die  Straßen  ein.  Die 
Gärten  werden  künstlich  bewässert.  Minde- 
stens einmal  in  der  Woche  kommt  der  Gärtner, 
öffnet  die  Siele  und  Kanäle,  um  die  Gärten 
regelrecht  zu  überschwemmen,  da  die  Feuch- 
tigkeit ja  mehrere  Tage  anhalten  muß.  Es  reg- 
net ja  kaum  in  Lima.  Die  Feuchtigkeit,  die 
nachts  niederfällt,  genügt  nicht  für  die  Pflan- 
zen. Die  Wintermonate  Juni,  Juli,  August,  Sep- 
tember, Oktober  und  zum  Teil  auch  noch  No- 
vember sind  natürlich  nicht  mit  dem  euro- 


Die  Peruaner  haben  sehr 
viel  Familiensinn.  Die  ganze 
Familie  (Eltern,  Geschwister, 

Großeltern,  Tanten  und  Onkel, 
zum  Teil  Weiße,  zum  Teil 
oft  Mischlinge  und  Schwarze)  hält  sehr  zusam- 
men und  unterstützt  sich  gegenseitig  — , wenn 
es  einmal  not  tut,  mit  der  größten  Selbstver- 
ständlichkeit. Auch  die  Gastfreundschaft  gegen 
jedermann  ist  außerordentlich  groß  und  herz- 
lich. Alle  Peruaner,  die  ich  kennengelernt  habe, 
waren  äußerst  höfliche  und  freundliche  Men- 
schen. 


Feilsdten  in  deutschen  Geschäften  überflüssig 

In  den  Hauptgeschäftsstraßen  von  Lima  fin- 
det man  recht  hübsche  Geschäfte,  und  die  größ- 
ten von  ihnen  befanden  sich  in  deutschen  Hän- 
den, jedenfalls  damals,  also  bis  kurz  vor  dem 
zweiten  Weltkrieg,  als  ich  das  Land  verließ.  Die 
reichen  Peruaner,  die  Wert  auf  Qualität  leg- 
ten, kauften  sehr  gern  in  deutschen  Häusern, 
weil  sie  genau  wußten,  daß  sie  dort  reell  und 
gut  bedient  wurden.  Selbst  auf  das  Feilschen 
verzichteten  sie  bei  den  Deutschen,  obgleich 
dies  im  ganzen  Lande  üblich  ist.  Man  kann 
wohl  sagen,  daß  die  Deutschen  in  Peru  sehr 
angesehen  und  beliebt  sind  und  sich  dort  auch 
recht  gut  eingelebt  haben.  Die  Kinder  der  mei- 
sten Deutschen  in  Lima  und  Umgebung  be- 


6* 


S3 


päischen  Winter  zu  vergleichen.  Die  Tempera» 
tur  sinkt  höchstens  bis  auf  13  Grad  Celsius, 
über  Null  natürlich.  Da  die  Luft  aber  sehr  dünn 
ist  und  da  es  in  den  Häusern  keine  Öfen  gibt, 
haben  wir  manches  Mal  ganz  schön  gefroren. 
Ja,  man  sieht  sogar  Pelzmäntel  dort.  Fährt  man 
jedoch  im  Winter  anderthalb  Stunden  mit  der 
Eisenbahn  oder  eine  Stunde  mit  dem  Auto  in 
die  Berge,  dann  weiß  man  genau:  dort  ist  Son= 
nenschein  und  strahlend  blauer  Himmel,  wäh» 


Das  ist  Frau  Gebhard,  die  uns  auf  diesen 
Seiten  in  so  reizvoller  Weise  von  ihren  Erleb- 
nissen in  Peru  berichtet.  Als  sie  dort  lebte, 
konnte  sie  noch  sehen.  Kurz  vor  dem  Kriege 
kehrte  sie  zurück  und  verlor  durch  Bomben 
den  Mann  und  die  Tochter  und  selber  das 
Augenlicht.  Ihr  Sohn  ist  gefallen.  Trotz  allem 
nahm  sie  ihr  Leben  tapfer  in  die  Hand.  Seit 
einigen  Jahren  ist  sie  als  Stenotypistin  und 
assistierende  Mitarbeiterin  in  der-  Hamburger 
Schulbehörde  tätig,  und  zwar  in  der  Abteilung 
Schülerkontrolle,  die  viel  mit  psychologischen 
Tests  arbeitet:  Unterhaltungen  mit  Schülern 
werden  auf  Dimafonplatten  aufgenommen. 
Frau  Gebhardt  kann  die  Texte  von  der  Platte 
aus  übertragen,  und  man  legt  auch  großen 
Wert  auf  ihr  psychologisches  Urteil.  Auf  die 
gleiche  Weise  überträgt  sie  auch  Briefe,  ein 
Verfahren,  das  viele  kriegsblinde  Steno- 
typisten  heute  vorziehen.  Es  erspart  die  Nieder- 
schrift eines  Stenogramms  und  erspart,  was 
noch  wichtiger  ist,  dessen  mühsames  Ent- 
ziffern. 


rend  es  in  Lima  kalt  und  dunstig  ist.  Man  hat 
also  auch  im  Winter  immer  Gelegenheit,  sich 
voll  Sonne  zu  pumpen.  Alle,,  die  es  sich  leisten 
können,  wohnen  während  des  Winters  in  dem 
Kurort  Chosica,  der  etwa  1000  m über  dem 
Meeresspiegel  liegt.  Am  Tage  genießt  man  den 
herrlichen  Sonnenschein  und  die  gesunde  Berg» 
luft,  und  nachts  kann  man  dort  wunderbar 
schlafen,  da  es,  sobald  die  Sonne  untergegan» 
gen  ist,  merklich  abkühlt. 

In  Kakteen  gefallen 

Die  höchste  Bahnstation  der  Welt,  das  5000 
Meter  über  dem  Meeresspiegel  gelegene  Ticlio, 
erreicht  man  mit  der  Bahn  über  Chosica,  und 
von  Ticlio,  aus  eisiger  Kälte,  geht  es  wieder 
bergab  über  Tarma  nach  La  Merced,  das  800 
Meter  hoch  liegt,  wo  ausgesprochenes  Tropen» 
klima  ist.  Die  ganze  Fahrt  kann  man  heute  in 
18  Stunden  machen,  wobei  man  sämtliche 
Klimata  genießt.  Alle  Züge,  die  über  Chosica 
hinausfahren,  verlassen  Lima  nie  ohne  Arzt 
und  Sauerstoffapparate,  da  viele  Menschen  die 
Höhenluft  nicht  vertragen  können.  Die  Berge 
sind  kahl  und  steinig.  Nur  in  der  Regenzeit 
zeigt  sich  ein  kleines  Pflänzchen,  ähnlich  wie 
unsere  Begonien  mit  rosafarbigen  Blüten. 
Daneben  wachsen  Kakteen  in  vielen  Arten,  u.  a. 
auch  solche  mit  Früchten,  die  ähnlich  wie  un= 
sere  Stachelbeeren  schmecken.  Ich  bin  einmal 
beim  Pflücken  der  Früchte  ausgerutscht  und  in 
die  Kakteen  gefallen,  was  bestimmt  kein  Ver» 
gnügen  war,  denn  meine  Arme  und  Beine 
waren  voller  Stacheln,  die  nur  mit  großer  Ge» 
duld  und  unter  vielen  Schmerzen  entfernt  wer» 
den  konnten. 

Aschermittwoch  — letzter  Badetag 

Von  den  Bergen  kommen  die  „fruteras" 
(Obstverkäuferinnen)  mit  ihren  herrlichen 
Früchten  wie  Chirimoyas,  Paltas,  Granadillas, 
Mangos,  Bananen,  Äpfeln  usw.  in  die  Stadt.  Sie 
tragen  weite  Röcke  in  leuchtenden  Farben, 
einen  Panamahut  mit  schwarzem  Band  und  ihr 
schlichtes  schwarzes  Haar  in  Hängezöpfen.  Fast 
nie  sieht  man  eine  „frutera"  ohne  Kind  auf  dem 
Rücken,  das  sie  in  einem  schräg  auf  der  Brust 
verknoteten  Tuch  trägt.  Mit  der  größten  Selbst» 
Verständlichkeit  und  ganz  ungeniert  nährt  sie 
ihr  Kind  auf  der  Straße.  Die  „fruteras"  ge» 
hören  zu  den  sogenannten  „cholos",  das  sind 
Mischlinge  mit  glatten  schwarzen  Haaren, 
ganz  dunklen  Augen  und  gelblichem  Teint.  Die 
„cholos",  die  in  den  Bergen  wohnen,  wenn  sie 
nicht  als  Hausangestellte  in  der  Stadt  arbeiten, 
fertigen  u.  a.  auch  sehr  schöne  handgewebte 
Decken  und  Teppiche  an  in  hübschen  leuchten» 
den  Farben,  wobei  die  peruanischen  Landes» 
färben  Rot»Weiß  eine  große  Rolle  spielen. 

Zu  Weihnachten  beginnt  die  Badesaison. 
Von  den  frühen  Morgenstunden  bis  in  den 
Abend  sieht  man  die  Leute  zum  Strand  hin» 


84 


unter  wandern,  um  im  Meer  Erfrischung  zu 
suchen.  Es  ist  eine  Wonne,  sich  von  den  Wellen 
schaukeln  zu  lassen.  Hierzu  muß  man  sich 
natürlich  die  Zeit  aussuchen,  in  der  das  Wasser 
einigermaßen  ruhig  ist,  damit  man  nicht  zu 
weit  ins  offene  Meer  hinausgetrieben  wird.  Mit 
dem  Sonnen  nach  dem  Baden  muß  man  jedoch 
sehr  vorsichtig  sein,  da  man  dort  sehr  leicht 
einen  fürchterlichen  Sonnenbrand  bekommen 
kann.  Bis  zum  Karneval  dauert  die  Badezeit, 


Keiner  der  Ärzte  mochte  es  ihr  sagen,  als  sie 
nach  einem  schweren  Fliegerangriff  auf  Bre- 
men im  Krankenhaus  lag.  Frau  Gesine  Hill- 
mann war  als  Blinde  aus  den  Trümmern  ihres 
Hauses  geborgen  worden.  „Damals,  in  den 
ersten  schlimmen  Monaten,  hätte  ich  nie  ge- 
glaubt, daß  ich  jemals  wieder  als  vollwertiger 
Mensch  Freude  am  Leben  haben  könnte.  Aber 
meine  Angehörigen  machten  mir  vieles  leicht. 
Heute  verrichte  ich  manche  Hausarbeit  selber, 
und  auch  in  meinen  Mußestunden  bin  ich  nicht 
gern  ohne  Beschäftigung.  Mit  der  geliebten 
Nähmaschine  ist  es  zwar  vorbei,  aber  die 
Stricknadeln  stehen  nie  still.“  Das  Kleid,  das 
Frau  Hillmann  auf  dem  linken  Bild  trägt,  hat 
sie  selber  gestrickt.  Übrigens  backt  sie  auch 
allein  und  bedient  den  elektrischen  Herd.  Als 
sie  auf  den  Wiederaufbau  ihres  Hauses  war- 
ten mußte,  dachte  sie  sich  ihre  für  eine  blinde 
Hausfrau  wirklich  praktische  Küche  aus.  Auch 
für  die  Bremer  Kriegsblinden  ist  Frau  Hill- 
mann tätig.  In  ihrem  Haus  befindet  sich  das 
Auslieferungslager  der  Bürstenmacher,  das 
sie  mit  Hilfe  ihrer  Tochter  verwaltet.  Sie  be- 
dient das  Telefon,  packt  die  Pakete  und  ist 
immer  unermüdlich.  „Eine  prächtige  Kamera- 
din“, sagen  die  Bremer  Kriegsblinden. 

Fotos  (2):  Kuli 


dann  wird  das  Meer  sehr  wild,  so  daß  das 
Baden  sehr  gefährlich  wird  und  kein  Vergnü= 
gen  mehr  macht.  Am  Aschermittwoch  ist 
meistens  der  letzte  Badetag. 


„Eisige“  Scherze 

Die  Karnevalstage  werden  ausgiebig  ge= 
feiert.  Am  Karnevalssonntag  zieht  der  Karne= 
valszug  durch  die  Straßen  in  hübsch  geschmück= 
ten  Autos.  Alle  Karnevalsköniginnen  von  der 
Stadt  Lima  und  den  Vororten  fahren  mit  ihrem 
Gefolge  größtenteils  an  der  Spitze  des  Zuges. 
Das  Publikum  steht  Spalier,  wirft  Konfetti  und 
Papierschlangen  in  den  Zug  und  in  die  Men= 
schenmenge  und  bespritzt  sich  mit  parfümier= 
tem  Aether,  wobei  besonders  der  Nacken  und 
die  Beine  Zielscheibe  bilden.  Das  gibt  dann 
immer  im  Moment  einen  „eisigen"  Schreck.  — 
In  den  größeren  Lokalen,  es  sind  eigentlich  nur 
wenige,  findet  ein  Festball  statt.  Die  meisten 
feiern  jedoch  im  Hause  bei  Tanz  und  Erfri= 
schungen  oder  auf  der  Straße.  Drei  Tage  hält 
der  Trubel  an.  Die  Geschäfte  sind  ganz  ge= 
schlossen  oder  nur  für  kurze  Zeit  an  den  Kar= 
nevalstagen  geöffnet. 

Nach  Aschermittwoch  beginnt  die  stille  Zeit. 
In  der  Karwoche  gehen  fast  alle  Menschen, 
Frauen  und  Männer,  in  schwarzer  Kleidung. 
Für  uns  Deutsche  war  dies  alles  etwas  Unge= 
wohntes,  aber  man  lernt  schnell,  mit  diesen 
Dingen  fertig  zu  werden. 


Wenn  ein  deutscher  Kreuzer  kam 
Wenn  aber  einmal  ein  deutscher  Kreuzer 
nach  Callao  kam,  dann  gab  es  große  Feste  für 
uns.  Unsere  „blauen  Jungen"  wurden  von 


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Dieses  Thermometer,  dessen  Zeiger  abfiihl- 
bar  ist,  erlaubt  dem  kriegsblinden  Masseur, 
die  Temperatur  von  Bädern  oder  Packungen 
zu  messen.  Er  muß  allerdings,  da  es  sich  um 
eine  amerikanische  Erfindung  handelt,  die 
Werte  von  Fahrenheit  in  Celsius  umrechnen. 


Peruanern  und  Deutschen  sehr  herzlich  emp» 
fangen.  Ganz  Lima  und  Umgebung  war  auf 
den  Beinen.  Zum  Schluß  gab  es  immer  einen 
großen  Ball  für  die  deutsche  Kolonie,  zu  dem 
auch  viele  prominente  Peruaner  und  besonders 
die  Marine  eingeladen  wurden.  Diese  stellte 
dann  auch  ihre  Militärkapelle  zur  Verfügung, 
die  abwechselnd  mit  der  deutschen  Bordkapelle 
zum  Tanze  aufspielte. 

Zur  Zeit  um  Johanni  wachsen,  besonders  im 
Abancaytal,  viele,  viele  gelbe  Blumen,  die  Blü= 
ten  wie  schmale  Schwertlilien  haben.  Zu  dieser 
Blütenpracht  fährt  oder  geht  jung  und  alt  von 
Lima  und  Umgebung  ins  Abancaytal.  Es  ist 
wie  ein  Volksfest.  Überall  sind  Lebensmittel» 
stände,  die  erfrischende  Getränke,  belegte 
Brötchen  sowie  allerlei  Spezialitäten,  die  am 
Rost  gebraten  werden,  anbieten.  Dazwischen 
wird  gesungen  und  nach  Gitarrenklängen  ge- 
tanzt. 

Cala=Abende  mit  Brillanten 

Am  28.  und  30.  Juli  sind  die  peruanischen 
Nationalfeiertage.  Am  ersten  Tage  findet  ein 
Gala»Konzert  in  Anwesenheit  des  Staatspräsi» 
denten  statt.  Vielfach  sieht  man  bei  einer  sol= 
chen  Gala»Veranstaltung  die  Damen  noch  mit 
großen  Schmuckkämmen  im  Haar  und  den 
schönen,  großen,  bunten  spanischen  Schals 
(mantones)  um  die  Schultern.  Es  ist  ein  fest- 
liches, farbenfreudiges  Bild,  wenn  man  so  durch 
die  Reihen  schaut.  Da  der  Südamerikaner  über- 
haupt sehr  für  Schmuck  zu  haben  ist,  sieht  man 
überall  blitzende  Brillanten.  Auch  die  Herren 
tragen  viel  Brillanten.  In  den  Pausen  geht  es 
sehr  temperamentvoll  zu.  Lebhafte  Begrüßun- 
gen überall,  und  nette  Schmeicheleien  hört  man 
von  allen  Seiten.  Es  gibt  nicht  viele  kulturelle 
Veranstaltungen  in  Lima,  nur  wenn  auslän- 
dische Künstler  kommen.  Wenn  diese  aber  da 
sind,  gehört  es  einfach  zum  guten  Ton,  die  Ver- 
anstaltungen zu  besuchen,  ganz  einerlei,  ob 
man  etwas  davon  versteht  oder  nicht.  Aber  man 
muß  mitreden  können. 

Beim  Pferderennen  in  Lima  sieht  man  fast 
nur  Herren.  Außer  den  Ausländerinnen  geht 
hier  selten  eine  Frau  mit  zum  Rennen.  Gewöhn- 
lich sind  wir  anschließend  an  das  Rennen  noch 
in  ein  sehr  hübsches  Cafe  gegafigen,  in  dem 
eine  Wiener  Kapelle  spielte.  Selbstverständlich 
gab  es  dort  auch  einen  sehr  guten  Kaffee  und 
Kuchen  mit  Schlagsahne. 

Einmal  im  Jahr,  gewöhnlich  im  Rahmen  der 
Nationalfeiertage,  fand  auch  ein  größerer  Stier- 
kampf in  Anwesenheit  des  Staatspräsidenten 
statt.  Die  große  Begeisterung  des  Publikums 
bei  einem  Stierkampf  kann  man  nicht  be- 
schreiben, wenn  man  so  etwas  nicht  selbst  mal 
gesehen  hat.  Blumen,  Hüte  und  alle  möglichen 
sonstigen  Gegenstände  fliegen  vor  lauter  Be- 
geisterung mit  lautem  Gejohle,  Gegröle  und 
Füßetrampeln  in  die  Arena,  wenn  es  dem 


86 


„Torero"  geglückt  ist,  den  Stier  mit  einem 
Stoß  zu  töten. 

Auch  Hunderennen  und  Hahnenkämpfe  sind 
bei  den  Peruanern  sehr  beliebt. 

Die  Haustiere  in  den  Bergen  sind:  das  Lama, 
der  Esel  und  die  „mula"  (Reit*  und  Tragtier). 
Diese  Tiere  sind  unermüdlich  und  können 
stundenlang  ihre  Lasten  bergauf  und  bergab 
schleppen,  und  zwar  zum  Teil  über  ganz 
schmale  holperige  Gebirgspfade  und  auch 
durch  die  Flüsse,  also  dort,  wo  man  zu  Fuß 
kaum  gehen  kann.  Das  Tier  sucht  sich  selbst 
die  gangbarsten  Stellen  der  Wege,  Pfade  und 
Flüsse  von  einem  Dorf  zum  andern  und  ist 
dort  im  Gehen  viel  sicherer  als  der  Mensch. 

Eire  scharfe  Sache 

Beim  Essen  fehlt  niemals  der  Wein  oder  das 
Mineralwasser.  Es  gibt  in  Peru  eine  ganze  An* 
zahl  von  Schwefel*  und  Mineralquellen.  So  be* 
findet  sich  z.  B.  in  der  Nähe  von  Lima  die 
Mineralquelle  „Viso",  die  ganz  Lima  und  Um* 
gebung  mit  Mineralwasser  versorgt.  Niemals 
fehlt  ferner  beim  Essen  ein  Teller  mit  „arji" 
(einer  Art  Paprika),  vermischt  mit  kleinen  ge* 


hackten  Zwiebeln  und  öl.  Von  diesem  pikan* 
ten  Gewürz  darf  man  jedoch  nur  sehr  wenig 
nehmen,  da  es  einem  sonst  leicht  den  Atem 
verschlägt,  wie  es  mir  zuerst  auch  passierte 
zum  Gaudium  der  ganzen  Tischgesellschaft. 
Dabei  hatte  ich  nach  meiner  Meinung  gar  nicht 
mal  viel  davon  genommen,  da  mein  Mann 
mich  schon  davor  gewarnt  hatte,  und  doch  war 
es  genug  gewesen,  um  meine  Tränendrüsen  in 
Funktion  zu  setzen  und  einen  Hustenanfall  zu 
bekommen.  Die  peruanischen  Gerichte  schmek* 
ken  nämlich  mit  arji,  Zwiebeln  und  öl  ganz 
vorzüglich,  man  muß  sich  nur  erst  daran  ge= 
wöhnt  haben.  Auch  Knoblauch  essen  die 
Peruaner  gern  und  reichlich. 

Aber  ich  gerate  in  ein  endloses  Plaudern. 
Man  kann  schwer  den  Schlußpunkt  finden, 
wenn  man  an  eine  schöne  Zeit  zurückdenkt, 
von  der  man  stundenlang  erzählen  könnte. 
Neun  Jahre  habe  ich  in  Lima  gelebt,  ich  war 
glücklich  und  zufrieden  dort.  Ich  bin  für  diesen 
Schatz  kostbarer  Erinnerungen  um  so  dank* 
barer,  als  ich  jetzt,  da  mir  der  Krieg  das  Augen* 
licht  nahm,  mit  meinem  Sehen  auf  Erinnerun* 
gen  angewiesen  bin. 

Maria  Gebhard 


Wohnungsprobleme  - mit  Hartnäckigkeit  gelöst 

Ein  bezeidjnender  Beridit  des  ‘Wohnungsreferenten  der  Hamburger  ^Kriegsblinden 


Wer  im  Anschluß  an  diesen  Bericht  auch  die 
frohe  Schilderung  eines  Hamburgers  „Ich  habe 
ein  Häuschen"  lesen  wird,  der  wird  nach* 
empfinden  können,  was  es  für  jeden  Kriegs* 
blinden  bedeutet,  eine  richtige  Wohnung  oder 
gar  ein  eigenes  kleines  Häuschen  zu  haben. 
Bei  der  ungeheuren  Nervenanspannung,  die  ein 
Kriegsblinder  Stunde  für  Stunde  seines  Alltags 
aufzubringen  hat,  bedeutet  für  ihn  das  eigene 
Heim  zweifellos  mehr  als  für  einen  Sehenden, 
nämlich  fast  so  etwas  wie  eine  heilende  Medizin 
gegen  manch  bittere  Folgen  seiner  Erblindung. 
So  strengen  sich  alle  Landesverbände  und  Be* 
zirksvorstände  unseres  Kriegsblindenbundes 
an,  auf  dem  Gebiet  der  Wohnungs»  und  Sied* 
lungsfürsorge  den  Kameraden  tatkräftig  zu 
helfen.  Der  hier  folgende  Bericht  des  Landes* 
Verbandes  Hamburg  soll  also  nur  ein  Beispiel 
sein  für  die  Bemühungen,  die  allerorten  in 
Deutschland  vor  sich  gehen. 

Allerdings,  in  Hamburg  hatten  wir  es  beson* 
ders  schwer.  Durch  die  furchtbaren  Auswirkun* 
gen  des  Luftkrieges  hatte  die  Stadt  54  Prozent 
ihres  Wohnraumes  verloren.  So  war  es  unsere 
allererste  Aufgabe,  die  gänzlich  wohnungslosen 
Kriegsblinden  wenigstens  behelfsmäßig  unter- 
zubringen, um  ihnen  später  dann  wieder  zu 
angemessenen  Wohnverhältnissen  zu  verhelfen. 
Erschwerend  kam  hinzu,  daß  eine  große  Anzahl 
von  jungen  Kriegsblinden  aus  den  Hamburger 
Lazaretten  entlassen  wurde  imd  sich  in  Ham* 


bürg  verheiratete,  ohne  jeden  Wohnraum  zu 
haben. 

Erst  1946  gelang  es  gegen  mancherlei  Wider* 
stände,  die  Genehmigung  zum  Zusammenschluß 
der  Hamburger  Kriegsblinden  zu  erhalten. 
Schon  von  1947  an  bemühte  sich  zunächst  unser 
Kamerad  Willi  Harms  in  seiner  Eigenschaft  als 
Wohnungsreferent,  trotz  der  außerordentlichen 
Mangellage  die  schlimmsten  Fälle  durch  Zu* 
Weisung  von  Wohnraum  zu  mildern.  Anfang 
1949  gelang  es  ihm,  ein  halbes  Dutzend  ab* 
geschlossene  Neubauwohnungen  für  Kriegs* 
blinde  zu  erhalten.  Ein  ermutigender  Anfang, 


Robert  Friedei  G.m.b.  H., 
Stuttgart  • Bad  Cannstatt 

Fabrik  erster  Spezialitäten 
in  Zucket  und  Schokoiade 


87 


„Keine  Blindensiedlung!“  so  lautet  die  Einstellung  unserer  Hamburger  Kameraden.  „Wir 
wollen  mitten  unter  den  Sehenden  leben  und  nicht  von  ihnen  abgeschlossen.“  So  wohnen 
jetzt  in  dieser  hübschen  Reihenhaussiedlung  in  Blankenese  zehn  Kriegsblinde  mit  ihren 
Familien  und  vierzehn  .sehende.  Kriegsblinde  wohnen  hier  in  keinem  Fall  unmittelbar 
nebeneinander.  Zwecks  leichterer  Finanzierung  wurde  der  neue  Weg  des  Erbwohnrechts 
beschritten. 


aber  zunächst  doch  nicht  viel  mehr  als  ein 
Tropfen  auf  heißem  Stein.  Im  Frühjahr  1949 
wurde  ein  neuer  Wohnungsreferent  gewählt, 
dem  es  in  zäher  Arbeit  und  mit  Unterstützung 
der  Wohnungsbehörde  gelang,  in  den  folgen» 
den  Jahren  mehr  als  60  abgeschlossene  Neubau- 
wohnungen für  Kriegsblinde  zu  erhalten.  Eini- 
gen Kameraden  davon  wurde  mit  der  Wohnung 
auch  der  Zuzug  ermöglicht,  nachdem  selbstver- 
ständlich vorher  ein  Arbeitsplatz  für  sie  ge- 
funden war. 

Ein  besonders  fatales  Problem  lag  auf  einem 
anderen  Gebiet:  Hamburger  Kriegsblinde  hat- 
ten in  ihre  Wohnungen  Untermieter  eingewie- 
sen bekommen,  oder  — was  noch  schlimmer 
war  — man  hatte  sie  als  Untermieter  in  fremde 
Wohnungen  eingewiesen,  oft  in  Groß  Wohnun- 
gen zusammen  mit  einer  ganzen  Anzahl  von 
Mietparteien.  Die  Bereinigung  dieser  Fälle 
bringt  noch  heute  die  größten  Schwierigkeiten 
mit  sich,  nicht  nur  in  Hamburg,  sondern  überall, 
weil  von  den  zuständigen  Behörden  gern  fest- 
gestellt wird,  daß  diese  Kriegsblinden  aus- 
reichend untergebracht  seien.  Dieses  Wort  „aus- 
reichend" bezieht  sich  lediglich  auf  die  Quadrat- 
meteranzahl. Selten  aber  wird  bedacht,  was  es 
gerade  für  einen  Kriegsblinden  an  seelischer 
Belastung  und  an  Nervenstrapazen  bedeutet, 
im  Nebeneinander  mit  vielen,  obendrein  frem- 
den Menschen  und  in  großer  Beengung  nicht 
eigentlich  „daheim"  sein  zu  können.  Nur  ganz 
langsam,  Fall  für  Fall,  können  hier  Fortschritte 
erzielt  werden.  Immerhin  konnten  wir  in  Ham- 
burg seit  1949  wenigstens  16  solcher  Unter- 
mieterfälle bereinigen. 

Das  große  Ziel  mußte  aber  trotz  dieser 
schönen  Erfolge  immer  die  Beschaffung  eines 
Eigenheimes  bleiben,  ein  Ziel,  das  in  Hamburg 


schon  wegen  der  teuren  Grundstücke  und  wegen 
der  besonders  hohen  Baukosten  unerreichbar 
schien.  1951  stellte  unser  Landesverband  einen 
Antrag  an  den  Senat  der  Freien  und  Hanse- 
stadt Hamburg  auf  Bewilligung  zinsarmer 
Mittel  zum  Bau  von  Eigenheimen.  Sechs  Kame- 
raden haben  inzwischen  ihr  Vorhaben  glücklich 
zu  Ende  führen  können.  Andere  bau-  und  sied- 
lungswillige Kameraden  haben  die  Belastungen, 
die  solch  ein  eigenes  Bauvorhaben  mit  sich 
bringt,  nicht  auf  sich  nehmen  wollen  und  haben 
den  vom  Landesverband  Hamburg  beschritte- 
nen  neuen  Weg  des  Erbwohnrechts  mitgemacht. 
Grundlage  dieser  vererblichen  Wohnungen  (Ein- 
familienhäuser im  Reihenhausstil)  sind  Bestim- 
mungen über  das  Gesetz  über  das  Wohnungs- 
eigentum und  Dauerwohnrecht.  Zwei  Bauvor- 
haben sind  nach  diesen  Gesichtspunkten  jetzt 
zu  Ende  geführt  worden. 

In  Hamburg-Blankenese  hat  der  Bauverein 
der  Elbgemeinden  eine  kleine,  hübsche  Siedlung 
für  24  Familien  errichtet,  in  die  10  kriegsblinde 
Kameraden  eingezogen  sind.  Diese  Siedlung  ist 
ganz  besonders  mustergültig  und  neuzeitlich 
angelegt.  Die  einzelnen  Reihenhäuser  setzen 
sich  mit  einem  Höhenunterschied  von  etwa  1 m 
und  einer  rückwärtigen  Staffelung  von  eben- 
falls 1 m voneinander  ab  und  stellen  so  den 
Einzelhaustyp  besonders  vorteilhaft  heraus.  Die 
architektonische  Planung  hat  sich  dem  Gelände 
gut  angepaßt.  Weitere  8 Kameraden  werden  in 
Kürze  je  ein  Haus  beziehen,  das  die  Deutsche 
Wohnungsbaugesellschaft  in  Hamburg-Harburg 
im  Rahmen  einer  Reihenhaussiedlung  errichtet, 
und  zwar  mit  20  Einfamilienhäusern. 

' Wir  haben  also  besonderen  Wert  darauf  ge- 
legt, daß  unsere  kriegsblinden  Kameraden 
mitten  unter  Sehenden  wohnen,  damit  nicht 
der  Charakter  einer  Blindensiedlung  entsteht. 


88 


Nirgends  wohnen  Kriegsblinde 
nebeneinander,  sondern  immer  zwi= 
sehen  den  übrigen  Familien.  Eine 
Blindensiedlung  wird  aus  mancherlei 
Gründen  vom  Landesverband  abge= 
lehnt,  nicht  zuletzt  aus  psycholo= 
gischen.  All  diese  Häuser  haben 
einen  netten  kleinen  Hausgarten  mit 
Sitzterrasse,  so  daß  sich  der  Kamerad 
und  seine  Familie  wirklich  wohl  füh= 
len  können.  Die  Häuser  sind  alle 
unterkellert  und  haben  alle  eine 
eigene  Waschküche.  Selbstverständ= 
lieh  enthalten  sie  ein  Bad  und  eine 
moderne  Küche  mit  Warmwasser= 
boiler  usw. 


Auf  diesen  Erfolgen  will  sich  aber 
der  Landesverband  Hamburg  nicht 
ausruhen,  sondern  im  Laufe  des 
kommenden  Jahres  weitere  Bauvor» 
haben  mit  gemeinnützigen  Genos» 
senschaften  oder  Gesellschaften  in 
Angriff  nehmen.  So  sind  zwei  wei> 
tere  Eigenheime  geplant,  andere  Ver* 
handlungen  gelten  einem  Projekt 
auf  der  Basis  des  Erbwohnrechts  in 
Hamburg=Wandsbek.  Die  Wohnung 
bildet  den  Mittelpunkt  des  Lebens 
für  jeden  Kriegsblinden  und  seine 
Familie,  das  ist  die  Grunderkenntnis,  auf  die 
der  Hamburger  Vorstand  des  Kriegsblinden= 
bundes  seine  gesamte  Wohnungs»  und  Sied» 
lungsarbeit  aufbaut.  Nur  in  einer  schönen,  aber 
auch  zweckmäßig  eingerichteten  Wohnung 
kann  sich  der  Kriegsblinde  von  der  ständigen 


„Ich  bin  kein  Künstler“,  meint  der  junge  Kriegsblinde 
abwehrend,  „ich  hole  meine  Geige  nur  hervor,  weil  es  mir 
zum  Feierabend  Freude  macht.“  Sein  Publikum  sind  seine 
Kinder  oder  sein  kriegsblinder  Freund. 

Foto:  Böckstiegel 


Konzentration  seines  Arbeitstages  erholen  und 
von  der  aufreibenden  Anspannung  im  Straßen» 
verkehr.  Vergessen  sei  auch  nicht  der  Führ» 
hund,  der  nach  seinem  anstrengenden  Dienst 
einen  freien  Auslauf  und  eine  Erholung 
braucht. 

Das  Ziel  ist  auch  in  Hamburg  noch  nicht  er» 
reicht,  denn  es  ist  hoch  gesteckt.  Im  Interesse 
unserer  Hamburger  Kameraden  bleibt  noch 
viel  zu  tun  übrig.  Konrad  Halm 


Ich  habe  ein  Häuschen 


Die  einzelnen  Reihenhäuser  der  Siedlung  in 
Hamburg-Blankenese  setzen  sich  mit  einem 
Höhenunterschied  von  etwa  1 m und  einer 
rückwärtigen  Staffelung  von  ebenfalls  1 m 
voneinander  ab  und  stellen  so  auf  muster- 
gültige Weise  den  Einzelhaustyp  heraus.  In 
jedem  zweiten  oder  dritten  Haus  wohnt  ein 
Kriegsblinder.  Fotos  (2):  Erich  Andres 


Ich  habe  ein  Häuschen!  Da  steht  es,  wirklich 
und  wahrhaftig,  und  umschließt  mit  seinen  weiß 
verputzten  Mauern,  seinem  dunkelbraunen 
Spitzdach  zwei  größere  und  drei  kleine  Zimmer, 
Küche,  Bad  und  Keller.  In  fast  allen  Räumen 
helfen  Einbauschränke  Platz  sparen  und  Platz 
nutzen.  Ein  einziger  Kachelofen  macht  im  Win» 
ter  das  ganze  Haus  behaglich  warm.  Durch  die 
blanken  Fenster  sieht  man  den  jungen  Garten, 
der  mit  Obstbäumen,  BeerensträuAern,  Stau» 
den,  Blumen,  mit  .Kartoffeln  und  Bohnen,  mit 
Erdbeeren  und  Petersilie  ums  Haus  herum  hoff» 
nungsvoll  heranwächst  — alles  zusammen  um» 
schlossen  von  einer  noch  ganz  niedrigen  Weiß» 
dornhecke. 

Im  Hause  gibt  es  nichts  Unnötiges,  aber  jedes 
Familienmitglied,  jedes  Ding  hat  seine  Ord» 
nung  und  seinen  gehörigen  Raum.  Wir  brauchen 


Sp 


nicht  mehr  wie  früher  alle  Tage  hinter  den 
Vorhang  im  Zimmer  zwischen  Wand  und 
Schrank  zu  kriechen  und  aus  einem  hochgetürm» 
ten  Berg  von  Koffern  und  Kartons  irgendwelche 
Gegenstände  herauszüwühlen,  die  in  der  Woh« 
nung  sonst  nicht  untergebracht  werden  konn» 
ten.  Es  ist  besonders  für  mich  als  Kriegsblinden 
wichtig,  daß  ich  alles,  was  ich  brauche;  Schreib» 
und  Punktschriftmaschine,  Bücher,  Kleidung, 
Wäsche  und  die  mancherlei  Kleinigkeiten  des 
täglichen  Lebens  griffbereit  und  übersichtlich 
geordnet  und  verwahrt  finde.  Und  ich  kann 
mich  endlich  im  Zimmer  bewegen,  ohne  ständig 
Angst  haben  zu  müssen,  mich  zu  stoßen  oder 
über  etwas  zu  stolpern,  von  der  Wohltat  eines 
entspannenden  Gehens  im  Garten  ganz  zu 
schweigen. 

Über  ein  Jahr  leben  wir  nun  schon  in  unserm 
Haus,  und  es  scheint  uns  noch  heute  manchmal 
ganz  unglaubhaft,  daß  wir  nach  der  Vertreibung 
und  Zerstreuung  der  Familie,  nach  kümmer» 
lichem  gemeinsamem  Anfang  in  einem  Ba» 
rackenzimmer  des  Blindenheims,  für  das  wir 
damals  so  dankbar  waren,  und  nach  vier  Jahren 
Untermieter»Dasein  in  einer  häßlichen  Woh» 
nung  in  einem  großen  Mietshause  mit  seinem 
Lärm,  seiner  Unruhe  nun  wirklich  wieder  ein 


Heim  haben,  das  nicht  nur  der  Familie  genügend 
Raum  bietet,  sondern  sogar  noch  einen  Gast 
beherbergen  kann. 

Freilich  haben  wir  drei  Jahre  hart  genug 
darum  kämpfen  müssen,  und  hätte  nicht  mein 
Landesverband  unseres  Kriegsblindenbundes 
so  kräftig  vorgearbeitet  und  die  geldgebende 
Körperschaft  nicht  so  viel  Verständnis  bewiesen, 
ich  müßte  mich  noch  heute  damit  begnügen,  mit 
dem  Finger  auf  dem  Bauplan  herumzuspazie» 
ren,  den  mir  mein  Junge  mit  Mutters  Hilfe  aus 
schmalen  Holzleisten  und  Sandpapierstreifen 
auf  einer  Sperrholzplatte  nachgebildet  hatte. 

Nun  aber  haben  wir  wieder  eine  Heimstatt! 
Diese  Freude  teilen  wir  freilich  mit  allen  Men= 
sehen,  die  nach  Jahren  der  Beengung  und  Be= 
Schränkung  wieder  eine  ausreichende  Behau» 
sung  gefunden  haben.  Darüber  hinaus  aber 
brauchen  gerade  wir  Kriegsblinden  mehr  noch 
als  unsere  sehenden  Mitmenschen  eine  solche 
eigene  Heimstatt.  Der  Tag  verlangt  von  uns 
ein  solches  Maß  von  Aufmerksamkeit  und  An» 
Spannung,  daß  wir  das  auf  die  Dauer  nur 
leisten  können,  wenn  wir  uns  in  unserer  Frei» 
zeit  gut  erholen.  Den  ganzen  Tag  über  sind  wir 
mit  unseren  verbliebenen  Sinnen  auf  Wachsam» 


90 


keit  eingestellt.  Jeder  Schritt,  jede  Bewegung 
mu(3  bewußt  gemacht  werden,  jeder  Ton 
wird  aufgenommen,  geprüft,  gedeutet.  Dazu 
kommt  die  Tatsache,  daß  wir  einmal  haben 
sehen  können.  Das  ist  zwar  sehr  gut,  weil  da» 
durch  die  Welt  uns  „Bild"  geblieben  ist;  es 
hat  aber  den  Nachteil,  daß  wir  ständig  in  einer 
ähnlichen  Lage  sind  wie  ein  Sehender,  der  mit 
geschlossenen  Augen  geht  und  hantiert.  Wenn 
wir  uns  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  an 
diesen  Zustand  des  Am=Sehen=verhindert=Seins 
gewöhnt  haben,  es  bleibt  doch  ein  wenig  von 
der  Überwachsamkeit  zurück,  wie  sie  der 
Sehende  bei  geschlossenen  Augen  aufwendet. 

Hinzu  kommt  der  Nerven»  und  Kraftver» 
brauch  durch  die  Berufsarbeit.  Ich  kenne  aus 
eigener  Erfahrung  nur  Steno»  und  Schreib» 
maschinen»  und  Aktenarbeit  am  Schreibtisch. 
Hier  sind  die  Anforderungen  an  die  Leistung 
beim  Blinden  erheblich  höher  als  beim  Sehen» 
den.  Ähnlich  wird  es  den  kriegsblinden  Karne» 
raden  in  anderen  Berufen  gehen.  Ich  bin  jeden» 
falls  immer  redlich  müde,  wenn  ich  abends  aus 
dem  Omnibus  steige  und  heimgehe. 

Ich  kann  allein  heimfinden:  40  Doppelschritte 
in  Fahrtrichtung  an  einer  Hecke  entlang,  eine 
Rechtswendung,  75  Doppelschritte  immer  hübsch 
auf  der  Wegmitte  (rechts  ist  nämlich  ein  Gra» 
ben,  links  eine  Böschung;  aber  es  kann  ja  nichts 
passieren,  man  fühlt  die  Wölbung  der  Weg» 
mitte  beim  Gehen  genau),  dann  eine  Links» 
Wendung,  und  ich  habe  den  Plattenweg  vor  mir, 
der  mich  zur  Haustür  führt.  Auf  dieses  Heim» 


kommen  freue  ich  mich  Immer  von  neuem. 
Bedeutet  es  doch  Daheimsein,  Heimischsein, 
Geborgensein. 

Zugleich  mit  den  Straßenschuhen  kann  ich 
alle  Anspannung,  alle  Unruhe  des  Tages  ab» 


UNSER  HAUS 

Sommer  wird  es.  Allerwegen 
jubeln  Farben  uns  entgegen, 
Sonnentrunken,  regennaß. 

Haus  und  Garten  atmen  Helle, 
und  wir  stehen  auf  der  Schwelle, 
urh  uns  erstes  Blühn  im  Gras. 

Unser  Hausund  unser  Garienl 
Wieviel  schmerzlich  banges  Warten 
will  im  Sommerglanz  verwehn! 

Nun  muß  unser  Sein  gesunden, 
haben  wir  doch  heimgefunden, 
heim  nach  langem  Irregehn. 

LOTTE  SCHÜTZ 


legen.  Hier  ist  mir  jeder  Schritt,  jedes  Stück 
Boden  vertraut.  Hier  lebe  ich  recht  eigentlich, 
mit  meiner  Familie,  meinen  Büchern,  meinen 
Gedanken,  Freuden  und  Erwartungen.  Hier 
wartet  die  Stille,  die  mir  Einkehr  und  Beruh!» 
gung  schenkt.  Hier,  in  Haus  und  Garten,  wur» 
zeit  meine  Kraft,  Tag  für  Tag  neu  zu  bestehen. 

Bodo  Schütz 


BUDERUS 


ERZEUGNISSE  AUS  GUSSEISEN 


MUFFENDRUCKROHRE 
ABFLUSSROHRE 
HEIZKESSEL- RADIATOREN 
KANALGUSS 

BADEWANNEN  • SANITÄTSGUSS 
OFEN  -HERDE 

INDUSTRIE' U.  MASCHINENGUSS 
BERGWERKSGUSS 
EISENKUNSTGUSS -ZEMENT 


Es  war  wie  ein  Festtag  für  die  kleine  Familie, 
als  Thomas,  „der  Papi",  nach  einer  Magen« 
Operation  aus  dem  Krankenhaus  wieder  im 
häuslichen  Kreis  erschien,  zwar  noch  etwas 
blaß,  aber  das  würde  in  der  Obhut  der  Seinen 
bald  behoben  sein. 

Was  bei  den  Eltern  verhaltene,  stille  Freude 
blieb,  zeigte  sich  bei  Inge  und  Heidi  in  tempe« 
ramentvoller  Lebhaftigkeit  und  lautem  Jubel. 
Die  Kinder  fanden  kein  Ende  mit  Erzählen  und 
Fragen;  das  war  doch  etwas  anderes  als  nur 
während  der  kurzen  Besuchszeiten  -im  Kran« 
kenhaus,  nun  hatten  sie  ihren  Papi  wieder  ganz 
für  sich,  und  sie  hockten  wie  Kletten  an  und 
um  ihn.  Sie  fanden  es  prima,  daß  er  noch  nicht 
wieder  zur  Arbeit  ins  Büro  durfte.  Was  würde 
man  in  dieser  Zeit  nicht  alles  gemeinsam  tun 
können;  es  sprudelte  nur  so  von  Plänen  und 
Vorschlägen,  und  das  Plappern  mußte,  als  es 
für  die  Kinder  Zeit  zum  Schlafengehen  war, 
durch  ein  Machtwort  beendet  werden. 

„.  . . und  mach  Papi,  bitte,  wieder  ganz  ge« 
sund.  Amen!"  schloß  Heidi  ihr  Nachtgebet.  Als 
Thomas,  auf  dem  Bettrand  seiner  Jüngsten 
sitzend,  sich  wie  allabendlich  über  sie  beugen 
wollte,  trieb  sie  nicht  das  übliche  schelmische 
Spiel,  ihr  Mäulchen  vom  Papi  zum  Gutenacht« 
kuß  suchen  zu  lassen,  sondern  sie  richtete  sich 
aus  den  Kissen  auf,  nahm  behutsam  mit  ihren 
beiden  Händchen  seinen  Kopf  und  dirigierte  ihn 
auf  ihre  mollig=weichen  Lippen. 

„Du  sollst  dich  doch  noch  nicht  so  viel  bük« 


ken!"  sagte  sie  wie  entschuldigend  für  die 
heute  ausgefallene  Neckerei,  die  ihnen  doch 
sonst  abends  solchen  Spaß  gemacht  hatte.  Die 
gleiche,  altkluge  Besorgnis  sprach  auch  aus 
Inges  Bemerkung:  „Mach'  uns  ja  keinen  Kum« 
mer,  Papi,  und  werd'  uns  nicht  noch  mal  krank!" 

Lächelnd  versprach  es  Thomas  und  ließ  seine 
beiden  Trabanten  allein.  Er  wußte,  sie  würden 
noch  eine  Weile  tuschelnd  um  ihn  spintisieren 
und  dann  in  einen  gesunden  und  erholsamen 
Schlaf  sinken. 

Während  seine  Frau  noch  in  der  Küche  han« 
tierte,  saß  Thomas  im  Wohnzimmer  und  hing 
seinen  Gedanken  nach.  Die  uneingeschränkte 
Zuneigung  seiner  beiden  Kinder  war  ihm  seit 
je  und  wie  selbstverständlich  dargeboten  wor« 
den,  es  tat  ihm  so  wohl,  das  immer  wieder  be« 
stätigt  zu  finden,  und  er  empfand  das  dankbar 
als  ein  besonders  gütiges  und  heilsam=ausglei= 
chendes  Pflaster  auf  seine  nie  vernarbende 
Wunde.  Er  war  kriegsblind,  und  der  Verlust 
beider  Augen  — noch  1945,  kurz  vor  dem  völ« 
ligen  Zusammenbruch  des  Vaterlandes  — hatte 
ihn  und  seinen  Lebensmut  damals  schwer  ge« 
troffen.  Neben  deni  Kampf  in  ihm  selbst  zehrte 
die  Sorge  um  Frau  und  Kind  an  ihm  . . . 

Einmal  nur,  ein  einziges  Mal  im  Leben,  wäh« 
rend  eines  kurzen  Sonderurlaubs  im  Herbst 
1944,  hatte  er  seine  Inge  gesehen,  als  halb« 
jährigen  Säugling,  und  er  hatte  stolz  und 
glücklich  den  kleinen  Strampel  gewiegt  und  ge« 
tätschelt.  Dann  war  bald  in  der  Turbulenz  der 


92 


Ereignisse  jede  Verbindung  abgerissen.  Mehr» 
fach  von  einem  Lazarett  ins  andere  verlegt, 
durchlebte  er  qualvolle  Monate,  weitab  von  Frau 
und  Kind  und  durch  Zonengrenzen  von  ihnen 
getrennt.  Würden  sie  noch  leben,  waren  sie  in 
den  Trümmern  heil  geblieben,  lohnte  für  ihn 
das  Leben  noch? 

Inzwischen  aber  hatte  seine  Frau  immer  das 
Ziel  vor  Augen,  ihn  zu  finden  und  ihm  beizu= 
stehen.  Sein  Schicksal  war  ihr  durch  eine  Mit» 
teilung  des  Chefarztes  aus  dem  ersten  Auf» 
nahmelazarett  bekannt.  Als  sie  dann,  mit 
starkem  Herzen  die  vielerlei  Hemmnisse  der 
Nachkriegswirren  überwindend,  doch  endlich 
seinen  Aufenthalt  ausfindig  gemacht  hatte  und 
kurz  vor  Heiligabend  1945  im  Lazarett  vor  ihm 
stand  und  ihm  dabei  das  Töchterchen  in  die 
ungläubig  zitternd  ausgestreckten  Hände  gab, 
da  war  alle  Bangigkeit  in  ihm  ausgelöscht.  Es 
war  wie  ein  Wunder:  jetzt  wußte  er,  daß  er 
leben  mußte  und  leben  würde.  Wie  Himmels» 
musik  waren  ihm  Inges  erste  Worte  im  Herzen 
aufgegangen,  als  sie,  mit  ihren  beiden  Händ» 
eben  nach  seinen  Wangen  greifend,  so  zutrau» 
lieh  wie  zu  einem  alten  Bekannten  radebrechte; 

„Papile  teine  Äuglein  mehr  hat, 
aber  Inge  in  deine  Bille  is!"  O Selig» 
keit!  Die  leeren  Augenhöhlen,  vor 
deren  Eindruck  auf  das  Kind  ihm 
immer  so  gebangt  hatte,  waren  gar 
kein  Hindernis;  sein  Kind  war  mit 
einer  gänzlich  schrankenlosen  Zu» 
neigung  zu  ihm. 

„So  sieht  unser  Papi  aus",  hatte 
die  Mutter  das  Kind  von  klein  auf 
gelehrt,  indem  sie  ihm  ein  Bild  von 
Thomas  und  dabei  ihre  eigenen  ge» 
schlossenen  Augen  zeigte,  und  der 
dadurch  geschaffene  Grund  wurde 
mehr  und  mehr  zu  einem  unlösbaren 
Kontakt,  zu  dem  nun  so  selbstver» 
ständlich  scheinenden  festen  Band 
zwischen  ihm  und  dem  Kind. 

Bald  lustwandelte  Inge,  noch  nicht 
zwei  Jahre  alt,  mit  dem  Papi  durch 
den  Lazarettpark  und  erwies  sich 
nach  Muttis  Anweisungen  als  sehr 
gelehrig  und  rasch  als  brauchbare 
Führerin.  Machten  Baumstumpf  oder 
»wurzeln  den  Weg  uneben,  so  kurvte 
Inge  im  Bogen  herum  oder  hielt  an 
und  sagte:  „Papile,  Holz!"  Kamen 
sie  am  Kaninchengehege  vorbei, 
blieb  Inge  stehen  und  sang:  „Has, 
hüpf!"  — und  Papile  war  jedesmal 
im  Bilde. 

Als  Heidi  geboren  wurde,  lernte  sie 
bald  von  der  um  drei  Jahre  älteren 
Schwester  den  Umgang  mit  dem  Papi, 
und  heute  erfreuten  sie  beide  ihn 
durch  ein  Anpassungsvermögen, 
das  genau  um  die  Grenzen  der 


ihm  verbliebenen  Möglichkeiten  wußte,  wie  er 
es  bis  heute  kaum  bei  einem  Erwachsenen  je 
gefunden  hatte.  Sie  kannten  ihn  von  klein  an 
nur  so,  wie  er  war;  sie  wußten  genau  um  die 
erschwerten  Bedingungen  und  deshalb  schonten 
sie  ihn  nicht,  sondern  hatten  unbedingtes  Zu» 
trauen  zu  ihm  und  seinem  Können. 

Er  hatte  bald  die  gelbe  Armbinde  ablegen 
müssen,  weil  die  Kinder  meinten:  „Es  braucht 
nicht  jeder  zu  sehen,  daß  du  blind  bist,  Papi!", 
und  sicher  und  geborgen  ging  er  mit  ihnen  an 
der  Hand  bald  selbst  durch  den  dichtesten  Ver» 
kehr.  Dabei  war  es  für  sie  wie  selbstverständ» 
lieh,  daß  sie  ihn  an  allem  teilnehmen  ließen, 
was  sich  rundherum  tat.  So  hatten  sie  heute 
mit  9 und  6 Jahren  eine  erstaunliche  Fähigkeit, 
bewußt  zu  sehen  und  zu  beobachten  und  ihm  das 
auch  in  bildhafter  Beschreibung  so  nahezubrin» 
gen,  daß  er  mit  ihnen  an  der  Hand  den  Ver» 
lust  der  eigenen  optischen  Wahrnehmung  gar 
nicht  so  schmerzlich  spürte.  Auf  Spaziergängen 
mit  den  Kindern  erlebte  er  die  Natur  bunt  und 
bis  in  die  Einzelheiten,  denn  es  war  ihnen 
wichtig  genug,  ihm  selbst  ein  einzelnes  Blüm» 
eben  zu  beschreiben  oder  zu  zeigen. 


Die  Familie  weiß  es:  wenn  der  kriegsblinde  Vater 
Blumen  bekommen  soll,  so  werden  sie  nach  dem  Duft 
ausgewählt.  Foto;  Bartl 


93 


Zu  Hause  aber  mußte  er  ihnen  Grimms  Mär= 
chen  in  Punktschrift  vorlesen  und  mit  ihnen 
Würfelspiele  machen;  er  schubkarrte  oder 
balgte  mit  ihnen  auf  dem  Rasen,  saß  mit 
ihnen  auf  Wippe  oder  Schaukel,  die  er  für  sie 
auf  dem  Hof  hatte  anbringen  lassen,  und  was 
des  Zeitvertreibs  mehr  war. 

Wie  er  für  sie,  so  hatten  sie  für  ihn  immer 
Zeit;  aus  dem  schönsten  Spiel  konnte  er  sie 
abrufen,  wenn  er  ihren  Dienst  brauchte,  und 
sie  kamen  gern  und  sofort.  Die  Wege  zum  und 
vom  Büro  oder  sonst  jeder  Gang  mit  ihm  und 
für  ihn  waren  keine  Last  oder  lästige  Pflicht 


für  sie,  obwohl  es  dem  Vater  oft  leid  tat,  ein 
Kind  aus  dem  Kreis  der  Spielgefährten  weg= 
Zurufen.  Die  Kinder  eines  Kriegsblinden  müssen 
eben  frühzeitiger  „ran"  als  andere  Kinder. 

Aber  willig  und  ungezwungen  waren  sie 
immer  für  ihn  da,  und  er  konnte  sich  nur 
wünschen,  daß  es  mit  diesem  innigen  Verhält= 
nis  zwischen  ihm  und  den  Kindern  bleiben 
möchte.  War  es  nicht  verheißend,  wie  damals 
die  vierjährige  Heidi  auf  eine  mitleidig=bedau= 
ernde  Äußerung  einer  Nachbarin  impulsiv 
reagierte:  „Mein  Papi  ist  nicht  arm,  der  ist  lieb 
. . . und  gut!" 


Spitzenklasse  der  zweiäugigenSpiegelreflex 

FRANKE  & HEIDECKE  - BRAUNSCHWEIG 

An  manchzn  großen  Bahnhöfen,  vor  allem  in 
Hamburg,  findet  man  bei  der  Fahrplanaus- 
kunft Kriegsblinde.  Foto:  Keystone 


Bei  der  Deutschen 
Bundesbahn  erfüllen 
auch  Kriegsblinde 
vollwertige  Aufgaben 
im  Dienst 
der  Reisenden 


94 


»Die  anderen  wissen  es  nur  nicht* 


Die  kleinen  Tücken  des  Alltags  machen  uns  am  meisten  zu  schaffen 


Es  war  an  einem  Spätsommertag.  Unsere 
Nachbarsleute  hatten  uns  zu  einem  Besuch  ein= 
geladen.  Wir  kannten  uns  noch  kaum,  denn  ich 
wohnte  mit  meiner  Familie  noch  nicht  lange  im 
neuen  Haus.  Meine  Frau  und  ich  gingen  also  in 
der  späten  Nachmittagsstunde  auf  ein  Plauder= 
Stündchen  nach  nebenan.  Schon  vor  der  Tür 
wurden  wir  empfangen,  und  es  war  rührend, 
wie  man  sich  um  mich  sorgte.  Am  liebsten  hätte 
man  mich  über  die  Stufen  getragen,  aber  die 
Treppe  war  nur  so  breit,  daß  niemand  außer 
meiner  Frau  neben  mir  gehen  konnte  — zum 
Glück,  denn  es  ist  wirklich  nicht  angenehm, 
wenn  man  so  halb  geschoben,  halb  gehoben 
wird,  dann  stolpert  man  erst  recht. 

Endlich  saßen  wir  bei  Tisch,  und  nach  dem 
Kaffeetrinken  mußte  ich  erzählen.  Bei  der  Ver= 
wundung  fing  es  natürlich  an,  obwohl  ich  nicht 
gern  davon  spreche.  Der  Gastgeber  wollte  aber 
alles  wissen,  und  er  dachte  sich  auch  sicher 
nichts  Übles  dabei.  Gewiß,  manchen  Kriegs» 
blinden  macht  es  nichts  aus,  davon  zu  erzählen, 
aber  manche  werden  dadurch  vielleicht  an  der 
empfindlichsten  Stelle  berührt.  Als  ich  dann 
aber  von  meinem  Alltag,  von  der  Arbeit  und 
von  ähnlichen  Dingen  berichtete,  da  nahm  das 
Staunen  der  Nachbarsleute  kein  Ende.  Wie  war 
das  nur  möglich,  daß  ein  Blinder  maschine» 
schreiben,  stenographieren,  basteln  konnte!  Daß 
er  allein  ohne  Führung  gehen  und  vieles,  vieles 
mehr,  ja  fast  alles,  was  zum  Alltag  gehört, 
selbst  tun  konnte! 

„Ich  muß  ihnen  ehrlich  gestehen",  sagte  der 
Nachbar,  „ich  habe  immer  geglaubt,  ein  Blinder 
könne  nicht  einmal  allein  essen.  Nehmen  Sie 
mir  das  nicht  übel,  aber  man  kann  sich  als 
Sehender  einfach  nicht  vorstellen,  was  ein  Blin= 
der  alles  leisten  kann,  weil  man  glaubt,  ohne 
das  Augenlicht  ist  der  Mensch  hilflos." 

„Das  mag  sein",  entgegnete  ich,  „aber  wenn 
man  einmal  plötzlich  aus  dem  Licht  gerissen 
wird,  dann  muß  man  sich  helfen  können,  ob 
man  will  oder  nicht."  Ich  überlegte  mir  die 
Worte  unseres  Nachbarn  und  sah  ein,  daß  er 
nicht  im  Unrecht  war.  Wir  ärgern  uns  manch» 
mal  sogar  über  die  Ängstlichkeit  und  über» 
mäßige  Fürsorge  der  Sehenden,  die  nicht  wis» 
sen,  was  eigentlich  los  ist  — aber  ist  ihr  Ver» 
halten  nicht  allzu  verständlich?  Woher  sollen 
sie  es  anders  wissen,  wenn  wir  es  ihnen  nicht 
sagen  und  es  durch  unser  Beispiel  beweisen? 

Die  Sehenden  sind  als  völlig  Außenstehende 
uns  gegenüber  genau  so  hilflos,  wie  wir  es 
ihnen  gegenüber  sind,  wenn  wir  uns  nicht  ver» 
standen  wissen.  Das  immer  zu  wissen,  ist  für 
uns  wichtig. 

Es  dunkelte  schon,  als  wir  wieder  aufbrachen. 
Ein  milder  Abend  empfing  uns,  und  wir  be» 
schlossen,  noch  eine  kleine  Wanderung  zu 


unternehmen.  „Unsere  Nachbarn  sind  doch 
eigentlich  ganz  nette  Leute",  sagte  meine  Frau, 
während  wir  dem  Walde  zuschritten.  Ich  be» 
jahte  und  mußte  daran  denken,  wie  man  doch 
von  Nichtsahnenden  angesehen  wird.  Erst  als 
hilfloses  Bündel  Mensch  und  dann,  wenn  man 
ihnen  etwas  erzählt  hat,  wird  man  wie  ein 
Fakir  bewundert. 

„Siehst  du",  sagte  ich,  „die  meisten  glauben 
wer  weiß  was  von  uns  und  bestaunen  unsere 
Leistungen.  Gewiß,  sie  erfordern  Enerige,  aber 
so  bewundernswert  sind  sie  nun  wieder  nicht. 
Die  Leistung  an  sich  ist  doch  eigentlich  nicht 
das  Besondere.  Sie  aber  nur  fällt  den  Außen» 
stehenden  ins  Auge.  Wenn  ich  maschine» 
schreibe,  so  ist  das  mehr  eine  erlernbare  Sache 
und  weniger  ein  Beweis  kraftvoller  Persönlich» 
keit  oder  wie  immer  man's  nennt.  Aber  diese 
Art  von  Leistung  wird  von  den  Sehenden  be» 
wundert.  Schwieriger  finde  ich  aber  den  Alltag 
überhaupt! 

Was  meinst  du,  wie  ich  mich  vorhin  beim 
Torteessen  wieder  geärgert  habe!  Da  hat  man 
so  ein  schlüpfriges  Etwas  vor  sich,  eine  Kuchen» 
gabel  oder  ein  Löffelchen  dabei  und  dann  ver» 


TRIUMPH  WERKE  NÜRNBERG  A.G. 


95 


sucht  man,  dem  Ding  beizukommen.  Blamieren 
will  man  sich  nicht,  und  weiß  doch  die  Augen 
der  anderen  auf  sich  gerichtet.  Wie  die  Torte 
geschmeckt  hat,  weiß  ich  nicht.  Ich  mußte  mich 
viel  zu  viel  auf  das  Essen  konzentrieren  und 
wußte  doch  nie,  ob  ich  zuviel  oder  überhaupt 
etwas  zum  Munde  balancierte. 

Das  ist  es  aber  nicht  allein.  Morgens  fängt  es 
schon  an.  Zum  Glück  bist  du  ja  immer  da,  aber 
wenn  du  einmal  fort  bist,  dann  fummelt  man 
an  der  Krawatte  herum,  ob  sie  auch  gerade  sitzt, 
müht  sich  mit  dem  Scheitel,  damit  er  keinen 
Zickzackkurs  bekommt,  vielleicht  auch  macht 
man  sich  beim  Frühstück  einen  Marmeladefleck 
auf  den  Hemdkragen,  ohne  es  zu  bemerken,  und 
wenn  man's  bemerkt,  so  weiß  man  nicht,  ob 
man  den  Schaden  kurieren  konnte.  Endlich 
stolpert  man  los  ins  Büro,  tritt  in  eine  Pfütze 
und  weiß  nicht,  ob  man  sich  schmutzig  gemacht 
hat,  will  sich  dann  eine'  Zigarette  anstecken 
und  verbrennt  sich  die  Finger,  weil  man  das 


Zigarettenende  nicht  genau  gefunden  hat,  oder 
nimmt  die  brennende  Zigarette  gedankenlos  gar 
mit  dem  Glutende  in  den  Mund,  wird  von 
einem  Menschen  angesprochen,  hat  nicht  genau 
feststellen  können,  von  wo  er  spricht  und  ant’ 
wortet  in  die  falsche  Richtung  und  kann  im 
Augenblick  vielleicht  nicht  einmal  die  Stimme 
wiedererkennen,  tut  aber  sehr  vertraut,  um  sich 
nicht  zu  blamieren,  ach,  und  was  weiß  ich,  wor= 
über  man  sich  sonst  noch  ärgern  kann!" 

Meine  Frau  streicht  mir  beschwichtigend  über 
die  Hand,  aber  ich  war  gerade  in  Fahrt.  Einmal 
mußte  es  doch  gesagt  werden,  einmal  muß  man 
sich  die  ärgerlichen  Kleinigkeiten  von  der  Seele 
reden,  denn  das  tut  wohl!  „Siehst  du",  sagte 
ich,  „daß  man  all  diese  Kleinigkeiten  selbst  tut, 
ist  eine  klare  Sache,  aber  wie  zermürbend  sie 
auf  die  Dauer  werden  können,  kann  sich  nie= 
mand  vorstellen.  Davon  wissen  sie  alle  nichts. 
Das  Selbstverständliche  schließt  die 
Problematik  aus,  aber  nicht  bei  uns! 


Mit  38  Jahren  ist  er  wieder  Lehrling  geworden.  Aber  der 
Meister,  der  einst  vor  Verdun  sein  Augenlicht  verloren 
hat.  führt  ihn  mit  kameradschaftlicher  Geduld  in  die  Ge. 
heimnisse  des  Bürstenhandwerks  ein.  Bald  wird  der  Lehr- 
ling ein  freudigeres  Gesicht  machen,  dann  nämlich,  wenn 
er  die  erste  selbstgefertiegte  Scheuerbürste  in  der  Hand 
hält.  Er  wird  sie  voller  Stolz  seiner  Frau  schicken,  von 
der  er  für  einige  Monate  getrennt  leben  muß,  bis  er  im 
Staatlichen  Umschulungsheim  Tegernsee  seine  Ausbildung 
beendet  hat.  Foto:  dpa  - Bögler 


Das  Selbstverständlichste  ist  schwer 

Unser  Problem  ist  geradezu  die 
Selbstverständlichkeit,  mit  der  wir 
alles  tun  müssen,  schon  der  Selbst= 
erziehung  wegen,  sonst  veröden  wir 
ganz.  Die  Tücke  des  Objekts  be= 
kommt  jedoch  keiner  so  zu  spüren 
wie  gerade  wir.  Was  meinst  du,  wie 
schwer  es  ist,  sich  ein  Glas  Wein 
oder  sonst  etwas  einzugießen.  Ent= 
weder  läuft  es  über  oder  man  hat 
das  Glas  nur  halb  voll.  Natürlich, 
man  kann  beim  Eingießen  einen  Fin= 
ger  ins  Glas  halten,  zur  Kontrolle, 
aber  sehr  sympathisch  ist  das  auch 
nicht.  Hast  du  das  Glas  dann  abge= 
setzt  und  suchst  es  wieder  auf  dem 
Tisch,  dann  stößt  du  bestimmt  mit 
der  Hand  an  das  wackelige  Gebilde 
und  die  Bescherung  ist  da.  Der= 
gleichen  ist  es  eben,  was  uns  manch= 
mal  nicht  unerheblich  zusetzt,  bis  hin 
zu  dem  Kummer,  wenn  man  in  einer 
fremden  Wohnung  oder  gar  in  einem 
Lokal  menschlicherweise  mal  drin= 
gend  ...  — na,  lassen  wir  das!  Ge= 
reizt  dürfen  wir  aber  nie  sein,  schon 
gar  nicht  in  Gesellschaft,  eben  des= 
wegen,  weil  uns  alle  beobachten. 

Unter  diesen  Bedingungen  arbeitet 
man  im  Büro  oder  sonstwo,  und  dann 
kommt  womöglich  noch  so  ein  ganz 
Schlauer,  der  dir  unter  die  Nase  hält: 
Was  wollt  ihr  denn?  Habt  eine  dicke 
Rente,  Einkommen  noch  dazu,  euch 
kanns  doch  gar  nicht  besser  gehen! 
Das  ist  das  Schlimmste,  was  man 
obendrein  noch  zu  hören  bekommen 
kann.  Eigentlich  will  man  sich  über 


96 


Es  mag  paradox  klingen,  aber  jeder  Kriegsblinde  kann  „sehen“,  denn  er  hat  ja  starke 
Erinnerungsbilder,  kennt  Farben  und  Formen  und  kann  sich  auch  die  Landschaft  gut  vor- 
stellen, wenn  sie  ihm  liebevoll  erklärt  wird.  Die  kleine  Tochter  macht  es  in  ihrem  Eifer 
bestimmt  richtig,  wenn  auch  der  Vater  dem  weisenden  Finger  nicht  folgen  kann.  Foto:  Bartl 


solche  Redensarten  nicht  ärgern,  weil  diese 
Leute  nichts  dafür  können,  aber  man  ärgert 
sich  doch  und  nicht  zuwenig." 

Meine  Frau  hatte  still  zugehört,  und  als  sie 
dann  mit  ihrer  lieben,  warmen  Stimme  sagte: 
„Du  mußt  dich  nicht  ärgern!  Sie  wissen  es  nur 
nicht.  Ich  aber  weiß  es  und  verstehe  dich  doch!" 
— da  versöhnte  ich  mich  allmählich  wieder  mit 
der  Welt,  und  ich  fühlte  mich  verstanden  und 
geborgen.  „Ja,  sie  wissen  es  nur  nicht",  wieder» 
holte  ich,  „sie  wissen  es  nur  nicht!" 

„Wollen  wir  noch  auf  den  Berg  steigen", 
fragte  meine  Frau  dann,  als  wir  schon  mitten 
im  Walde  waren.  „Die  Nacht  ist  so  schön!" 
Langsam  stiegen  wir  den  Berg  hinan,  und  meine 
Frau  sagte  mir  immer,  wo  wir  waren.  Meine 
Hand  griff  zur  Seite  und  fühlte  feuchten  Rasen. 
Wir  mußten  in  einem  Hohlweg  sein.  Murmelnd 
rollten  die  Steine  talwärts,  wenn  der  Fuß  sie 
aus  der  Erde  löste,  und  das  Rauschen  der  Nacht 
in  den  Zweigen  verriet  mir  den  Wald  zu  beiden 
Seiten.  Schritt  um  Schritt  stiegen  wir  aufwärts, 
und  jeder  Schritt  brachte  einen  neuen  Eindruck, 
und  die  Mannigfaltigkeit  der  Eindrücke  schuf 
das  Mosaik,  das  mir  das  Bild  dieser  Landschaft 
vermittelte.  Wir  mußten  bald  die  Höhe  erreicht 
haben.  Ein  schwacher  Luftzug  streifte  mein  Ge= 
sicht,  und  ich  fühlte  die  Weite  zu  beiden  Seiten. 
Der  schwere  Duft  der  Tannen  blieb  zurück  und 


auch  das  Raunen.  Wir  hatten  den  Wald  ver= 
lassen  und  standen  auf  der  Höhe.  Über  uns 
hängte  der  Mond  sein  silbernes  Laternchen  an 
das  Himmelsgewölbe,  und  aus  dem  Tale  drang 
der  Schlag  einer  Turmuhr  matt  herauf,  schleppte 
sich  wieder  bergab  und  verhallte  in  der  Nacht. 

Ich  fühlte,  wie  meine  Frau  den  Kopf  zu  mir 
hob,  wie  ihre  Hand  die  meine  nahm,  dann  sagte 
sie  leise:  „Schön  ist  es  hier  oben!"  „Ja",  dachte 
ich  glücklich,  „aus  kleinen  Teilen  baue  ich  mir 
das  Bild,  und  ich  weiß,  wo  ich  gehe  und  wie  es 
um  mich  herum  aussieht,  geführt  von  dem  lieb» 
sten  Menschen,  den  es  gibt . . ." 

Langsam  hob  ich  den  Kopf  und  richtete  meine 
Augen  — fast  vergaß  ich,  daß  es  tote  Gebilde 
waren  — zum  Himmel. 

„Auch  die  Nacht  ist  dunkel,  so  wie  es  in  mir 
und  um  mich  herum  ist,  und  doch  leuchten  darin 
unzählige  Sterne,  die  alle  zusammen  ein  Bild 
ergeben,  das  schön  und  wunderbar  ist.  Auch  in 
mir  sind  Sterne,  die  ich  nur  zum  Leuchten 
bringen  muß  — und  ich  bin  sehend." 

Leise  lehnte  sich  ihr  Kopf  an  meine  Schulter. 
Einen  Augenblick  nur  mußte  ich  an  die  ärger» 
liehen  Kleinigkeiten  des  Alltags  denken,  von 
denen  die  anderen  nichts  wissen,  aber  sogleich 
waren  diese  Gedanken  wieder  fort.  Umfing  mich 
in  dieser  Stunde  nicht  ein  Hauch  von  Glück? 

Franz  Feistner 


7 


97 


RUNDSCHLEIFMASCHINEN 

MASCHINEN  FÜR  M OTO  R E N- 1 N ST  A N D S ET  ZU  N G 

SPIRALBOHRER-SCHLEIFMASCHINEN 

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UND  SCHLEIFMITTELWERKE  AG 

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9« 


„So  ein  kleiner  Blonder,  bitte,  im  zweiten  Stock" 


6in  kriegsblinder  Telefonist  schreibt  hier  an  seinen  Chef 


Sehr  verehrter  Herr  Oberstadtdirektor! 

Vor  Jahresfrist  hatten  Sie  die  Freundlichkeit, 
Ihre  Zustimmung  für  meine  Einstellung  als 
Telefonist  zu  geben.  Erlauben  Sie  mir.  Ihnen 
heute  meinen  Dank  zu  sagen  und  von  dem  zu 
reden,  was  für  mich  so  etwas  wie  eine  Revo= 
lution  bedeutet  hat. 

Am  23.  Juni  1943  legten  russische  Partisanen 
zwei  Holzkastenminen  auf  einen  schmalen  Ge= 
birgspfad  im  Jailagebirge.  Meine  Augen  ent= 
deckten  eine  Mine,  die  mir  also  nicht  schaden 
konnte.  Mißtrauisch  untersuchte  ich  eine  zweite 
verdächtige  Stelle  des  Pfades.  Ein  kurzer  Knall 
und  ein  gelblichroter  Schein  warfen  mich  zurück, 
und  ich  hatte  zum  letzten  Male  Busch  und  Gras, 
Himmel  und  Sonne  gesehen.  Meine  rechte  Hand 
hatte  sich  an  diesem  Tag  das  letzte  Mal  in  die 
Hand  meines  Vorgesetzten  gelegt;  denn  auch 
sie  war  mir  abgerissen  worden.  In  einem  Bres= 
lauer  Lazarett  hörte  ich  dann  von  einer  frem« 
den  Frau  die  Worte:  „Mein  Vater  war  sein 
ganzes  Leben  lang  an  den  Rollstuhl  gebunden, 
aber  nie  hat  er  uns  fühlen  lassen,  daß  er  ein 
Leidender  ist."  Nun,  sollte  ich  nicht  auch  das 
schaffen,  was  andere  Menschen  vollbrachten? 
Heute  kann  ich  wohl  sagen,  ich  habe  es  ge» 
schafft. 

„Einarmig  und  blind?  Unmöglich!" 

Voll  Hoffnung  erlernte  ich  die  Punktschrift, 
das  Schreiben  auf  der  Schreibmaschine  und  die 
Bedienung  eines  Vermittlungsgerätes.  Mit  einem 
guten  Zeugnis  meiner  Umschulung  meldete  ich 
mich  im  Januar  1946  bei  der  Hauptfürsorge» 
stelle,  in  der  Gewißheit,  recht  bald  eine  Tätig» 
keit  als  Telefonist  zu  erhalten. 

Aber  wie  oft  habe  ich  mein  Zeugnis  abge» 
schrieben  und  beglaubigen  lassen,  wie  oft  habe 
ich  mich  im  Arbeitsamt,  bei  Firmen  und  Be» 
hörden  vorgestellt!  Ich  weiß  es  nicht.  Meine 
fehlende  rechte  Hand  war  der  Grund  jeder  Ab» 
Weisung.  Ich  wollte  aber  etwas  zu  tun  haben 
und  bastelte  und  baute  alles  mögliche,  was 
meine  lungen  brauchen  konnten,  packte  da  an, 
wo  ich  nur  eine  Hilfe  für  meine  Frau  witterte. 
In  diesen  Jahren  habe  ich  es  gespürt,  daß  die 
Arbeit  für  den  Menschen  der  größte  Segen  des 
Himmels  ist.  Ich  weiß  es  nicht,  wie  viele  Men» 
sehen  es  auch  nur  ahnen,  wie  groß  die  Hoff» 
nung  ist,  mit  der  man,  gepaart  mit  Geduld, 
jeden  Tag  aut  eine  geregelte  Tätigkeit  wartet. 

Mit  Nummer  288g  fing  es  an 

Am  25.  September  haben  Sie,  Herr  Ober» 
Stadtdirektor,  mein  Hoffen  und  Warten  mit 
Ihrem  „Ja"  für  meine  Einstellung  belohnt.  Am 
1.  Oktober  1952  betrat  ich  das  erstemal  die 
Vermittlung  der  städtischen  Telefonzentrale. 
Ein  etwas  komisches  Gefühl  konnte  ich  nicht 


verbergen,  als  ich  von  7 Vermittlungsschränken 
mit  je  zehn  Amtsleitungen  erfuhr.  Ich  machte 
mir  selbst  Mut,  indem  ich  mir  sagte;  „Du  mußt 
es  schaffen!"  Ich  wollte  den  Abteilungsleiter, 
der  sich  so  warmherzig  für  meine  Einstellung 
eingesetzt  hatte,  nicht  enttäuschen. 

Der  Vermittlungsschrank,  an  dem  ich  einmal 
sitzen  sollte,  erforderte  einen  Umbau.  In  der 
Zwischenzeit  saß  ich  zur  Einführung  am  Ver» 
mittlungsschrank  einer  Kollegin,  das  Mikro» 
phon  auf  der  Brust  und  den  Kopfhörer  am  lin» 
ken  Ohr,  auf  Namen,  Nummern  und  Amts» 
stellen  lauschend.  Nach  6 Wochen  durfte  ich 
dann  zum  ersten  Male  allein  an  meinem  Ver» 
mittlungsschrank  sitzen,  die  Abfragetaste  drük» 
ken  und  den  Anrufer  nach  seinem  Wunsch 
fragen.  Es  war  der  Apparat  mit  der  Nummer 
2889,  den  ich  zuerst  rief. 

300  vierstellige  Zahlen  im  Kopf 

Meine  Freude  war  unendlich  groß,  wieder  ein 
geregeltes  Leben  mit  Sinneskonzentrierung 
führen  zu  können.  Und  diese  meine  Freude  hat 
mir  wohl  auch  geholfen,  die  fast  500  Namen 
mit  den  dazugehörenden  300  vierstelligen  Zah» 


Im  Neuen  Rathaus  in  Hannover  ist  seit  kurzem 
der  einarmige  kriegsblinde  Telefonist  Kurt 
Schwager  tätig,  der  auf  diesen  Seiten  einiges 
aus  seinem  Erleben  erzählt.  Nach  seiner  Um- 
schulung mußte  er  sechs  trostlose,  lange  Jahre 
warten,  bis  er  Arbeit  fand.  Niemand  traute 
dem  Einarmigen  etwas  zu.  Jetzt  gilt  er,  der 
ehemalige  Schlosser,  als  ausgezeichnete  Kraft. 

Foto:  Hauschild 


7* 


99 


len  im  Gedächtnis  zu  haben.  Zwischen  750  und 
800  Anrufe  einschließlich  der  Ferngespräche 
habe  ich  leden  Tag  zu  vermitteln. 

Oft  habe  ich  von  sehenden  Telefonistinnen 
gehört,  daß  diese  Tätigkeit  eintönig  und  darum 
nervenfressend  sei.  Nun,  bis  jetzt  kann  ich  das 
Gegenteil  sagen.  Jeder  Anrufer  hat  eine  andere 
Ausdrucksform  und  eine  andere  Stimme.  Viele 
Anrufer  wissen,  mit  welcher  Abteilung  oder  mit 
welchem  Beamten  sie  verbunden  werden  sollen. 
Sehr  viele  aber  wissen  weder  den  Namen  des 
gewünschten  Beamten  noch  die  Bezeichnung 
der  Amtsstelle.  Ein  Anruf  folgt  aber  auf  den 
andern,  und  so  ist  die  Zeit  sehr  knapp,  um 
das  Anliegen  des  Anrufers  zu  erkennen.  Es  ist 
keine  Seltenheit,  daß  ich  dem  Anrufer  durch 
Nennung  eines  Namens  oder  einer  für  ihn  zu= 
ständigen  Amtsstelle  helfen  kann  und  dann 
sehr  freundliche  und  dankbare  Worte  höre. 

Geduldspiele  mit  Teilnehmern 

Oft  kommt  es  auch  vor,  daß  der  Anrufer  ge» 
rade  im  Augenblick  den  Namen  des  Gesprächs» 
Partners  vergessen  hat.  Dann  höre  ich  meist: 
„Nanu,  wie  hieß  er  doch?"  oder  „Verflucht 
noch  mal!"  oder  „Verbinden  Sie  mich  mit  — 
mit  — hm  — mhä  — na.  Sie  wissen  doch,  der 
kleine  Blonde,  gleich  im  zweiten  Stock  rechts." 
Tja,  wie  soll  ich  das  nun  wissen? 

Am  schlimmsten  aber  sind  die  Teilnehmer, 
die  zuerst  ihren  Vor=  und  Zunamen,  dann  die 
Straße  mit  Hausnummer  und  Stockwerk  an» 


geben  und  sodann  fragen,  ob  man  ihnen  eine 
große  Bitte  erfüllen  würde.  Während  sie  das 
alles  sagen,  warten  ©ft  sechs  und  noch  mehr 
Teilnehmer  auf  meine  Meldung:  „Stadtver» 
waltung!"  Von  den  langatmigen  Teilnehmern 
aber  kann  ich  mich  nicht  abschalten;  denn  dies 
wäre  eine  grobe  Unart.  Die  nun  Wartenden  be= 
kommen  dafür  ein  um  so  freundlicheres  „Stadt» 
Verwaltung"  zu  hören.  Immer  habe  ich  ihnen 
damit  den  Mißmut  über  längeres  Warten  ver» 
jagt,  und  oft  entschuldige  ich  mich  noch. 

Zigarrenanzünden  dauert  eine  Stunde 

Vom  vielen  Sprechen  stellt  sich  dann  auch 
nicht  selten  der  große  Appetit  nach  einer  Zi» 
garre  ein;  ich  kann  sie  mir  ja  nun  endlich 
leisten,  weil  ich  entlohnt  werde.  Oft  aber  dauert 
es  länger  als  eine  Stunde,  bis  die  Zigarre  ab» 
geschnitten  und  angezündet  ist.  Der  Anrufer 
muß  zuerst  bedient  werden,  immer  im  Bewußt» 
sein,  daß  ich  die  erste  Tür  zu  den  Beamten,  An» 
gestellten  und  Amtsstellen  öffne  und  daß  der 
erste  Eindruck  der  untrüglichste  ist.  So  emp» 
finde  ich  jeden  Tag  viel  Freude,  die  manche 
Sorge  anderer  Art  verjagt  und  meine  Gesund» 
heit  festigt.  Ich  kannte  einmal  Kopfschmerzen. 
Vergessen  habe  ich  sie  nicht,  aber  Kopfschmer» 
zen=Tabletten  vergesse  ich  nun  zu  kaufen. 

Mein  Dank,  Herr  Oberstadtdirektor,  klingt 
in  der  Bitte  aus,  noch  weiteren  Kriegsblinden 
zu  einem  wieder  freudevollen  Leben  zu  ver» 
helfen,  denn  nur  Arbeit  ist  für  den  Kriegsblin» 
den  beglückend.  Kurt  Schwager 


So  sieht  der  Arbeitsplatz  eines  kriegsblinden  Telefonisten  aus.  Die  Anlage  unterscheidet  sich 
nur  durch  eine  Kleinigkeit  von  den  üblichen  Vermittlungseinrichtungen:  statt  der  sonst  auf. 
leuchtenden  Lämpchen  springt  ein  kleiner  Stift  hervor,  der  rasch  mit  den  Fingern  ertastet 
wird.  Unser  Foto  wurde  im  Regierungspräsidium  Darmstadt  aufgenommen.  Tn  einer  Be- 
urteilung des  Regierungspräsidenten  heißt  es  über  den  hier  tätigen  KriegsblinBen:  „Dieser 
Kriegsblinde  leistet  Hervorragendes  auf  dem  Gebiete  der  Fernsprechvermittlung.  Irgend- 
welche Beanstandungen  haben  sich  aus  der  Besetzung  der  Arbeitsstelle  mit  einem  Kriegs- 
blinden nicht  ergeben.  Die  Arbeitsleistung  unseres  Kriegsblinden  ist  der  eines  Gesunden 
gleich.  Er  hat  täglich  ca.  800  bis  1000  ankommende  Gespräche  abzuwickeln  sowie  etwa  100 
abgehende  Ferngespräche.“  (Aus:  Gust.  „Der  blinde  Telefonist“) 


200 


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lOnntwiwung 


Querschnitt  durch  den 
Ta  s t s t il  t 


So  sieht  der  Techniker  das  Vermittlungsgerät  eines  kriegsblinden  Telefonisten  (Neha- 
Anlage).  Anstatt  der  sonst  aufglühenden  Lämpchen  springen  kleine  Taststifte  hoch  (z.  B.  an 
den  Punkten  6,  7 und  16).  Die  Blindentastzeichen  sind  auf  einfachste  Weise  mit  den  sonst 
üblichen  Fernsprechglühlampen  auszuwechseln  und  haben  (rechtes  Bild)  die  gleiche  Form, 
eine  Erfindung,  die  wir  Kriegsblinden  dem  Oberingenieur  Friedrich  Wilhelm  Gust  von  der 
Firma  Siemens  & Halske  verdanken.  Die  Umstellung  einer  normalen  Vermittlungsanlage 
aut  Blindenbedienung  erfordert  also  nur  einen  sehr  geringen  Aufwand,  der  obendrein  von 
den  Hauptfürsorgestellen  getragen  wird.  Da  die  Taststifte  auch  gut  sichtbar  sind,  sind  die 
Geräte,  wenn  man  nicht  die  Taststifte  mit  den  Glühlampen  auswechseln  will,  auch  für 
Sehende  leicht  bedienbar.  Die  schematische  Darstellung  zeigt:  1.  Handapparat,  2.  Drehnum- 
mernschalter, 3.  Zugnummernschalter  mit  Markierung  bei  Ziff.  3 und  Ziff.  6 (links  die  un- 
geraden, rechts  die  geraden  Zahlen),  4.  Stöpsel  für  Kopfsprechhörer,  5.  Abfragetasten  der 
Amtsleitung,  6.  Anruftastzeichen  der  Amtsleitungen,  7.  Überwachungstastzeichen  der  Amts- 
leitungen, 8.  Kettengesprächstasten  mit  Einkerbungen,  9.  Bezeichnungsstreifen  in  Blinden- 
schrift, 10.  Trenntaste  T.  11.  Ruftaste  R.  12.  Mithörtaste  M,  13.  Hausleitungstaste  H,  14. 
Flackertaste  zum  Fernamt,  15.  Rückfragetaste,  16.  Tastzeichen  für  zentrale  Funktionen. 
17.  Fingerführungsschiene  mit  (18.)  Markierungskuppen,  19.  Zahlengebertastatur,  20.  Markie- 
rungsleiste, 21.  Schlußtaste  S.  (Aus:  Gust.  „Der  blinde  Telefonist“) 


Rowenta 


c' 


ALUMINIUMWERKE  NÜRNBERG  G.M.B.H. 

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Leichtmetall-Zylinderköpfe  für  Verbrennungsmotoren  • Nüral-Leichtmetall-Sand-, 
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Fahrzeug-  und  Schiffbau  sowie  für  alle  sonstigen  Industriezweige 


101 


Begegnung  mit  Edwin  Scharff 

Ein  großer  deutscher  Bildhauer  der  Gegenwart 


„Was  ist  eigentlich  neu  an  der  sogenannten 
neuen  Kunst?"  hört  man  oft  fragen.  Und  man 
erhält  zur  Antwort:  „Nichts  oder  doch  nicht 
viel  mehr  als  das  Anknüpfen  an  das  Neue  von 
gestern  und  vorgestern.  In  der  heutigen  biU 
denden  Kunst  gibt  es  nichts  weiter  als  Wieder= 
holung." 

Gibt  es  wirklich  nichts  weiter? 

Wir  sprechen  darüber  im  Sommerhaus  des 
Bildhauers  Edwin  Scharff  in  Kämpen  auf  Sylt. 
Es  ist  ein  schönes  altes  Friesenhaus,  lang  und 
schmal,  einstöckig,  mit  niedrigen  Decken, 
kachelbekleideten  Wänden  und  Schrankbetten. 
Der  Hauptflügel,  das  Wohnhaus,  hat  einen 
hübschen,  nach  Süden  gewandten  Giebel,  und 
das  Giebelzimmer  mit  schrägen,  grauen  Holz= 
wänden  ist  das  Atelier  des  Professors.  Wir 
sehen  uns  um.  Das  alte  Haus  dient  nun  nicht 
mehr  wie  früher  Bauern  oder  Fischern  als  Woh» 
nung.  Ein  Bildhauer  wohnt  darin.  Er  hat,  ohne 
die  Grundform  des  Ganzen  zu  zerstören  und 
ohne  ein  Museum  daraus  zu  machen,  das  Haus 
umgeformt.  Bildnerische  Phantasie  ist  hier  am 
Werk,  man  spürt  es.  Nicht  darum,  weil  an  den 
Wänden  Tuschzeichnungen  hängen.  Es  sind  jene 
charakteristischen,  auf  den  ersten  Blick  als 
„Scharffsche  Pferde"  erkennbaren  Umrisse,  es 
sind  bäuerliche  und  biblische  Szenen.  Neben 
zwei  Aquarellen,  die  Scharffs  Kinder  in  frühem 
Alter  gemacht  haben,  hängen  haarfeine  Feder= 
Zeichnungen.  Sie  sind  vor  dem  ersten  Weltkrieg 
entstanden,  bei  einem  Aufenthalt  im  Gebirge: 
Libellen  und  Grillen,  gläsern  und  spröde;  da» 
zwischen  Schnecken  mit  körnigem  Kalkpanzer. 
Man  sieht  auch  Bronzeplaketten  in  dem  Giebel» 
atelier,  Skizzen  von  Schafen  und  Widdern,  auf 
dem  Arbeitstisch  die  eben  fertig  gewordene 
Zeichnung  einer  Tänzerin  — aber  nicht  darin 
allein  äußert  sich  der  Geist  einer  bildschöpfe» 
rischen  Phantasie.  Man  erkennt  ihn  aus  hun= 
dert  Dingen,  aus  der  Art,  wie  Muscheln  und 
Steine  auf  einem  Zinnteller  liegen,  wie  der 
alte  Birnbaum  und  die  Holunderbüsche  hinter 
dem  Hause  wachsen,  sie  wachsen  „plastisch", 
man  kann  es  nicht  anders  sagen  . . . 

Der  Regisseur  Barlog  aus  Berlin,  der  mit  uns 
gekommen  ist,  begeistert  sich  an  dem  szenisch 


Gebauten  der  Bilder.  „Sie  müßten  Bühnenent» 
würfe  machen",  sagt  er.  Und  nach  der  Betrach» 
tung  der  Tuschzeichnungen  und  Tierstudien: 
„Ihre  Pferde  sind  Römer!" 

Edwin  Scharff  bestreitet  das  nicht.  Er  ist  ein 
breitschultriger,  hochgewachsener  Mann,  mäch» 
tig  sein  Schädel,  hell  und  durchdringend,  die 
Augen.  Es  ist  Weite  in  diesem  Blick,  jene  Weite, 
die  er  selbst  für  das  Schaffen  als  entscheidend 
betrachtet.  „Alles",  so  hat  er  gesagt,  „hängt  ab 
von  der  Stärke  der  Empfindung  des  Gestalten» 
den,  von  der  Weite,  Höhe  und  Tiefe  seines 
Himmels,  von  der  Eigenart  seiner  Erlebnisse, 
von  dem  erkennenden,  ordnenden,  klären» 
den  Sinn  und  dem,  was  die  Natur  dem  Künst» 
1er  sozusagen  in  die  Hand  gegeben." 

Der  „ordnende,  klärende  Sinn"?  Wird  er 
nicht  gerade  der  „neuen"  Kunst  gern  abge» 
sprochen? 

Oft  bestimmt  eine  Begegnung  den  Weg 
eines  schöpferischen  Menschen.  Bei  Barlach 
war  es  das  Erlebnis  Rußlands.  Bei  Edwin 
Scharff  war  es  nicht  nur  das  Römische,  nicht 
nur  die  südlich=klare,  die  klassische  Form. 
Scharff  sah  — es  war  vor  dem  ersten  Weltkrieg, 


den  der  junge  Maler  und  Bildhauer  dann  als 
Soldat  vier  Jahre  lang  mitmachte  — die  Kal» 
varienplastiken  der  Bretagne:  Bildwerke,  in 
denen  das  Religiöse,  das  Christliche  als  etwas 
Urtümliches  lebt,  nicht  losgelöst  von  der 
Natur,  sondern  von  ihm  aus  als  einem  Ganzen 
und  Unzerstörbaren  von  innen  her  wachsend. 
Der  Schleier  des  Geheimnisses  umgibt  diese 
Plastiken  wie  eine  die  Frucht  umschließende 
Hülle.  Darum  haben  die  besten  Werke  von  Ed» 


102 


win  Scharff  nicht  nur  die  Kraft  einer  Körper» 
lichkeit  an  sich,  wie  sie  etwa  der  Franzose  Mail» 
lol  zu  bilden  vermochte,  sondern  auch  das  zeh» 
rend  und  sehnsüchtig  Geistige  der  christlichen 
Kunst,  ohne  doch  geschwächt  zu  sein  oder  gar 
zusammenzubrechen  unter  dem  Übermaß  des 
Leidens.  In  dieser  Verbindung,  die  nicht  der 
Verstand  ersonnen  hat,  liegt  das  Heilende  und 
Neue  — das  Uralt»Neue  — der  Kunst  Edwin 
Scharffs. 

In  den  letzten  Werken  des  Fünfundsechzig» 
jährigen  erweist  es  sich  vielleicht  deutlicher  als 
in  denen  des  Anfangs  und  der  mittleren  Periode. 
Es  steckt  in  der  kraftvollen  Körperlichkeit  der 
„Boas»  und  Ruth"»Plastik  ebenso  wie  in  der 
machtvollen  Bronzetür,  die  Scharff  in  sieben» 
jähriger  Arbeit  für  das  Kloster  Marienthal  bei 
Wesel  geschaffen  hat,  etwas  vom  Geist  des 
Heliands.  Klaus  Leonhardi  hat  in  seinem  Essay 
— in  der  Sammlung  von  Feder»  und  Pinselzeich» 
nungen  Edwin  Scharffs,  die  unter  dem  Titel 
„Biblische  Themen"  (im  ].  Trautmann»Verlag) 
erschienen  sind  — auf  diesen  Zusammenhang 
hingewiesen.  Die  elementare  Kraft  biblischer 
Offenbarung  durchdringt  den  Menschen  und 
alle  Kreatur,  wie  einst  im  Heliandlied: 

Da  ward  es  manchem  kund  / Uber  die  weite 
Welt.  Wächter  erst  erjuhren's,  I Die  bei  den 
Pferden  im  Freien  waren,  / Hütende  Hirten,  die 
bei  den  Rossen  hielten  / Und  dem  Vieh  auf  dem 
Felde.  Die  sahen,  wie  die  Finsternis  / ln  der 
Luft  sich  zerließ,  und  das  Licht  Gottes  sprach  / 
Wonnig  durch  die  Wolken,  die  Wärter  dort  / 
Im  Felde  befangend. 

In  großen  europäischen  und  außereuro» 
päischen  Museen,  auf  internationalen  Aus» 
Stellungen  und  in  sakralen  Räumen  und 
Sammlungen  finden  wir  Werke  Edwin  Scharffs. 
Wer  sie  aufmerksam  betrachtet,  wird  erken» 
nen,  daß  in  ihnen  der  verhängnisvolle  Prozeß 
der  Selbstzerstörung,  der  seit  Rodin  auch  in 
die  Plastik  eingedrungen  ist,  von  innen  her 
überwunden  ist. 


Edwin  Scharff  berührt  diesen  Gedanken 
nicht,  als  wir  das  Gespräch  in  Kämpen  über 
die  Aufgaben  der.  heutigen  Kunst  beenden. 
Alles  Fordernde  und  Programmatische  liegt 
seinem  Wesen  fern.  Scharff  verwirklicht,  was 
getan  werden  muß,  in  seinem  Werk  und  durch 
seine  fruchtbare  Tätigkeit  als  Lehrer  der  Bild» 
hauerklasse  an  der  Landeskunstschule  in  Ham» 
bürg.  Kurt  Lothar  Tank 


Edwin  Scharff:  „Der  barmherzige  Samariter“ 


103 


Eine  Siedlung  ohnegleichen 

Kriegsblinde  Handweber  verwirklichen  ihre  Träume 


„Ich  muß  unbedingt  den  Herrn  Minister 
selber  sprechen!"  Der  Amtmann  lächelt  nach= 
sichtig.  So  viele  Besucher  kommen  hierher  und 
sagen  das  gleiche.  Sie  haben  schon  viel  er= 
reicht,  wenn  sie  bis  hierher  gelangen,  dicht  vor 
die  allerheiligsten  Türen.  Aber  dieser  Besucher 
da  läßt  sich  nicht  abweisen.  „Ich  bleibe  hier 
stehen,  bis  der  Herr  Minister  für  mich  zu  spre= 
chen  ist,  und  wenn  es  noch  zehn  Stunden 
dauert."  Der  Amtmann  wird  nun  doch  allmäh= 
lieh  unsicher.  Denn  der  Mann  da  vor  ihm  sieht 
ganz  und  gar  so  aus,  als  ob  er  hier  bis  morgen 
früh  stehenbleiben  würde.  Es  wird  dem  Amt= 
mann  zunehmend  unheimlich  vor  diesem  Be= 
Sucher.  Es  ist  ein  Kriegsblinder,  man  kann  ihn 
schließlich  nicht  durch  den  wachhabenden  Pt)li= 
zisten  herausschaffen  lassen.  Man  sieht  dem 
Mann  trotz  der  tiefen  Narbe  an  der  Stirn  an, 
daß  er  Offizier  war.  Es  wird  mit  ihm  nicht  gut 
Kirschen  essen  sein. 

Aber  schließlich,  — es  kann  doch  nicht  jeder 
einfach  zum  Minister  hineingehen  wollen!  Der 
Amtmann,  mehr  unschlüssig  als  trotzig,  läßt 
den  Kriegsblinden  stehen.  Einen  Stuhl  hatte 


der  Mann  ja  abgelehnt.  Aber  schließlich  rafft 
sich  der  Amtmann  auf,  die  Schranken  seiner 
Vorschriften  zu  überspringen,  obwohl  drinnen 
noch  ein  zweiter  Minister  sitzt.  Wichtige  Be= 
sprechungen,  wie  das  so  unter  Ministern  ist 
und  zu  sein  hat.  „Das  trifft  sich  ja  ausgezeich= 
net",  lacht  der  Kriegsblinde,  und  tatsächlich, 
zwanzig  Minuten  später  kann  er  beiden  Mini= 
Stern  seine  Sorgen  vortragen. 

Einfach  lächerlich? 

Das  heißt,  es  sind  nicht  eigentlich  seine  prU 
vaten  Einzelsorgen,  sondern  die  Sorgen  einer 
Gemeinschaft,  der  „Arbeitsgemeinschaft  kriegs= 
blinder  Weber".  Damals,  es  mag  vor  drei  Jah= 
ren  gewesen  sein,  hatten  die  ersten  kriegsblin= 
den  Handweber  nach  monatelanger  Mühe  er= 
kennen  müssen:  So  geht  es  nicht.  Sie  hatten 
sich  einst  zur  Umschulung  gemeldet,  und  wenn 
es  auch  ein  saures  Jahr  gewesen  war,  dort  auf 
der  Webschule  des  Roten  Kreuzes  in  Mehle 
(Niedersachsen),  es  war  doch  schön  gewesen. 
Denn  wieder  etwas  schaffen  zu  können,  wieder 
aus  dem  Leerlauf  eines  ohnehin  ständig  ver= 
dunkelten  Lebens  herauszukommen,  das  hatte 
allen  einen  gewaltigen  Auftrieb  gegeben. 

Aber  als  die  Prüfung  näherrückte,  als  es  zu 
überlegen  galt;  Was  nun?  Was  machen  wir  mit 
unserem  Können?  Was  stellen  wir  her?  Wie 
verkaufen  wir  es?  — als  es  dies  alles  zu 
überlegen  galt,  da  wurden  die  ersten  von  ihnen 
mutlos.  Gut,  man  wußte  schöne  Dinge  her= 
zustellen,  die  sich  sehen  lassen  konnten,  auch 
vor  anspruchvollsten  Käufern  und  Kennern: 
Tischdecken,  Trachtenröcke,  Kissenplatten,  An= 
zugstoffe  und  vielerlei  anderes  . . . 

Acht  oder  zehn  der  kriegsblinden  Webschüler 
saßen  sorgenvoll  auf  ihrem  Stübchen  zusam= 
men.  „Wir  müßten  Vertreter  haben,  die  unsere 
Ware  verkaufen".  Sagt  einer.  Man  hält  es  für 
einen  Witz.  „Dann  brauchen  wir  allerdings 
ein  Lager,  brauchen  gemeinsame  Verrechnung, 
und  überhaupt,  wir  brauchen  Kapital."  Spöt= 
tisches  Lachen.  Aber  zwei  von  ihnen  machen 
sich  ans  Rechnen.  Garn  ist  teuer,  sehr  teuer, 
ein  Raum  müßte  beschafft  werden,  ein  sehen= 
der  Geschäftsführer  müßte  alles  kontrollieren 
und  organisieren.  Muster  müßten  zur  Ver= 
fügung  stehen,  Drucksachen,  ein  paar  Möbel. 
„28  000  Mark",  sagen  die  Rechner  schließlich 
düster,  aber  sie  müssen  dann  selber  mitlachen, 
als  alle  schallend  lachen.  Aber  die  Optimisten 
— oder  soll  man  sie  nicht  besser  die  Energischen 
nennen?  — setzen  sich  durch. 

Eine  Mark  in  die  Kassel 

Damals  gab  es  für  die  Kriegsopfer  noch  kein 
Bundesversorgungsgesetz.  Die  Rente  war  bit= 
ter  schmal,  und  als  Webschüler  verdient  man 


104 


nichts.  Also  war  es  schon  ein  ziemlicher  An^ 
Spruch,  den  die  kleine  Gemeinschaft  an  sich 
selber  stellte,  als  sie  eine  gemeinsame  Kasse 
für  Briefpapier  und  Porto  begründeten. 

Eine  Mark  opferte  jeder,  das  war  viel,  zumal 
das  Opfer  ja  immer  mit  dem  geheimen  Zweifel 
geschah:  es  ist  ja  doch  vergeblich.  Und  diese 
Zweifel  mehrten  sich,  denn  wo  auch  immer 
Rückfragen  gehalten  wurden,  ob  bei  erfahrenen 
Geschäftsleuten,  ob  bei  Behörden  oder  Freun* 


den;  man  riet  ab,  man  lächelte,  man  hielt  das 
ganze  Unternehmen  für  verfehlt. 

Als  diese  — jetzt  von  fast  30  Kriegsblinden 
getragene  — Arbeitsgemeinschaft  aber  dennoch 
zustande  gekommen  war  und  langsam  anlief, 
stellten  sich  ganz  neue  Schwierigkeiten  in  den 
Weg.  Man  muß  wissen,  daß  diese  Handweber 
ausnahmslos  Ostvertriebene  sind,  und  daß  sie 
also  nur  in  Ausnahmefällen  über  Wohnungen 
verfügten,  die  diese  Bezeichnung  verdienen. 


Foto:  Jürgen  Neven-du  Mont 


105 


Ein  Geschenk?  Bestelle  es  bei  den  kriegsblinden  Handwebern! 

Künstlerisch  und  handwerklich  hervorragende  Handwebwaren 

Kissenplatten  ab  15,90  DM,  Wolltischdecken,  Halbwolltischdecken,  Kaffeedecken  (100/100  cm  ab  12,90  DM), 
Baumwolldecken  für  Haus  und  Garten,  Scheindreher-Zierdeckchen  (100/100  cm  12,50  DM),  Diwandecken, 
Bordürrnröcke  ab  30,80  LM,  Trachtenschürzen,  Dirndlschürzen,  Bettvorleger  und  -Umrandungen  u.  a.  Waren. 
Sonderwünsche  werden  weitestgehend  berücksichtigt.  Mitglieder  des  Kriegsblindenbundes  erhalten  Sonder- 
tabatt.  ■ Bitte  fordern  Sie  unsere  ausführliche  Preisliste  oder  Mustersendung  anl 

Arbeitsgemeinschaft  kriegsblinder  Weber,  Langenhagen/Hann.,  In  d.  Kolkwiesen 


45203 


Dicht  an  der  Autobahnausfahrt  Hannover-Langenhagen  I 


Noch  heute  wird  die  Tischdecke  fertig  sein.  Bald  wird  sie 
von  einer  Hausfrau,  die  Freude  an  schönen  Dingen  und 
ein  richtiges  Gefühl  für  echtes  Kunsthandwerk  hat,  mit 
Stolz  aufgelegt  werden.  Der  kriegsblinde  Handweber  hat 
sein  Fach  gründlich  gelernt,  und  der  große  Webstuhl  mit 
dem  ständigen  Klappern  und  Stoßen  ist  ihm  zum  guten 
Freund  geworden.  Manche  Handweber  arbeiten  selbstän- 
dig, meist  unter  Assistenz  ihrer  Frauen.  Die  Mehrzahl  hat 
sich  aber  zu  einer  Arbeitsgemeinschaft  zusammengeschlos- 
sen, die  sich  dann  rund  um  ein  eigenes  Werkstattgebäude 
eine  kleine  Siedlung  schuf.  Eine  Webmeisterin  wurde  zur 
Beratung  und  Hilfe  angestellt.  Foto:  Böckstiegel 


Und  als  die  Webschüler  nun  ihre 
Prüfung  bestanden  hatten  und  ent= 
lassen  waren,  ergab  sich  als  erstes 
Problem:  Wo  stelle  ich  meinen 
Webstuhl  auf?  So  ein  Webstuhl  ist 
nämlich  ein  mächtiges  Ding.  Manche 
Flüchtlingskammer'  füllte  er  allein. 

Beschwerden  der  Nachbarn 

Und  wo  die  Aufstellung  des  Web= 
Stuhls  gelang,  ergab  sich  sehr  bald 
eine  neue,  bittere  Sorge:  Die  Nach= 
barn  und  Mitbewohner  beschwer= 
ten  sich  über  das  ständige  Bumsen 
und  Klappern,  das  nun  mal  die 
Arbeit  am  Webstuhl  mit  sich  bringt. 
Hier  und  da  einigte  man  sich  güt= 
lieh  auf  die  Einhaltung  weniger, 
streng  begrenzter  Arbeitsstunden, 
aber  damit  war  der  Weber  zu  un= 
erträglicher  Kurzarbeit  verurteilt. 

Und  wo  auch  dieses  Problem 
einigermaßen  gelöst  war,  ergab  sich 
im  Laufe  der  Praxis  bald  ein  drittes, 
das  in  menschlicher  Hinsicht  das 
belastendste  wurde:  die  Über= 
beanspruchung  der  Ehefrau.  Es  gibt 
nämlich  Einzelverrichtungen,  bei 
denen  der  Handweber  — auch  der 
sehende  — die  Hilfe  eines  Partners 
braucht,  mehr  aber  noch  braucht 
der  kriegsblinde  Handweber  immer 
wieder  einmal  Rat  und  Hilfe,  vor 
allem  beim  Vorbereiten  des  Webens 
und  beim  Fertigmachen  und  Nähen 
der  einzelnen  Stücke.  So  muß  seine 
Frau  immer  bereit  sein,  helfend 


Gleich  nach  dem  Auflegen  stellt  sich  ein  wohltuendes  Wärme- 
gefühl ein.  ABC-Pflaster  bewirkt  an  der  schmerzenden  Stelle 
eine  stärkere  Durchblutung,  wodurch  schädliche  Stoffe  beseitigt 
werden  u.  die  Heilung  gefördert  wird.  Die  Beschwerden  werden 
schnell  gelindert.  ABC-Pflaster  ist  sauber  und  angenet^ 
im  Gebtauch  und  hindert  nicht  bei  der  Arbeit^ 

Die  Gebrauchsanweisung  finden  Sie  au^ 
der  Rückseite  jeder  Packung. 


Ä © € - Wofter 


Achten  Sie  bitte  auf  den  Namen:  ABC-Pflaster.  Erhältlich  in  Apotheken. 


106 


einzuspringen,  und  wenn  es  oft  auch  stunden» 
lang  dauert,  bis  der  Mann  ihre  Hilfe  braucht. 
Das  so  notwendige  Mitwirken  der  Frau  ist 
schon  von  der  Webschule  bedacht  gewesen,  und 
für  mehrere  Wochen  waren  die  Frauen  der 
Webschüler  gegen  Schluß  des  Kursus  ebenfalls 
zu  Webschülern  geworden.  Aber  es  wird  den 
Frauen  jetzt  zuviel.  Sie  haben  ja  nicht  nur  den 
Haushalt  und  die  Kinder  zu  versorgen.  Die 
Frau  eines  Kriegsblinden  ist  immer  doppelt  be» 
ansprucht:  sie  muß  Zeit  haben,  dem  Mann  aus 
der  Zeitung  etwas  vorzulesen,  ihn  bei  seinen 
Gängen  zu  begleiten,  überhaupt;  sie  muß  den 
Kontakt  mit  der  Umwelt  herstellen,  muß  ein 
Anschauungsbild  der  Umwelt  im  Mann  wach» 
halten,  muß  für  Ordnung  sorgen,  damit  der 
Mann  auch  selbständig  findet,  was  er  braucht 
— und  nun  noch  eine  sozusagen  nebenberuf» 
liehe  Tätigkeit  beim  Weben?  Nein,  das  ging 
über  die  Kraft  vieler  Frauen. 

Eine  verrückte  Idee? 

So  saßen  die  Weber  wieder  einmal  beisam» 
men  und  ließen  den  Kopf  hängen.  Eine  ganze 
Anzahl  von  ihnen  hatte  seit  der  Entlassung 
aus  der  Schule  noch  kein  einziges  Stück  weben 
können.  Was  nun?  Und  da  sagte  einer:  „Wir 
bauen  uns  eine  Siedlung,  rund  um  ein  Werk» 
Stattgebäude  herum,  und  wir  verpflichten  uns 
eine  Webmeisterin."  Zunächst  war  wiederum 
, nur  ein  bitteres  Lachen  die  Antwort,  zunächst 
fand  der  Mutige  überall  nur  wohlmeinende 
Warnungen,  ängstliches  Abraten,  wo  er  auch 
hinkam.  20  Eigenheime?  Nein,  mein  Lieber, 
das  schlagen  Sie  sich  besser  aus  dem  Kopf. 

Aber  die  Kriegsblinden  bewiesen,  was  man 
mit  Hartnäckigkeit  und  Geduld  erreichen 
kann.  Sie  fanden  schließlich  Freunde,  hier  die 
Regierungspräsidentin  von  Hannover,  dort 
einen  Industriellen,  da  den  Bürgermeister  des 
Dorfes  Langenhagen  vor  den  Toren  der  Stadt 
Hannover. 

Und  jetzt  sind  die  Kriegsblinden  in  ihre 
Häuser  eingezogen.  Sie  können  es  noch  kaum 
glauben:  ja,  ein  Eigenheim,  das  wirklich  ihr 
Eigentum  ist,  und  endlich:  eine  Arbeitsmög» 
lichkeit.  Arbeiten  zu  können,  das  gibt  ja  dem 
Kriegsblinden  erst  sein  Selbstbewußtsein  und 
seine  Lebensfreude  wieder.  Es  sind  Doppelhäu» 
ser,  je  zur  Hälfte  einem  Kriegsblinden  gehörig, 
und  in  der  Mitte  das  stattliche  Werkstatt» 
gebäude,  das  die  großen  Webstühle,  das  Lager 
und  das  Büro  beherbergt.  Ein  neues  Leben  hat 
begonnen. 

Jetzt  fehlt  nur  noch  eins:  nämlich  die  Um» 
Satzsteigerung,  die  der  vollen  Kapazität  der 
Siedlung  entspricht.  Auch  dieses  Problem  wird 
zu  lösen  sein,  denn  die  Tischdecken,  Kissen  und 
Stoffe  aus  der  Webersiedlung  Langenhagen 
sind  nicht  nur  von  hoher  Qualität  und  Schön» 
heit,  sie  sind  auch  erstaunlich  billig,  wenn  man 
sie  direkt  in  Langenhagen  bestellt.  f.  W.  H. 


der  freundliche 
Helfer  der  Hausfrau 


hm  • prima! 


/ 


107 


Der  „Hörspielpreis  der  Kriegsblinden“ 

Die  Kriegsblinden  danken  den  deutschen  Rundfunkdichtern 


„über  den  Wert  so  mancher  Literaturpreise 
kann  man  vielleicht  streiten,  aber  dieser  Preis 
ist  notwendig,  um  das  Hörspiel  als  Kunstwerk 
öffentlich  zu  rechtferygen",  so  sagte  der  Inten= 
dant  des  Süddeutschen  Rundfunks,  Dr.  Eber= 
hard,  der  als  Vorsitzender  der  Arbeitsgemein= 
Schaft  der  westdeutschen  Rundfunkanstalten  bei 
der  Preisverleihung  in  Bonn  das  Wort  ergriff. 

Was  will  dieser  „Hörspielpreis  der  Kriegs» 
blinden"?  Man  trifft  oft  auf  das  merkwürdige 
Mißverständnis,  daß  dieser  Preis  einem  kriegs» 
blinden  Schriftsteller  gelte.  Das  kann  schon 
deshalb  nicht  der  Fall  sein,  weil  es  unter  den 


Kriegsblinden  zwar  einige  wenige  Schriftsteller 
gibt,  aber  keinen  Dichter  von  Rang.  Wenigstens 
weiß  man  von  ihm  nichts.  Warum  auch  sollen 
Kriegsblinde  mit  einer  Preisvergebung  unter 
sich  bleiben,  so  als  ob  sie  mit  der  Welt  der 
Sehenden  nichts  zu  tun  hätten!  Die  Stiftung 
dieses  Preises  beleuchtet  vielmehr  die  Tatsache, 
daß  die  Kriegsblinden  in  einem  lebendigen 
Kontakt  mit  der  Welt  stehen,  und  zwar  nicht 
nur  als  die  ewig  Nehmenden,  die  an  ihre  Um= 
weit  Ansprüche  stellen  müssen,  sondern  auch 
als  die  Gebenden,  ja,  als  die  Sprecher  dieser 
Umwelt. 


Alljährlich  erhält  der  Autor  des  bedeutendsten  deutschen  Hörspiels  einen  Preis,  den  einzigen 
deutschen  Hörspielpreis.  Er  wurde  von  den  Kriegsblinden  gestiftet,  die  zusammen  mit  den 
angesehensten  Fachkritikern  auch  die  Wertung  vornehmen.  Im  Jahre  1953  erhielt  den  Preis 
Günter  Eich  (rechts).  Bei  der  feierlichen  Preisverleihung  im  Plenarsaal  des  Bundesrates  zu 
Bonn  war  auch  Bundespräsident  Professor  Heuss  zugegen.  Foto:  Engel 


108 


Denn  als  die  Kriegsblinden  diesen  Preis  stif= 
teten,  den  einzigen  deutschen  Hörspielpreis,  da 
fühlten  sie  sich  als  Vertreter  der  gesamten 
Rundfunkhörerschaft.  Einzelne  Hörspiele  wer= 
den  ja  an  einem  einzigen  Abend  oft  gleichzeitig 
von  drei  und  von  vier  Millionen  Menschen  ge= 
hört.  Diese  Menschen  aber  bleiben  einzelne,  und 
sie  können  weder  wie  im  Theater  durch  Bei» 
fallklatschen  noch  wie  im  Buchladen  durch  flei» 
ßigen  Ankauf  einen  Autor  auszeichnen.  Allen» 
falls  kann  man  Briefe  des  Lobes  oder  der  Ent» 
rüstung  in  ein  Funkhaus  schicken.  Die  deut» 
sehen  Kriegsblinden  schufen  jetzt  endlich  eine 
Instanz,  um  den  Rundfunkautoren  den  Dank 
des  Publikums  zu  übermitteln  und  um  eine 
alljährliche  Wertung  der  Schöpfungen  vorzu» 
nehmen. 

Es  wurde  ein  Preisgericht  gebildet,  dem  in 
gleicher  Anzahl  Kriegsblinde  aus  allen  Sende» 
gebieten  der  Bundesrepublik  und  angesehenste 
Vertreter  der  Fachkritik  angehören.  Kritiker 
und  Kriegsblinde  treffen  sich  alljährlich  zu  einer 
Sitzung,  um  die  wichtigsten  Hörspiele  des  Vor» 
jahres  noch  einmal  vom  Tonband  abzuhören 
und  über  den  Wert  der  Werke  zu  diskutieren. 
Bei.  der  Auswahl  jener  Hörspiele,  die  in  die 
Debatte  gelangen,  trägt  eine  Umfrage  bei,  die 
von  der  Kriegsblindenzeitschrift  an  alle  deuti 
sehen  Kriegsblinden  gerichtet  wird.  Man  kann 
dabei  feststellen,  daß  es  unter  den  Kriegsblin» 
den  eine  erstaunlich  große  Zahl  ausgesproche» 
ner  Hörspielkenner  gibt.  Kein  Wunder!  Das 
Hörspiel  ist  ja  eine  Kunstform,  die  eigens  für 
Blinde  geschaffen  zu  sein  scheint.  Und  die  blin» 
den  Rundfunkhörer  sind  sicherlich  nicht  nur  die 
dankbarsten,  sondern  auch  die  aufmerksamsten 
und  aufgeschlossensten  Hörer.  So  ist  es  ver» 
stündlich,  daß  die  Fachwelt  und  die  allgemeine 
Rundfunkhörerschaft  die  Stiftung  und  die  Me» 
thoden  dieses  Preises  für  ideal  halten. 

Im  Frühjahr  1953  wurde  der  Preis  zum  zwei» 
tenmal  verliehen,  also  für  das  beste  Hörspiel, 
das  im  Laufe  des  Jahres  1952  über  einen  der 
deutschen  Sender  zu  hören  war.  Den  Preis  er» 
hielt  diesmal  der  Lyriker  und  Rundfunkdichter 
Günter  Eich,  eine  Entscheidung,  die  in  der 
Presse  und  auch  im  Rundfunk  selbst  mit  gro» 
ßer  Entschiedenheit  bejaht  wurde.  Der  Preis  ist 


zwar  nur  ein  Ehrenpreis,  denn  die  Kriegsblin» 
den  haben  keine  Reichtümer  zu  vergeben,  aber 
der  Preis  hat  in  den  beiden  letzten  Jahren  ein 
so  hohes  Ansehen  gewonnen,  daß  er  von  der 
Öffentlichkeit  und  auch  von  den  Autoren  als 
hohe  Ehre  empfunden  wird. 


Zwei  tastende  Hände  umschließen  eine 
Blume  — ein  Sinnbild  für  die  Erlebniswelt 
des  Blinden.  Der  in  den  letzten  Jahren  mehr 
und  mehr  zu  Ansehen  gelangte  kriegsblinde 
Bildhauer  Jakob  Schmitt  (Mainz)  schuf  diese 
Kleinplastik,  die  im  Jahre  1953  dem  Dichter 
Günter  Eich  als  Preis  für  das  beste  im  Vor- 
jahr gesendete  Hörspiel  zuerkannt  wurde. 

Foto:  Keystone 


SCH  RE  1 BM ASCH  INEN 

Spezialausführung  auch  für  Blinde 

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OLYMPIA  WERKE  WEST  GMBH 

Wilhelmshaven 

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109 


Mähtke^cfwu 

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III 

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”'13?  ' 
i: 


Vom  kleinen,  billigen  Bauern* 
mähdrescher  bis  zum  Hüchst- 
lelstungs-Selbstfahrer  bietet 
Deciientreller  eine  Auswahl 
an  Mähdreschern,  die  allen 
Wünschen  der  unterschied- 
lichen deutschen  Landwirt- 


ntreiter 


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•^TrohL  Neuenjngen'olter  Preis 


V jTmd&^’^GatnHK 

‘^^HANOMAG-Z/iese/ 


1,5u.2f 

.AUFBAUTEN  FÜR  JEDEN  8EDARf, 


HO 


Heitere  Stunden  in  der  Turnhalle 

Wenn  uns  das  ständige  Sitzen  zu  dick  machen  will 


Da  hat  es  doch  wahrhaftig  einer  meiner 
Kollegen,  ein  einziger  nur  — er  hat  es  für 
einen  Aprilscherz  gehalten,  als  ich  andeutete, 
daß  ich  jetzt  einmal  in  der  Woche  zum  Turnen 
gehe.  Erst  mal  habe  ich  dem  Zweifler  einen 
höchst  gelehrten  Vortrag  gehalten,  nämlich  über 
die  allgemeine  Körperverfettung,  die  ja  bei  uns 
Kriegsblinden  durch  sitzende  Beschäftigung 
und  geringe  Beweglichkeit  oft  schon  frühzeitig 
hervorgerufen  wird.  Um  ihr  keinen  Vorschub, 
mehr  zu  leisten,  habe  ich  mich  neben  einigen 
anderen  Bremer  Kameraden  entschlossen,  Sport 
zu  treiben.  Das  leuchtete  dem  Kollegen  ein,  und 
ich  erzählte  nun: 

Nach  dem  Grundsatz  „Sport  ist  noch  wich= 
tiger  als  ein  ausgiebiges  Frühstück"  pflege  ich 
die  wiederentdeckte  Körperschule.  Nachdem  ich 
mir  eine  Turnhose  und  ein  fast  echtes  Olympia» 
hemd,  wie  es  die  deutschen  Sportler  bei  den 
Olympischen  Spielen  in  Helsinki  getragen 
haben,  gekauft  hatte,  konnte  ich  mich  endlich 
nach  einer  Pause  von  etwa  zehn  Jahren  wieder 
sportlich  betätigen. 

Ich  war  nicht  der  einzige.  Eine  ganze  Riege 
von  Kriegsblinden  hat  sich  zusammengefunden, 
und  zwar  unter  der  Leitung  des  versierten,  in 
Bremer  Turnkreisen  bekannten  Sportlehrers 
Wegener.  Uns  allen  macht  der  Sport  Freude, 
mehr  Freude,  als  wir  vorher  ahnten.  Weil  wir  — 
den  Sport  ernst  nehmen.  Allwöchentlich,  am 
Mittwochabend  um  19  Uhr,  kommen  wir  in 
einer  Turnhalle  zusammen.  Es  wird  mit  Locke» 
rungsübungen  begonnen.  Wir  müssen  gehen, 
laufen,  hüpfen  und  springen. 

Reichlich  steif  geworden 

Natürlich  versteht  es  sich,  daß  wir  einzeln 
durch  die  Halle  hüpfen,  weil  unsere  Köpfe 
sonst  wohl  kollidieren  würden  und  der  eine 
oder  andere  eine  sportliche  Beule  nach  Hause 
tragen  müßte,  was  wiederum  nicht  Sinn  der 
ganzen  Sache  ist.  Ich  hatte  ja  überhaupt  keine 
Ahnung  davon,  wie  steif  ich  in  den  letzten 
Jahren  geworden  bin!  Beim  Laufen  und  Sprin» 
gen  merke  ich  es  ja  nicht  so,  aber  wenn  wir 
dann  Froschhüpfen  machen  müssen,  dann  spüre 
ich  erst,  wieviel  Fett  sich  in  meinem  Nacken 
angesammelt  hat.  Der  wertvolle  Kopf  fliegt 
nämlich  ruckartig  nach  dem  Hüpfen  von  vorn 
nach  hinten.  Auch  ist  es  keine  Kleinigkeit,  an 
der  Kletterstange  hochzu krabbeln.  Aber  ich 
habe  es  trotzdem  geschafft,  obwohl  die  Kletter» 
Stangen,  die  ich  von  meiner  Kindheit  her  aus 
Turnhallen  kenne,  etwas  dicker  gewesen  sein 
müssen.  Oder  sind  meine  Hände  seitdem  größer 
geworden? 

Die  Leiter  hinauf»  oder  herabzuklettern  ist 
nicht  schlimm.  Aber  wenn  du  unter  der  Leiter 
hochklettern  sollst  und  wieder  herunter,  dann 


merkst  du  bald,  daß  du  nicht  mehr  der  Jüngste 
bist.  Sehr  viel  Spaß  macht  mir  auch  das  Tau» 
springen  oder  ein  schönes  Spiel  mit  dem  Me» 
dizinball.  Es  ist  so  etwas  Ähnliches  wie  Völker» 
ball,  nur  abgestimmt  für  Blinde. 

Sogar  Ballspiele 

Die  Torpfosten  werden  durch  viereckige 
Kästen  markiert,  und  die  Tore  werden  von  vier 
Kriegsblinden  besetzt,  die  sich  nebeneinander 
hinkauern,  und  zwar  so  weit  auseinander,  daß 
sie  sich  noch  eben  mit  den  Händen  berühren. 
Die  Gegenpartei  nimmt  uns  gegenüber  Auf» 
Stellung.  Dann  wird  der  dicke  Ball  von  uns  so 
geworfen,  daß  er  in  der  Mitte  aufschlägt 
— das  hören  wir!  — und  von  dort  aus  in  das 
feindliche  Tor  rollt.  Wir  müssen  natürlich  auf» 
passen,  jede  Partei  für  sich,  daß  wir  es  nicht 
zum  Tor  kommen  lassen.  Das  klingt  nun  zwar 
so  unglaublich  einfach.  Aber  — wenn  man  nicht 
gucken  kann,  dann  ist  das  Einfachste  manchmal 
doch  recht  schwierig,  und  es  bedarf  größter 
Konzentration,  um  den  Ball  hören  zu  können, 
wenn  er  angerollt  kommt.  Nun,  und  ganz  ruhig 
ist  es  bei  uns  auch  nicht.  Der  eine  hat  mal  etwas 
zu  reden,  oder  der  andere  stöhnt,  weil  er 
schwitzt. 

Am  Barren  haben  wir  unsere  Armmuskeln 
in  Tätigkeit  setzen  müssen,  als  wir  uns  auf  den 
Holmen  mit  den  Armen  Vorarbeiten  mußten. 


Turnlehrer  Treff  korrigiert  die  Haltung 
eines  der  Gladbecker  Kriegsblinden,  die  in  der 
Altherrenriege  des  Turnvereins,  zusammen 
mit  Sehenden,  regelmäßig  an  den  Übungen 
teilnehmen.  Foto:  Neumann 


111 


Einer  von  uns  Kriegsblinden  — er  ist  früher 
Schmied  gewesen  und  seine  Muskulatur  ist 
auch  heute  noch  gut  intakt  — konnte  gar  nicht 
verstehen,  daß  dies  anstrengend  ist.  Aber  ich 
bin  ja  Büromensch  — oder,  wie  der  Schmied 
sagt,  „eine  Schreiberseele". 

Tauziehen  mit  Nachhilfe 

Na  ja,  darum  verliere  ich  auch  meistens,  wenn 
wir  uns  gegenseitig  mit  einer  Hand  durch  die 
Turnhalle  ziehen  müssen.  Beim  Tauziehen  habe 
ich  neulich  gewonnen,  d.  h.  mit  noch  drei 
anderen  Kameraden.  Das  Gewicht  wurde’  so 
ziemlich  gerecht  verteilt,  und  los  ging's  mit  dem 
Ziehen.  Unsere  Partei  schien  keine  Kraft  mehr 
zu  haben.  Oder  waren  es  die  Schuhe,  die  rutsch» 
ten?  Ich  weiß  es  nicht.  Jedenfalls  wurden  wir 
trotz  Gegenzug  immer  weiter  nach  drüben  ge« 


zerrt.  Dann  aber,  auf  einmal,  hatten  wir  uns 
gefaßt.  Mit  hau  ruck  und  kräftigen  Zügen  — 
so  schien  es . wenigstens  — hatten  wir  unsere 
Gegner  bald  wieder  zurück»  und  sogar  bis  zu 
uns  herübergezogen.  Die  anderen  konnten  ja 
nicht  wissen,  daß  zwei  amputierte  Kameraden 
sich  unser  erbarmten.  Sie  zogen  aus  Leibes» 
kräften  mit,  und  so  kam  es,  daß  wir  „siegten". 
Die  Amputierten  turnen  von  20  bis  21  Uhr. 
Einige  von  ihnen  waren  schon  erschienen  und 
sahen  uns  zu. 

An  den  Ringen  haben  wir  auch  bereits  unser 
Mütchen  gekühlt.  Wir  machten  einen  Über» 
schlag,  eine  Kerze  und  verschiedene  andere 
Dinge.  Ein  schwieriges  Unterfangen  ist  es  auch, 
sich  in  die  Ringe  zu  stellen  und  mit  den  Armen 
die  Taue  seitwärts  zu  drücken,  wobei  jedoch 
die  Füße  in  den  Ringen  zusammenbleiben  müs- 
sen. Hierzu  gehört  viel  Geschick» 
lichkeit  und  eigene  Kraft.  Wenn 
du  dann  noch  nicht  genug  hast, 
dann  darfst  du  dich  in  den  Liege- 
stütz fallen  lassen,  um  deine  Füße 
in  die  Ringe  zu  stecken,  und  dann 
auf  den  Händen  nach  vorn  ' zu 
laufen,  so  weit  du  eben  kannst. 
Natürlich  ziehen  dich  die  Ringe 
rückwärts.  Hast  du  es  dann  endlich 
bis  an  den  Rand  der  Matte  ge» 
schafft  und  sollst  anschließend  wie» 
der  auf  den  Händen  zurückgehen, 
und  zwar  langsam,  dann  ist's  mit 
der  Kraft  vorbei.  Die  Ringe  ziehen 
dich  mit  eigener  Gewalt  zum  Aus» 
gangspunkt  zurück,  und  du  hängst 
kraft»  und’  willenlos  daran,  wobei 
du  mit  den  Ellenbogen  auf  der 
Matte  entlangschleifst. 


„Wie  wenn'ste  schwebst" 


Aufmerksam  tastet  der  junge  kriegsblinde  Sportler  So- 
bania  aus  Bielefeld  zuvor  die  Höhe  der  Latte  ab  und 
prägt  sich  genau  die  Anlaufstrecke  ein.  Und  er  schafft, 
gänzlich  ins  Ungewisse  springend,  eine  Höhe'  von  1,40  m. 


Ja,  da  staunte  mein  Kollege, 
offen  gestanden,  ich  staune  selber, 
daß  ich  das  schon  alles  kann.  Aber 
die  anderen  netten  Sachen,  die  noch 
folgen  werden!  Es  wird  sicher  noch 
ungeahnte  Möglichkeiten  für  einen 


112 


Turnle’nrer  geben,  um  unseren  Körper  olympia« 
reif  zu  machen.  Doch  Angst  hiervor  kennen 
wir  nicht  mehr,  denn  schließlich  ist  es  ja  zu 
unserem  körperlichen  Vorteil,  und  nach  und 
nach  werden  wir  wohl  so  gelenkig  werden,  daß 
wir  die  kommenden  Übungen  spielend  schaffen. 

Wenn  es  jetzt  auch  noch  nicht  so  ist  „wie 
wenn'ste  schwebst",  wie  der  Turnlehrer  bei 
unseren  Hüpfsprüngen  oft  sagt,  so  wird  sich 
doch  langsam  durch  das  ständige  Training  die 
Muskulatur  straffen  und  eine  gewisse  Elasti= 
zität  hervorrufen,  so  daß  wir  wie  Engel  schwe» 
ben  werden.  Vorerst  aber  ist  von  Schweben 
noch  keine  Spur  zu  finden,  denn  bei  dem  Hüpfen 
und  Springen  kommt  man  zu  leicht  aus  dem 
Takt,  weil  man  den  einen  Arm  nach  hinten 
wirft,  wenn  er  nach  vorn  soll  und  umgekehrt. 
Eher  erinnern  wir  wohl  an  stampfende  Elefan» 
ten  oder  meinethalben  an  watschelnde  Enten. 

Der  Kopf  saß  allzu  fest 

Neulich  habe  ich  mich  geirrt.  Wir  mußten  uns 
alle  auf  die  Erde  setzen,  die  Beine  grätschen 


Einmal  frei  und  ungehemmt  laufen  zu  kön- 
nen. nicht  am  Arm  einer  Begleiterin  oder  am 
Bügel  des  Führhundgeschirrs,  das  ist  die 
Freude  eines  kriegsblinden  Sportsmannes.  An- 
fangs lief  er  auf  dem  weiten  Rasen,  ins  Dun. 
kel  hinein.  Jetzt  hat  sich  sein  Orientierungs. 
sinn  schon  so  verbessert,  daß  er  die  Aschen- 
bahn benutzen  kann.  Unser  Bild  zeigt  den 
kriegsblinden  Studenten  Werner  Giehr  (links), 
den  besten  kriegsblinden  100-m-Läufer  (13,2 
Sek.).  Selbst  an  den  5000-m-Lauf  wagte  er  sich 

Foto:  Eifert 


Durch  das  ständige  Sitzen  sind  die  Glieder 
und  Muskeln  der  meisten  Kriegsblinden  ein- 
gerostet. In  vielen  Fällen  führt  diese  be- 
wegungsarme Lebensweise  zu  Gesundheits- 
störungen. Da  hilft  nur  der  Sport.  Und  der 
Erfolg?  Man  gewinnt  gratis  dazu  sehr  viel 
Lebensfreude  im  Kreise  froher  Kameraden. 
Der  Kriegsblinde  im  Hintergrund  steht  (oder 
vielmehr  „hängt“)  vor  lauter  Vergnügen  köpf. 

Foto;  Nordtiausen 


und  dicht  hintereinander  hocken.  Ein  Kamerad 
legte  sich  auf  die  hochgehaltenen  Hände  des 
Vornsitzenden  und  wurde  von  uns  mit  den 
Händen  von  vorn  ‘nach  hinten  geschoben.  Das 
gleiche  Spiel  ging  nun  auch  von  hinten  nach 
vorn.  Ich  griff  also,  wie  alle  anderen,  mit  beiden 
Händen  nach  hinten,  um  den  Kopf  oder  einen 
Teil  des  vorzuschiebenden  Körpers  zu  fassen. 
Ich  bekam  auch  tatsächlich  den  Kopf  des  Man= 
nes  in  meine  Hände,  und  so  zog  ich  nun  und 
zerrte  und  riß  daran  herum,  um  ihn  nach  vorn 
zu  bringen.  Ich  wunderte  mich  zwar,  daß  das 
Gesicht  nach  unten  schaute,  aber  dann  dachte 
ich,  daß  er  sich  eben  einmal  anders  nach  vorne 
schieben  lassen  wollte.  Aber  der  Kopf  wollte 
nicht  weiterrutschen.  Dann  mußte  ich  fest» 
stellen,  daß  das  Spiel  längst  aus  war  und  daß 
ich  ungewollt  den  Kopf  meines  Hintermannes 
zu  packen  gekriegt  hatte.  Dieser  sagte  mir 
dann,  daß  er  ja  immer  gerufen  hätte,  ich  solle 
ihn  loslassen,  doch  das  hatte  ich  wohl  bei  dem 
Spektakel  nicht  gehört.  Nun,  mein  derzeitiger 


8 


113 


Hintermann  kommt  heute  noch  regelmäßig  zur 
Turnstunde,  er  dürfte  also  keinen  Schaden  er= 
litten  haben  . . . 

An  der  Sprossenwand  passierte  es  einmal, 
daß  einem  allzu  eifrigen  Kameraden  die  Turn- 
hose buchstäblich  vom  Körper  rutschte,  als  er 
sich,  bäuchlings  auf  dem  Boden  liegend,  mit  den 
Händen  an  der  Sprossenwand  hochzog.  Darum 
ist  es  gut,  daß  wir  nur  unter  männlicher  Auf- 
sicht turnen  und  unsere  Frauen  nicht  zuschauen, 
wie  es  in  anderen  Städten  geschieht.  Manch 
einer  von  uns  würde  sich  befangen  fühlen. 

Um  unseren  Frauen  zu  gefallen 

Ein  wunderliches  Gefühl  hat  man  übrigens, 
wenn  man,  die  Hände  um  die  oberste  Sprosse 
geklammert,  an  der  erwähnten  Wand  hängt 
und  wie  der  Perpendikel  einer  Uhr  hin-  und 
herpendeln  muß.  Hierbei  werden  die  Bauch- 
muskeln so  angespannt,  daß  man  denkt,  man 
habe  fünf  Beefsteaks  zu  Mittag  gegessen.  Ich 
habe  nie  geahnt,  daß  ein  Mensch,  ergo  auch  ich, 
soviel  Muskeln  besitzt!  Nach  den  ersten  Turn- 
stunden spürte  ich,  wenn  ich  mich  tags  darauf 


etwas  mehr  bewegte,  daß  es  im  Genick,  an  den 
Armen  und  Schultern,  in  der  Hüfte  und  an  den 
Beinen  schmerzte  und  riß. 

Doch  dieses  Anfangsstadium  ist  nun  vorüber; 
und  wir  können  schon  sagen,  daß  wir  wieder 
Sportsleute  geworden  sind,  wenn  auch  nur 
ganz  kleine  Lichter.  Und  nur,  wenn  wir  unser 
Soll  erfüllt  haben  und  uns  auf  dem  Heimweg 
befinden,  dann  spüre  ich  noch  manchmal  beim 
Herabsteigen  der  Treppe,  daß  mir  die  Knie  ein 
wenig  zittern. 

Doch  die  negativen  Seiten  dürfen  uns  nicht 
abschrecken,  tun  wir  doch  schließlich  alles  — 
außer  für  unsere  eigene  Gesundheit  — auch  für 
unsere  lieben  Gattinnen,  die  keinen  Mehlsack, 
sondern  einen  Athleten  oder  doch  wenigstens 
einen  frischen  und  beweglichen  Mann  zum  Ehe- 
partner haben  möchten.  Wir  sind  jedenfalls 
wieder  im  Kurs  gestiegen,  als  Männer,  ver- 
steht sich,  und  so  ist  es  für  uns  doppelt 
schmeichelhaft,  daß  uns  die  Frauen  nach  dem 
Turnen  abholen.  Aus  Vorsicht?  Haben  sie 
Angst,  daß  wir  mit  der  Übung  im  Sprung  nun 
auch  zum  Seitensprung  fähig  wären?  Jedenfalls, 
wir  stehen  unter  Aufsicht.  Aber  wir  lassen 
uns  — auch  als  Athleten  — die  Aufsicht  gern 
gefallen.  H.  C,  Schwarze 

Der  un6  fi'ne  Sru 

€in  Märchen  für  unsere  ^eit 

Eigentlich  dürfte  man  beim  Erzählen  des 
Märchens  vom  „Fischer  und  siner  Fru"  nicht 
mit  den  ebenso  behaglichen  wie  klassisch- 
großartigen Worten  beginnen:  „Es  war  ein- 
mal..." Man  müßte  vielmehr  anfangen:  „So 
ist  der  Mensch",  denn  gerade  heutzutage  ist  er 
-SO  wie  die  Frau  dieses  Fischers,  die  noch  als 
Schloßherrin  unzufrieden  ist  und  ihren  Mann, 
wie  uns  unser  Holzschnitt  zeigt,  zu  dem  Wun- 
derfisch an  den  Strand  schickt,  um  noch  reicher 
und  noch  mächtiger  und  noch  glücklicher  zu 
werden.  Glücklicher?  Die  immer  unzufriedenen 
Menschen  haben  kein  Talent  dazu,  glücklich  zu 
sein,  schon  weil  sie  unter  „Glück"  etwas  ganz 
Falsches  verstehen.  Ein  Kriegsblinder  etwa 
würde  bereits  glücklich  sein,  wenn  er  Frau  und 
Kinder  sehen  könnte.  Dieses  Glück  nimmt  aber 
ein  Sehender  als  selbstverständlich  hin,  und  es 
kommt  ihm  kaum  in  den  Sinn,  für  dieses  echte 
Glücksgut  zu  danken.  Mehr  zu  „haben",  das 
ist  sein  Ziel,  anstatt  dahin  zu  streben,  mehr  zu 
„sein".  So  kann  es  ihm  auch  geschehen  wie  dem 
Fischer  und  seiner  Frau  — , eines  Tages  sitzt  er 
wieder  in  seiner  Elendshütte. 


Wenn  man  nie  zufrieden  tst  . . . 

Aus  der  HolzschnitUolge  „Der  Fischer  und  sine  Fru"  von  Ottilie  Ehlers-Kollwltz 


8* 


«5 


Wie  ich  wieder  lesen  lernte 

Eines  Tages  war  es  mir  klar:  So  konnte  es 
nicht  weitergehen,  es  mußte  etwas  geschehen! 
Vorüber  die  Zeiten  der  Resignation,  Schluß  mit 
dem  Leben  in  Apathie  und  Abgeschlossenheit! 
Kurze  Anfrage,  rasch  erfolgende  Antwort, 
nächtliche  Eisenbahnfahrt  gen  Süden,  und  dann 
schritt  ich  eines  feucht=frühen  Morgens  unter 
der  aufsteigenden  Maisonne  am  Arme  meines 
Begleiters  durch  die  stillen,  historischen  Gassen 
der  alten  Universitätsstadt  Marburg.  Hier  wirkt 
in  segensreicher  Arbeit,  zum  Nutzen  aller  Blin= 
den,  die  sich  ihrer  vielfältigen  Einrichtungen 
bedienen,  die  Blindenstudienanstalt  Marburg. 
Hier  galt  es,  eine  Kluft  zu  überbrücken,  galt  es, 
eine  Lücke  zu  schließen,  die  jeden  Erblindeten 
zunächst  und  bis  zu  diesem  Augenblick  auf 
schmerzlichste  Weise  von  den  Sehenden  schei= 
det.  Ein  entscheidender  Schritt;  die  Erlernung 
der  Blindenschrift! 

Bald  schon  hatten  sich  alle  Teilnehmer  des 
Lehrganges  eingefunden.  Der  erste,  mit  Span= 
nung  erwartete  Schultag  — und  ein  solcher  war 
es,  sollte  doch  ein  zweites  Mal  das  Lesen  und 
Schreiben  erlernt  werden  — vereinte  25  Männer 
zwischen  20  und  50  Jahren  in  der  besorgten 
Frage:  Was  ist  das,  was  uns  hier  gegenüber= 
tritt?  Werden  wir  jemals  imstande  sein,  ein 
Gewirre  von  papierenen  Pünktchen  mit  unseren 
steifen,  ungeübten  Fingern  zu  enträtseln?  Wer= 
den  wir  wirklich  einmal,  vielleicht  schon  in 
wenigen  Wochen,  wieder  lesen  können?  Aber 
schneller  als  gedacht  waren  wir  schon  inmitten 
der  Materie,  hatte  uns  der  beispielhaft  klare 
Aufbau  des  Schriftsystems  und  der  einfache, 
logische  Rhythmus  im  Ablauf  des  theoretischen 
Unterrichtes  gepackt.  Wahrlich,  denkbar  einfach 
und  auch  für  schlichte  Naturen  mühelos  faß= 
bar  hatte  der  Franzose  Louis  Braille,  selbst  ein 
Kind  des  Dunkels,  im  vorigen  Jahrhundert  diese 
Punktzeichenschrift  zusammengestellt!  Wie 
überall,  so  steckt  auch  hier  der  Wert  des  Gro= 
ßen  in  seiner  unkomplizierten  Schlichtheit.  Bei= 
spielgebend  zitierte  man  einen  imaginären 
Spielwürfel,  und  vor  unserem  geistigen  Auge 
erstanden  jene  sechs  weißen  Punkte,  in  der  An= 
Ordnung,  wie  sie  auf  jedem  dieser  Würfel  zu 
finden  sind:  die  Grundlage  der  Blindenschrift! 

Das  schien  nicht  schwer  zu  sein,  die  Kombi= 
nationen  dieser  Würfelaugen,  also  die  einzelnen 
Buchstaben,  zu  verstehen  und  uns  einzuprägen. 
Wir  faßten  also  gewaltig  Mut  und  es  dauerte 
auch  nicht  lange,  bis  wir  die  26  Formen  für  die 
Buchstaben  des  Schwarzschrift=Alphabetes  „in= 
tus"  -hatten.  Ausgehend  von  dem  das  A darsteb 
lenden  Punkt  1,  der  in  Verbindung  mit  dem 
Punkt  2 ein  B oder  zusammen  mit  Punkt  4 ein 
C bedeutet,  paukten  wir  eine  Form  nach  der 
anderen  ein,  und  vorschnell  erteilten  wir  uns  in 
unserer  Fjreude  über  die  vermeintliche  Leichtig= 
keit  des  Verfahrens  schon  goldene  Vorschuß» 
lorbeeren. 


Der  Verlapsleiter  der  Marburger  Blinden- 
studienanstalt ist  der  im  1.  Weltkrieg  er- 
blindete Janislav  von  Trzeciakowski.  Er  über, 
wacht  die  Herstellung  nicht  nur  von  Punkt- 
schriftbiichern,  sondern  auch  von  Hilfsmitteln. 
Hier  überprüft  er  eine  für  Blinde  geprägte 
plastische  Landkarte, 


Viele  Kriegsblinde  haben  an  der  Blinden- 
studienanstalt Marburg  das  Abitur  erreicht. 
Die  Schüler  befassen  sich  mit  allen  üblichen 
Fächern  Für  Naturwissenschaft  sind  vieler- 
lei Modelle  vorhanden.  Eine  schmerzliche 
Spannung  liegt  über  diesem  Bild:  ein  blinder 
Schüler  untersucht  ein  großes,  zum  Abtasten 
bestimmtes  Modell  des  menschlichen  Auges. 
Aber  er  bleibt  ganz  unbefangen.  „Wie  eine 
Fahrradlampe“,  ruft  er  erstaunt. 


SAITEN 


für  alle  Streichinsfrumenfe 


„Wenn's  weiter  nichts  ist  . . .!"  sagten  wir 
und  lächelten  überlegen,  und  so  dachten  wir  auch 
noch,  als  unsere  Hände  zum  ersten  Male  for= 
sehend  über  den  unbekannten,  zwar  einer  nor= 
malen  Schreibmaschine  ähnelnden  aber  doch 
zunächst  so  fremden  Formen  der  Punktschrift= 
Bogenmaschine  glitten  und  mit  den  sechs  Tasten 

— wozu  noch  eine  Leertaste  hinzuzurechnen  ist 

— die  ersten  Figuren  in  das  steife  Papier  preßten. 
Aber  wir  hatten  uns  zu  früh  gefreut.  Wäh= 

rend  in  der  Schreibstunde  die  ersten  Kür= 
Zungen  mit  neuen,  mehrere  Buchstaben  sinm 
gemäß  zu  Gruppen  zusammenraffenden  Formen 
auf  uns  eindrangen,  begannen  bei  einer  anderen 
Lehrkraft  die  ersten,  ein  wenig  bänglich  er= 


warteten  Lesestunden.  Aber  schließlich,  so 
sagten  wir  uns:  „Wo  ein  Wille  ist,  da  ist  auch 
ein  Weg"  — und  packten  zu,  das  heißt,  wir 
versuchten,  mit  den  Fingerspitzen  über  das 
kartonartige  Papier  hintastend,  etwas  zu  „be= 
greifen". 

O großer  Schreck,  wie  die  Oberfläche  einer 
groben  Feile  oder  gar  einer  Kartoffelreibe,  zwar 
nicht  so  scharf,  jedoch  mit  ebenso  vielen,  un= 
gezählten  Erhebungen  versehen,  so  erschien  uns 
die  erste,  zögernd  betastete  Seite  des  in  seiner 
Fülle  beinahe  drohend  vor  uns  liegenden  Wäl= 
zers.  Unmöglich,  da  ein  System  herauszufinden! 
Unmöglich  überhaupt,  auch  nur  die  Zeilen  aus= 


20  000  wissenschaftliche  Werke  bis  hin  zur  hebräischen  Bibel  sind  für  blinde  Geistesarbeiter 
in  der  Hochschulbücherei  der  Marburger  Blindenstudienanstalt  zu  haben.  Auch  Zeichnungen, 
z.  B.  anatomischer  Art,  werden  in  feine  abtastbare  Punkte  umgesetzt.  Unser  Bild  zeigt,  wie 
eine  Seite  aus  dem  Werk  von  Ceram  „Götter,  Gräber  und  Gelehrte“  auf  der  Zinkplatte  vor- 
bereitet wird.  Stark  vergrößert,  werden  die  ägyptischen  Keilschriftzeichen  einzeln  mit  der 
Hand  eingeschlagen.  Das  segensreiche  Marburger  Werk  — Hochschulbücherei,  Studien- 
anstalt und  Beratungsstelle  für  blinde  Studierende  — entstand  unter  den  Auswirkungen 
des  1.  Weltkrieges,  um  den  Kriegsblinden  die  Möglichkeit  zu  schaffen,  ihr  Abitur  abzulegen 
und  zu  studieren.  1917  wurde  die  Blindenstudienanstalt  eröffnet,  und  auch  nach  1939  diente 
sie  wieder  vielen  Kriegsblinden.  Noch  heute  besuchen  junge  Kriegsblinde  die  Blinden- 
studienanstalt, zumal  solche,  die  als  Kinder  durch  den  Luftkrieg  erblindet  sind. 

Fotos  (3):  dpa-Göttert 


einander  zu  halten,  geschweige  denn  die  win= 
zigen  Zwischenräume,  die  die  Zeichen  vonein= 
ander  trennten,  mit  unseren  plumpen  Fingern 
ausfindig  zu  machen!  Hatten  wir  alle  nicht 
plötzlich  Hände  wie  die  Grobschmiede?  Wie 
sollten  wir  jemals  von  diesem  Gewimmel  win* 
Ziger  Papierwarzen  auf  dem  Wege  von  den 
Fingernerven  über  das  Gehirn  etwas  Sinn» 
fälliges  vor  unser  geistiges  Auge  projizieren? 
Ach,  jeder  von  uns  war  wohl  anfangs  der  Mei» 
nung,  daß  ausgerechnet  er  von  Natur  aus  un- 
fähig sei,  jemals  ein  Wort  zu  entziffern,  und 
fassungslos  bewunderten  wir  Schicksalsgefähr- 
ten, die  uns  aus  Büchern  etwas  vorlasen. 

Doch  die  ersten  deprimierenden  Tage  wurden 
überwunden,  wir  schafften  es,  verbissen  der 
eine,  seufzend  und  stöhnend  ein  andrer,  schein« 
bar  resignierend  ein  Dritter,  ein  jeder  nach  sei- 
ner Methode.  Schon  nach  wenigen  Tagen  wußten 
wir  alle,  woran  wir  waren,  und  nur  einige,  zu- 
meist ältere  Kameraden,  deren  Fingerspitzen 
sich  als  nfcht  sensibel  genug  oder  deren  Kopf- 
nerven sich  als  zu  angegriffen  erwiesen,  gaben 
teils  erleichtert,  teils  mit  Betrübnis  das  vergeb- 
liche Bemühen  wieder  auf.  Die  anderen  aber 
lasen  mit  wachsender  Begeisterung,  stockend 
zuerst  und  ein  wenig  holperig,  aber  zusehends 
flotter  und  flotter  werdend.  Freilich,  es  kostete 
noch  ein  gerüttelt  Maß  an  Fleiß  und  Ausdauer, 

BUrk-Uhren 

seit  1855  bewährt 

Wächter-Kontrolluhren,  Zeltstempel, 
Arbeltszelt-Reglstrierapparate, 

Elektr.  Uhren,  Kalender-Wanduhren. 

WUrttembergische 
Uhrenfabrik 
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Schwenningen  am  Neckar  28 


und  nicht  selten  geschah  es  auch,  daß  solch  ein 
mit  Punkten  übersäter  Wälzer  im  Zustande 
höchster  Erregtheit  barsch  beiseite  geworfen 
wurde,  nicht  wenige  jedoch  verliebten  sich  ge- 
radezu in  ihn,  ließen  ihn  nicht  mehr  aus  den 
Händen  und  lasen  mit  wahrem  Feuereifer,  so 
als  hätten  sie  binnen  Tagen  nachzuholen,  was 
sie  in  langen  Jahren  versäumen  mußten. 

Langsam  aber  stetig  hatte  sich  so  die  be- 
glückende Erkenntnis,  wieder  lesen  und  etwas 
Geschriebenes  selbst  überprüfen  zu  können, 
nicht  mehr  abgeschnitten  zu  sein  von  der  Welt 
des  Buches,  in  unseren  Herzen  verankert. 

Eine  Wandlung  war  in  uns  vorgegangen,  und 
aus  so  manchem,  dem  das  Lesen  eines  guten 
Buches  in  den  voraufgegangenen  Jahren  zum 
heißersehnten  Bedürfnis  geworden  war,  wurde 
in  diesen  Wochen  ein  anderer  Mensch!  So  war 
auch  der  Ansturm  auf  die  Bibliothek  groß,  und 
viele  Kartons  mit  schwerer,  gewichtiger  Fracht 
eilten  ihren  glücklichen  Besitzern  voraus  in  die 
Heimat,  als  kostbare  Atzung  für  kommende, 
unausgefüllte  Stunden.  Wir  aber  reisten  ihnen 
nach,  erfüllt  von  der  beglückenden  Erfahrung, 
mit  der  Beherrschung  der  Blindenschrift  den 
ersten  entscheidenden  Schritt  auch  zur  Beherr- 
schung unseres  neuen  Lebens  getan  zu  haben. 

Harry  Barthel 


V 


Ein  Kriegsblinder  erlebt  Paris 

„Nach  Paris  wollen  rie  fahren?  Und  Sie  den» 
ken  wirklich,  daß  sich  die  Fahrt  für  Sie  lohnt?" 
Das  war  die  übliche  Frage  meiner  Bekannten, 
die  erfahren  hatten,  daß  ich  die  Ostertage  zu» 
sammen  mit  meiner  Frau  in  der  französischen 
Hauptstadt  verbringen  wollte.  Schon  aus  dem 
Ton  war  häufig  geradezu  eine  Mißbilligung 
meines  Vorhabens,  als  Blinder  in  die  berühmte 
Stadt  zu  reisen,  herauszuhören.  Nun  muß  ich 
zwar  gestehen,  daß  der  eigentliche  Grund  für 
die  Reise  der  Wunsch  war,  einige  deutsche 
Freunde  aufzusuchen,  die  ich  seit  Kriegsbeginn 
nicht  mehr  gesehen  hatte  und  die  sich  seit 
einigen  Jahren  in  Paris  aufhalten  — aber  warum 
sollte  ich  bei  der  Gelegenheit  nicht  auch  Paris 
erleben  können? 

Vor  Antritt  der  Fahrt  nahm  ich  mir  noch  das 
in  Punktschrift  gedruckte  Konversationsbuch 
vor,  das  u.  a.  einen  netten  Abschnitt  über  einen 
Besuch  in  Paris  enthält.  Auf  diese  Weise  konn» 
ten  auch  meine  etwas  eingetrockneten  Sprach» 
kenntnisse  wieder  aufgefrischt  werden.  Das 
Lernen  wurde  zum  behaglichsten  Teil  der  Reise» 
Vorbereitungen. 

So  fuhren  wir  eines  schönen  Nachmittags  los. 
Die  Geräuschkulissen  nächtlicher  Ankünfte  auf 
Großstadtbahnhöfen  weisen  bekanntlich  alle 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  auf.  Bei  unserem  Ein» 
treffen  am  Gare  de  l'Est  nahmen  sich  aber  die 
um  uns  schwirrenden  Laute  schon  recht  „fran» 
zösisch"  aus.  Also  schon  ein  „erster  Eindruck", 
stellte  ich  mit  einiger  Befriedigung  fest.  Nach 


Im  Pantheon  wurde  Louis  Braille,  der  Erfin- 
der der  Blindenschrift,  anläßlich  seines  100- 
Todestages  im  Sommer  1952  im  Beisein  blinder 
Delegierter  aus  aller  Welt  feierlich  beigesetzt. 

Zeichnungen:  Eva  Kausche-Kongsbak 


der  Ankunft  im  Hotel  fuhren  wir  zunächst  mit 
dem  Fahrstuhl  zum  fünften  Stockwerk.  Dann 
ging  es  durch  eine  Tür. 

„Ist  das  ein  Zimmer  für  zwei  Personen?" 
hörte  ich  neben  mir  die  erstaunte  Frage  meiner 
Frau.  Die  Frage  wurde  ebenso  entschieden  wie 
liebenswürdig  bejaht.  Den  Grund  sollte  ich 
rasch  feststellen.  In  dem  Zimmer  stand  e i n 
Bett,  das  knapp  die  anderthalbfache  Größe 
eines  Normalbetts  aufwies,  aber  für  zwei  Per» 
sonen  bestimmt  war  — wie  in  den  meisten 
französischen  Hotels  und  Wohnungen.  Über 
alles  weitere  schweigt  des  Sängers  Höflichkeit. 

Beim  Abtasten  des  Zimmers  am  nächsten 
Morgen  stieß  mein  Fuß  an  ein  nach  Porzellan 
klingendes  Etwas.  Es  erwies  sich  als  Fußwasch» 
becken  französischer  Art.  Das  normale  Wasch» 
becken  befand  sich  an  der  Wand  daneben. 

Erster  Bummel  durch  die  Stadt.  Der  fließende 
Autoverkehr  an  unserer  Seite  fällt  sofort  auf. 
Wir  umrunden  die  Oper  und  überschreiten 
einen  großen  Platz.  Auf  einmal  vernehme  ich 
neben  mir  „sitzende  Stimmen"  und  leichtes 
Klirren  von  Porzellan.  Wir  sind  an  dem  be» 
rühmten  „Cafe  de  la  Paix".  Trotz  der  kühlen 
Witterung  sitzen  die  Gäste  schon  in  den  Vor» 
mittagsstunden  im  Freien.  Interessiert  betrach» 
ten  sie  den  Verkehr  der  Fußgänger  und  Autos. 
„Na  ja,  was  die  können,  können  wir  auchi" 

Wir  setzen  uns  an  eines  der  zierlichen  klei» 
nen  Tischchen,  natürlich  im  Mantel.  „Ah,  dieser 


319 


Kaffee!"  Das  gibt's  nur  einmal . . . Wenn  ich 
schon  von  kulinarischen  Genüssen  rede,  will  ich 
auch  der  raffinierten  Mittags=  und  Abendmahl» 
Zeiten  gedenken,  die  zumeist  aus  vier  bis  fünf 
Gängen  bestehen.  Kleine  Gerichte,  aber  jedes 
mit  großem  Geschick  zubereitet.  Doch  zunächst 
sitzen  wir  noch  im  Freien  vor  dem  Cafe ... 

„Plus  vite!  Plus  vite!"  ertönt  es  in  der  Nähe. 
Ein  Verkehrspolizist  ruft  sehr  temperamentvoll 
den  Autofahrern  zu,  sie  sollen  schneller,  jawohl, 
schneller  fahren!  Diese  Art  Verkehrsregelung 
ist  geradezu  typisch  für  das  Pariser  Großstadt» 
leben.  Und  doch  ist  die  Zahl  der  Unfälle  im 
Vergleich  zu  anderen  Hauptstädten  nicht  sehr 
groß.  Einer  der  Gründe  dafür  dürfte  sein,  daß 
es  hier  keine  Straßenbahnen  gibt.  Der  städtische 
Bahnverkehr  wird  allein  durch  die  als  „Metro" 
bekannte  Untergrundbahn  bewältigt.  Diese 
kann  auf  ihren  unterirdischen  Strecken  sehr 
hohe  Geschwindigkeiten  entwickeln,  ohne  andere 
Fahrzeuge  zu  stören  oder  selbst  gestört  zu  wer» 
den.  Wir  konnten  dies  bemerken,  als  wir  zu 
unseren  Bekannten  in  verschiedene  Vororte 
fuhren. 

Die  Freunde  hatten  es  vor  einigen  Jahren 
nicht  leicht,  eine  geeignete  Wohnung  zu  finden. 
Auch  in  Paris  herrscht  Wohnungsnot,  obwohl 
mir  nur  wenige  Häuser  in  den  Außenbezirken 
als  zerstört  bezeichnet  wurden.  Die  deutsche 
Kolonie  hat  wieder  eine  nennenswerte  Größe 
erreicht.  Die  deutschen  Kinder  besuchen  häufig 
französische  Privatschulen.  Schon  nach  den 
ersten  deutschen  Lauten  im  Kreise  der  Freunde 
wird  es  uns  ganz  heimatlich  zumute.  Wir  er» 
leben  bei  ihnen  sehr  anregende  Nachmittage. 


Und  dann  lockt  der  Eiffelturm.  Hier  führt  uns 
der  Fahrstuhl  in  das  zweite  der  drei  Stock» 
werke.  An  der  Brüstung  ist  zunächst  einmal 
die  frische  Windbrise  ein  unmittelbarer  Ein» 
druck  für  mich.  Mit  Hilfe  der  Beschreibung 
kann  sich  das  „geistige  Auge"  eine  Vorstellung 
davon  machen,  daß  weit  unter  uns  die  Seine 
fließt.  In  einiger  Entfernung  taucht  der  Inva» 
lidendom  auf,  welcher  die  Gebeine  Napoleons 
birgt,  und  hinter  diesem  die  Kirche  Sacre  Coeur 
auf  Montmartre  mit  ihrem  orientalischen  Stil. 

Am  Ostersonntag  geht  es  mit  Autobus  nach 
Versailles.  Schon  beim  Aussteigen  empfängt 
uns  lautes  Stimmengewirr  in  allen  Sprachen 
der  Erde.  Auch  deutsche  Worte  sind  darunter. 
Es  stellt  sich  heraus,  daß  die  Fremdenführer 
ihre  Erklärungen  in  drei  Sprachen  (französisch, 
englisch  und  deutsch)  vom  Stapel  lassen.  Wir 
drängen  uns  durch  die  Menschen  in  Richtung 
einer  erklärenden  Stimme.  Dann  schiebt  man 
sich  durch  die  Säle.  Auf  einmal  stößt  die  Hand 
auf  eine  spiegelglatte  Fläche.  „Sollte  das  . . 
Tatsächlich!  Im  nächsten  Augenblick  wird  er» 


Erst  als  die  Firma  Siemens  für  ihn  einen 
Spezialfernsprecher  baute,  konnte  der  kriegs- 
blinde Ohnhänder  Günter  Schirmer  aus  Ber- 
lin eine  Anstellung  finden,  und  zwar  als  Aus- 
kunftsangestellter in  einer  Berliner  Behörde. 
Das  Gerät  ist  nur  ein  mit  wenig  eh  Zusatzteilen 
ergänztes  Zugtelefon,  d.  h..  an  Stelle  der 
Wählscheibe  werden  die  Nummern  durch  zwei 
kleine  Hebel  gezogen,  der  rechte  Hebeh  für 
die  geraden,  der  linke  für  die  ungeraden  Zah- 
len; hier  erfolgt  also  ein  Einrasten  bzw.  ein 
spürbarer  Widerstand  bei  den  Ziffern  1,  3,  5 
usw.  Der  große  Hebel,  den  Günter  Schirmer 
gerade  nach  vorn  wirft,  ersetzt  das  Auflegen 
des  Hörers. 


120 


Im  Gegensatz  zu  der  Mehrzahl  der  sehenden 
Telefonisten  erhält  ein  kriegsblinder  Tele- 
fonist eine  umfassende,  praktische  und  theo- 
retische Ausbildung  Er  kennt  genau  sein  Ge- 
rät. weiß,  wie  es  funktioniert  und  wo  Feh- 
lerquellen stecken  können,  ln  den  Schulungs- 
stätten für  blinde  Telefonisten  befindet  sich 
vielseitiges  Unterrichtsmaterial,  zum  Teil  in 
der  Art  abtastbarer  Zeichnungen.  Foto:  Monil 

klärt,  daß  wir  uns  in  dem  bekannten  Spiegel= 
Saal  befinden,  der  1871  und  1919  in  der  Ge= 
schichte  unseres  Volkes  eine  so  einschneidende 
Rolle  gespielt  hat. 

Am  Abend  stehen  wir  am  Sternenplatz.  Die 
12  Straßen,  die  dort  von  allen  Seiten  her  ein= 
münden,  geben  ihm  die  Form  eines  Sternes.  In 
der  Mitte  des  riesigen  Platzes  befindet  sich  der 
Triumphbogen  mit  dem  Grabmal  des  Un= 
bekannten  Soldaten.  Auch  hier  kann  man  sich 
die  beschwingte  Höhe  des  Bogens  und  das 
Grabmal  plastisch  vorstelien.  Nicht  anders  ist 
es  in  der  gigantischen  Kathedrale  von  „Notre 
Dame".  Der  besondere  Schallton  der  Schritte 
läßt  das  grandiose  Gewölbe  erkennen.  Die  Luft 
ist  von  zartem,  feinem  Weihrauchduft  erfüllt. 

Einen  Gang  zum  Place  de  la  Concorde  mit 
dem  Obelisk  im  ägyptischen  Baustil  und  zum 
Quartier  Latin,  dem  Zentrum  des  geistigen 
Lebens  von  Paris,  lassen  wir  uns  natürlich  auch 
nicht  nehmen. 

Jetzt  werden  sich  manche  fragen:  Und  das 
Pariser  Nachtleben?  Leider  muß  ich  entgegnen: 
Die  bekanntesten  Lokale  (Folies  Bergeres, 
Casino  de  Paris,  Moulin  Rouge  und  andere) 
waren  an  den  Ostertagen  so  überfüllt,  daß  ein 
Besuch  zwecklos  gewesen  wäre.  Aber  das 
nächste  Mal . . . Und  schließlich  kann  man  den 
typischen  Pariser  Bürger  leichter  beim  Gespräch 


in  einem  kleinen  Lokal  bei  einem  gemütlichen 
Glas  Beaujolais  kennenlernen  als  in  einem 
internationalen  Nachtlokal. 

Eines  möchte  ich  noch  besonders  hervorheben: 
Auch  wir  Blinden  können  in  Paris  bleibende 
Eindrücke  gewinnen,  die  unser  Leben  ver= 
schönem  helfen.  Wichtig  ist  natürlich  eine  Be» 
gleitperson,  die  ganz  auf  uns  eingestellt  ist. 
Und  nicht  zu  vergessen:  Einige  französische 
Sprachkenntnisse  sind  natürlich  recht  nützlich; 
schließlich  müssen  wir  ja  im  wesentlichen 
hörend  die  Umwelt  aufnehmen,  und  wenn 
man  nicht  verstehen  kann,  was  man  hört,  und 
wenn  man  nicht  fragen  kann,  so  ist  man  gegen» 
über  den  sehenden  Touristen  sehr  im  Nachteil. 

Aber  das,  vvas  man  die  Pariser  „Atmosphäre" 
nennt,  das  spürt  man,  auch  ohne  Sprachkennt» 
nisse  und  ohne  Sehvermögen.  Man  spürt  es  mit 
Organen,  die  bei  uns  Blinden  intakt  geblieben, 
ja  — wie  man  uns  wenigstens  nachsagt  — sogar 
feiner  ausgebildet  sind  als  bei  Sehenden. 

Jedenfalls-  — ich  habe  Paris,  wenn  audi  auf 
meine  Art,  vollauf  erlebt.  Dr.  Kurt  Wintterlin 


Die  Lippen  sind  sein  Tastorgan  geworden, 
seit  er  keine  Hände  mehr  hat.  Hugo  Brenner, 
einer  der  200  kriegsblinden  Ohnhänder  und 
deren  Sprecher,  begutachtet  mit  Hilfe  der 
Lippen  ein  neues  amerikanisches  Arbeits- 
gerät für  Ohnhänder.  den  „Hook“,  während 
ihm  Frau  Käthe  das  Gerät  gleichzeitig  be- 
schreibt. Hugo  Brenner  ist  Fachmann.  Trotz 
seiner  so  schweren  Verwundungen  entwik- 
kelte  er  mehrere  Hilfsgeräte  für  Ohnhänder. 
Seine  Erfindungen  sind  durch  fünf  Patente 
und  42  Gebrauchsmuster  geschützt. 

Foto:  Fruhner 


121 


Eij^e  Ehegeschichte  von  Paul  Anton  Keller 


Der  Uhrmacher  Fidelis  von  Schmidt  stand 
mit  einem  recht  grämlichen  Gesicht  in  der 
Werkstatt  und  feilte  an  einem  Zahnrad,  das  für 
die  große  und  gar  wohldurchdachte  Uhr  zum 
Schloßbergturm  berechnet  war.  Das  Maß  mußte 
fein  abgestimmt  werden,  und  die- Hand  durfte 
nicht  ein  kleines  Zuviel  die  Feile  ziehen,  wenn 
der  Hebelarm,  der  das  Schlagwerk  auszulösen 
hatte,  mit  dem  Gang  des  Zeigers  genau  über» 
einstimmen  sollte.  Meister  F'delis  legte  indes 
die  Feile  bald  hin,  die  Arbeit  schmeckte  ihm 
heute  nicht;  das  Eisen,  das  er  sich  ansonst  mit 
freundschaftlicher  Gewalt  zu  eigen  machte,  war 
kalt,  rauh  und  ganz  und  gar  fremd.  Dahinter 
steckte  nun,  wie  dies  gemeinhin  so  ist,  etwas 
anderes;  Schmidt  stellte  sich  ans  Fenster, 
drückte  die  Stirn  gegen  die  kühle  Eisenstange, 
die  über  den  Bleistreifen  lief,  und  gedachte  in 
heimlichem  Groll,  der  indes  mit  einer  Art  seit» 
sam  rührseliger  Wehmut  vermischt  war  und 
so  eine  sonderbare,  aber  recht  nichtige  Art  des 
Unwillens  wach  erhielt,  seines  Eheweibs  Felici» 
tas. 

Ja,  die  Weiber!  Es  ist  ein  Kreuz  mit  ihnen, 
sagte  er  vor  sich  hin,  sah  sein  Eheweib  durch 
den  Garten  gehen  und  empfand  wiederum  den 


lastenden  Schatten  im  Gemüte,  den  Zorn,  Kran» 
kung  und  Rührseligkeit  zusammengebraut 
hatten.  Denn  sie  waren  seit  etlichen  Tagen 
aufeinander  schlecht  zu  sprechen  und  dies  aus 
einem  eigentlich  recht  mäßigen  Anlaß.  Felicitas 
hatte  — da  sich  der  Tag  ihrer  Hochzeit  in  einer 
runden  Zahl  wiederholte,  von  deren  festlicher 
Erhöhung  zwischen  ihnen  langher  die  Rede 
gegangen  war  — kurze  Zeit  vorher  die  Absicht 
geäußert,  auf  den  rauschenden  Glanz  ihres 
dunkelblauen  Taftkleides  eine  helle  Schärpe  zu 
geben,  wogegen  Fidelis,  dem  das  Steirische 
mehr  im  Blute  lag,  ein  matt  getöntes  Band  von 
sehr  sparsamen  Farben  vorschlug.  Darüber 
waren  sie  in  die  Rede  gekommen,  und  obgleich 
sich  Fidelis  nie  vorher  sonderlich  in  Weiber» 
Sachen  solcher  Art  gemengt  hatte,  reizte  ihn 
doch  Felicens  gespreizte  Entgegnung,  daß  er 
von  der  Werkstatt  her  eben  nur  für  rostige 
Farben  schwärme,  und  er  schlug  mit  scharfen 
Worten  zurück.  Da  es  indessen  bei  ihnen  nie 
zu  lautem  und  längerem  Wortwechsel  kam  und 
sie  sich  auch  höchst  selten  stritten,  erhoben  sie 
sich  ehzeit  vom  Mittagstisch  und  trugen  ein 
jeder  seinen  geheimen  Groll  und  Widerstand 
mit  sich  fort.  Was  dann  kam,  war  Schweigsam» 
keit,  dahinter  eine  grundlose  schmerzliche  Ent» 
täuschung  ihren  Bohrer  drehte,  und  zeitweise 
fielen  spitze  Bemerkungen,  die  die  scheinbare 
Kluft  noch  erweiterten. 

Derlei  kam  nicht  allzuoft  bei  ihnen  vor,  denn 
sie  lebten  gut  zusammen  und  ergänzten  ein» 
ander  gerade  in  dem  richtigen  Maß,  so  daß 
eines  ohne  das  andere  gar  nicht  hätte  leben 
können  Sonderlich  war  nur  dies,  daß  sie  beide, 
wenn  ein  solcher  Schatten  über  ihren  Tag  kam, 
vollends  davon  überzeugt  waren,  dem  Bunde 
sei  nunmehr  eine  schreckliche  und  nie  wieder 
zu  löschende  Enttäuschung  widerfahren.  Bis 
dann  eben  eine  neue  Begebenheit  alles  wie 
einen  losen  Geistertanz  verwehte  und  der  alte 
Tag  in  unverminderter  Glorie  erstrahlte. 

Diesmal  aber  empfand  der  Großuhrmacher 
das  innere  Übel  härter  und  lastender;  denn  der 
Jubeltag  der  Vermählung  war  ohne  festlichen 
Glanz,  ja  eigentlich  recht  böse  vorübergegangen. 
Nach  einem  kurzen,  etwas  kühlen  Glückwunsch» 
grüß  hatte  es  nicht  an  verletzenden  Blicken 
gefehlt.  Das  Taftkleid  hing  indes  unverändert 
im  großen  Schrank,  wiewohl  Felicitas  im  stillen 
dachte,  daß  ein  getöntes  Band  auch  nicht  ohne 
wäre,  und  obschon  er  empfand,  daß  es  ja 
schließlich  auf  die  Frau  und  nicht  auf  das  Band 


122 


ankäme  und  somit  gegen  ein  helles  gar  nichts 
einzuwenden  sei.  Aber  all  diese  Überlegungen 
blieben  im  Innern,  und  die  Grillen  spannen  sich 
weiter,  obgleich  jedes  eine  stille  Sehnsucht  nach 
der  alten  Übereinstimmung  hegte.  So  sah  denn 
Fidelis  im  geheimen  Groll,  dem  aber  schon  ein 
Zögern  Vorstand,  durch  die  Scheiben  in  den 
Garten,  wo  Felicitas  die  Blumenstöcke  in  neue, 
bunt  glasierte  Töpfe  tat,  die  ihnen  ein  Vetter 
aus  Kärnten  eigens  gemacht  hatte.  Wie  sie  nun 
vor  dem  Rabattlein  mit  der  schönen,  lang  schon 
abgeblühten  Akelei  stand,  mußte  sie  doch  noch 
eine  wunderlich  späte  Nachzüglerin  der  voran» 
gefallenen  Blüten  entdeckt  haben,  denn  sie  hob, 
wie  man  dies  bei  Blumen  unbedacht  oft  macht, 
und  obschon  die  Akelei  keinerlei  Duft  an  sich 
hat,  den  Stock  hoch  und  beugte  das  Gesicht 
darüber  hin.  Und  so,  wie  sie  nun  stand,  das 
braune,  ein  wenig  müde,  verschlossene  Gesicht 
der  Blume  anheimgegeben,  das  Haupt  geneigt, 
daß  der  wohlgeformte  Nacken  als  ein  sanfter 
und  schöner  Hügel  in  das  Ebenmaß  des  Rückens 
verfloß,  hatte  Meister  Fidelis  sie  vor  langen 
Jahren  zum  erstenmal  gesehen  und  das  Bild 
seither  unverlierbar  im  Gedächtnis  behalten. 

Die  wunderliche  Wiederholung  dieses  Bildes 
berührte  ihn  nun  nach  den  Tagen  kleinlicher 
Fremdheit  herznah  und  mit  einer  unversehens 
ansteigenden  Wärme  und  Erleuchtung.  Denn,  so 
sagte  es  in  ihm,  die  dort  unten  steht,  ist  jetzt 
und  immer  die,  die  du  kennst.  Das  befiel  ihn 
wie  Scham,  und  er  verstand  plötzlich  den  un= 
sinnigen  Irrtum,  der  ihn  und  sein  Weib  befallen 
hatte,  über  den  kleinen  Dingen  der  großen  zu 
vergessen.  Wie  so  Menschen,  die  allstund  bei« 
sammen  sind,  in  Gezänke  fallen,  weil  eines  dem 
andern  die  Widerhärchen  ausreißen  will,  die 
doch  jedes  an  sich  selber  hat,  und  dabei  vergißt, 
daß  der  Mensch  nicht  alle  Tage  die  Macht  hat, 
aus  sich  das  Außerordentliche  zu  wirken,  und 
daß  hinterher  mancherlei  Irrtum  und  Fall  mög» 
lieh  ist  — bei  allen  und  jedem. 

Oh,  dachte  Fidelis  erregt,  ist  das  nit  ein  arg 
dummes  Ding,  daß  wir  uns  jetzund  in  den 
Haaren  liegen,  weiß  doch  jedes,  wenn's  zum 
Ernsten  kommt,  zur  Not,  steht  eins  fest  für 
das  andere  ein.  Schon  dies  Wissen,  sollt  man 
meinen,  ist  gut  genug,  ein  schlecht  gesagtes 
Wörtlein  des  andern  zu  verzeihen.  Ach,  daß  wir 


im  Verlangen  immer  größer  sind  als  im  Ge= 
währen!  Wer  das  Leben  des  andern  mit  dem 
kleinen  Finger  mißt,  umspannt  es  nicht  vom 
Anfang  bis  zum  Tod,  und  zum  Gipfel  kommt 
nicht,  wer  am  Weg  die  Steinchen  zählt. 

Also  fröhlicher  denkend,  stieß  er  mit  herz» 
lichem  Mut  gegen  sein  Selbst  die  Fensterflügel 
auf,  steckte  den  Kopf  ins  Freie  und  fragte 
freundlich,  ob  sie  denn  wahrlich  noch  eine 
blühende  Akelei  gefunden?  Da  sah  sie  über» 
rascht  zu  ihm  hinauf,  alsbald  strahlte  ein 
Lächeln  über  ihr  Gesicht,  sie  nickte  erfreut  ein 
Ja,  und  im  Handumdrehen  war  jeder  Schatten 
verschwunden.  Sie  redeten  ein  wenig  über  Zeit 
und  Wetter  und  den  schönen  Tag,  und  er  sagte 
später,  ein  Band,  so  hellblau  wie  die  Akelei, 
könnte  auch  schön  sein,  doch  Felicitas  erwiderte, 
sie  hätte  sich  besonnen,  es  wäre  getönt  wahrlich 
schöner  und  fraulicher.  So  dachten  sie  hin  und 
her,  bis  sie  des  Bandes  vergaßen  und  nur  mehr 
der  inneren  Fröhlichkeit  frönten,  der  alten 
Sonne,  die  heiter  durch  die  Wolken  schien. 


sofort  gebrauchsfertig, 
schützt  die  Wunde  vor 
Verunreinigung  und 
wirkt 


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heilungförfUrntt 


123 


Hier  zu  kaufen,  ist  Ehrensache! 


'Wo  bestelle  ich  Bürsten-  und  Besenwaren? 


Dieses  Schutzzeichen  finden  Sie  auf  jedem 
Stück  echter  Blindenware.  Es  schützt  Sie  und 
uns  vor  Schwindlern.  Auch  auf  dem  Vertreter- 
ausweis finden  Sie  es. 


Ob  Haushalt,  ob  Firma  oder  Behörde, 
es  ist  Ehrensache, 

daß  Sie  die  Waren  der  kriegsblinden  Hand= 
Werker  kaufen.  Alle  erdenklichen  Bürsten=  und 
Besenwaren  sind  von  den  Kriegsblinden» 
Arbeitsgemeinschaften  zu  haben. 

Und  es  ist  wirkliche  Qualitätsarbeit,  echte 
Handwerksleistung! 

Weit  mehr  als  2000  kriegsblinde  Handwer» 
ker  möchten  arbeiten,  aber  sie  können  es  nur 
für  wenige  Stunden  in  der  Woche,  weil  der 
Absatz  ihrer  Waren  so  schwierig  geworden  ist. 
Untätigsein  bedeutet  aber  für  den  Kriegsblin» 
den  Verzweiflung. 

Helfen  Sie! 

Sobald  Sie  auch  nur  geringen  Bedarf  haben, 
schreiben  Sie  eine  Postkarte  an  die  für  Ihr 
Gebiet  zuständige  Kriegsblinden=Arbeitsfür= 

sorge.  Hier  sind  einige  Anschriften: 
Bayerische  Kriegsblindenarbeitsfürsorge, 
gern.  G.  m.  bl  H.,  M ü n c h e n 2, 
Baudrexeistraße  2,  Tel.  5 10  20 
Zweigniederlassungen ; 

Bayreuth,  Kanzleistr.  7,  Tel.  31  38 
Würzburg,  Erthalstr.  3,  Tel.  82  72 
Au  g s b u r g,  Jesuitengasse  14,  Tel.  5794 

Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft 
für  Württemberg  und  Baden 

Stuttgart,  Hermannstraße  13 

Kriegsblinden-Handwerker-Fürsorge 
Nordrhein-Westfalen,  Gemeinnützige 
Gesellschaft  m.  b.  H.,  Dortmund- 
Marten,  Bärenbruch  25 


Kriegshlinden-Arbeitsgemeinschaft 
für  Südbaden 

F r e i b u r g i.  Br.,  Zasiusstraße 

Kriegsblinden- Arbeitsfürsorge 
Rheinland-Pfalz 

Kruft  bei  Andernach,  Reichsstr.  5 
Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft  Hessen 
Kassel,  Ludwig-Mond-Straße  3514 
Nieder  sächsische  Kriegsblinden- 
Arbeitsfürsorge 

Braunschweig,  Broitzemer  Str.  230 

Ausiieferungslager  Bremen: 

Bremen.  Seebergerstraße  14 
„St.  Georg“  Gern.  Arbeitsgemeinschaft 
der  Erblindeten 

Hamburg-Bahrenfeld,  Theodor- 
straße 41 

Kriegsblinden- Arbeitsgem.Groß-BerlinE.V. 

Berlin-Schmargendorf, 
Heiligendammer  Straße  16 

Lassen  Sie  sich  nicht  von  Schwindellirmen 
und  deren  Vertretern  überreden,  die  fälsch- 
licherweise behaupten,  Blindenware  zu  ver- 
treiben. (40  871/41  006/41  008) 


Das  Mattenflechten  ist  eine  Arbeit,  die  nicht 
nur  Geschick,  sondern  auch  Kraft  erfordert. 
Trotzdem  gibt  es  unter  den  Kriegsblinden  auch 
Mattenflechter,  die  wie  dieser  Kamerad  aus 
Württemberg  nur  eine  Hand  haben.  Sogar 
Ohnhänder  sind  als  Mattenflechter  tätig. 


124 


Freundlicher  Alltag  am  Werktisch 

Ein  kriegsblinder  Bürstenmacher  erzählt 


Schon  manches  hatte  ich  in  meinem  Leben 
lernen  müssen,  und  nun  ging  es  nach  meiner 
Erblindung  mit  50  Jahren  noch  einmal  in  die 
Lehre.  In  einer  Werkstätte  in  Münster  wurde 
ich  als  Bürstenmacher  ausgebildet,  und  zu 
Hause  bekam  ich  dann  auch  bald  eine  feine 
Werkbank  mit  Bündelabteilmaschine,  Bank= 
schere  und  dem  nötigen  Kleingerät.  Den  Willen 
und  den  Mut  zur  Arbeit  hatte  ich,  und  so  ver= 
suchte  ich,  die  mir  von  der  Kriegsblinden= 
Handwerker=Fürsorge  zugeteilte  Arbeit  nach 
besten  Kräften  auszuführen.  Mein  Glaube, 
etwas  zu  können,  geriet  alrer  mächtig  ins  Wan» 
ken,  als  meine  ersten  abgelieferten 
Besen  beanstandet  wurden.  Durch 
genaue  Kontrolle  meiner  Arbeit 
wurden  auch  schnell  die  letzten 
Fehler  beseitigt. 

Das  Arbeiten  mit  der  Bündel» 
abteilmaschine  — sie  hält  gebün» 
delt  die  kleinen  Faserportionen  zum 
Einziehen  in  die  Löcher  bereit  — , 
das  machte  mir  erst  einige  Schwie» 
rigkeiten.  Wohl  ließen  sich  bei  allen 
kurzen  und  bei  langen  dünnen  Fa» 
sern  die  Bündel  leicht  der  Maschine 
entnehmen,  aber  Kokos  zeigte  ^ich 
immer  widerspenstig.  Nachdem  ich 
aber  mit  der  Maschine  und  dem 
Material  richtig  vertraut  war, 
mochte  ich  dieses  wirklich  gute 
Hilfsmittel  nicht  mehr  missen.  Und 
nun  führte  ich  jed.^n  Auftrag,  gleich 
welcher  Art,  gerne  aus. 

So  ganz  einseitig,  wie  vielleicht 
mancher  glauben  möchte,  ist  die 
Arbeit  nämlich  nicht.  Sicher  sind  es 
immer  dieselben  Handgriffe,  die 
sich  beim  Einziehen  der  Bündel 
immer  und  immer  wiederholen, 
aber  die  Art  der  Hölzer  und  des 
Einzugsmaterials  wechseln  doch  oft. 

Da  sind  zu  arbeiten:  Straßenbesen, 
Kokosbesen  groß  und  klein,  Zim» 
merbesen  aus  feinem  Roßhaar  oder 
Kunstfaser,  Handfeger,  Schrubber, 

Wischer,  Kardätschen,  Abseif», Tep= 
pich»,  Kleider»,  Schuh»,  Klosett», 
Nagelbürsten  usw.  Die  Hölzer  und 
das  zu  verarbeitende  Material  wer» 
den  mir  von  der  Kriegsblinden» 
Handwerker=Fürsorge  mit  einer  Ar» 
beitsanweisung  per  Auto  ins  Haus 
gebracht.  Wenn  ich  dann  so  ein 
Holz  zur  Hand  nehme  und  die  Lö» 
eher  zähle,  weiß  ich  gleich,  wieviel 
ich  von  dieser  Sorte  an  einem  Tage 


bewältigen  kann.  Soviel  Hölzer  lege  ich  mir 
dann,  nachdem  die  Deckel  entfernt  und  mit 
dem  dazugehörigen  Holz  gleichmäßig  gekenn» 
zeichnet  worden  sind,  jeden  Abend  auf  meiner 
Werkbank  zurecht.  Dann  kann  ich  morgens  um 
sechs  Uhr  gleich  mit  der  Arbeit  beginnen. 

Sollte  es  aber  mal  mit  dem  Schlaf  nicht  recht 
klappen  oder  habe  ich  einen  eiligen  Auftrag, 
so  stehe  ich  auch  wohl  um  vier  Uhr  auf.  Da 
niemand  durch  meine  Früharbeit  gestört  wird, 
kann  ich  das  machen.  Zuerst  wird  die  Bündel» 
abteilmaschine  mit  dem  richtigen  Material  ge» 
füllt,  und  dann  werden  wie  am  laufenden  Band 


Die  Narbe  in  der  Stirn  zeugt  von  einer  schweren  Ver- 
wundung. Wer  von  uns  würde  es  nicht  verstehen,  wenn 
Ernst  Röhn  entmutigt  zusammengebrochen  wäre  und  sein 
Dasein  verfluchen  würde!  Er  verlor  außer  dem  Augen- 
licht auch  das  Gehör  und  lebt  also  in  einer  Welt  der 
Dunkelheit  und  des  Schweigens.  Ernst  Röhn  aber,  ein  ker- 
niger Pommer,  blieb  stark.  Er  packte  sein  Leben  wieder 
an  und  arbeitet  jetzt  in  Alzey  als  Bürstenmacher.  Er 
liefert  ganz  hochwertige  Ware,  wie  die  Kriegsblinden- 
Arbeitsfürsorge  von  Rheinland-Pfalz  sagt.  Das  ist  sein 
Stolz.  Übrigens  sehen  wir  vor  ihm  auf  dem  Tisch  die 
„Bündelabteilmaschine“,  wie  sie  jeder  kriegsblinde  Bür- 
stenmacher benutzt,  eine  Maschine,  die  durch  Pedal- 
antrieb jeweils  ein  Borstenbündel  für  den  Einzug  in  die 
Löcher  des  Bürstenholzes  abteilt.  Ganz  im  Vordergrund 
die  Bankschere  zum  Glattsc'' neiden  der  Ware. 

Foto:  Zollitsch 


125 


Haben  Sie  Bedarf  an  !Baukalk  adec  SiUtQckatk? 

Wir  liefern  stets  prompt  und  in  bester  Qualität 

KALKWERKE  OTTERBEIN  • Müs  (Fulda-Land) 

Telefon  Bad  Salzschlirf  357 


Bündel  eingezogen.  Dann  und  wann  ein  Griff 
nach  der  Uhr  und  ich  kann  feststellen,  was  ich 
in  einer  Stunde  geschafft  habe. 

Kommt  Muttern  dann  um  sieben  Uhr  mit 
dem  Kaffee  und  der  Morgenzeitung,  ist  sie  oft 


Dieser  Herr  links  machte  es  richtig:  Als  er 
einen  Blinden  bemerkte,  der  die  Straße  über- 
queren wollte,  sprach  er  ihn  zuvor  an,  ehe 
er  ihn  berührte.  Wir  Kriegsblinden  sind  immer 
wieder  auf  die  Hilfe  sehender  Menschen  an- 
gewiesen, aber  allzu  leicht  hält  man  uns  des- 
wegen für  krank,  gebrechlich  oder  gar  für 
dumm.  So  sind  wir  besonders  dankbar,  wenn 
uns  Helfer  begegnen,  die  mit  Selbstverständ- 
lichkeit helfen  und  nicht  mit  größerem  Auf- 
wand, als  es  nötig  ist.  Foto:  Stoike 


ganz  erstaunt,  wie  fleißig  der  Junge  schon  war. 
Während  der  Arbeitszeit  gibt  es  auch  wohl 
kleine  Unterbrechungen,  ich  höre  die  Nach» 
richten,  der  Briefträger  bringt  mir  Post,  oder 
meine  fertige  Arbeit  wird  abgeholt  oder  neues 
Material  gebracht.  Und  so  merke  ich,  daß  ich 
doch  nicht,  wie  es  manchmal  scheint,  einsam 
und  verlassen  arbeite,  sondern  lebendige  Ver= 
bindung  zur  Gemeinschaft  habe. 

Das  gewohnte  und  auch  wohlverdiente  Mit» 
tagsschläfchen  nach  dem  Essen  bringt  neue 
Stärkung  für  die  Nachmittagsarbeit.  Um  fünf 
Uhr  bin  ich  gewöhnlich  mit  meinem  Arbeits» 
Pensum  fertig.  Wenn  die  Besen  dann  gekämmt 
und  genagelt  sind,  lasse  ich  sie  nochmal  einzeln 
durch  die  Hand  gehen,  und  wenn  ich  dann 
fühle,  daß  es  eine  saubere  Arbeit  ist,  kann  ich 
frohgemut  sagen:  „Feierabend"! 

Ist  der  ganze  Auftrag  fertig,  schicke  ich  der 
Kriegsblinden  = Handwerker  » Fürsorge  meine 
Rechnung,  die  Ware  wird  abgeholt  und  ein 
paar  Tage  später  erscheint  mit  fast  fahrplan» 
mäßiger  Pünktlichkeit  der  Geldbriefträger. 
Nach  Feierabend  wird  fast  immer  noch  etwas 
gelesen,  und  darum  achte  ich  bei  der  Arbeit 
darauf,  daß  ich  den  linken  Zeigefinger,  mit 
dem  ich  die  Punktschrift  abtaste,  möglichst 
schone. 

Mit  dem  Dichter  kann  ich  also  singen; 

Freund,  ich  bin  zufrieden, 
geh'  es  wie  es  will. 

Unter  meinem  Dache 
leb  ich  froh  und  still. 

Mancher  Tor  hat  alles, 
was  sein  Herz  begehrt. 

Doch  ich  bin  zufrieden, 
das  ist  Goldes  wert. 

Theodor  Weißmann 


Omnibusse 
OmnibuS'Anhänger 
Lkw.-  und  Kipp-Anhänger 
Gespannwagen 
Motorroller 


Lastenroller 
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FAHRZEUGWERK  KANNENBERG  KG. 

Salzgitter-Bad 


126 


Gut  gemeint,  aber  falsch 

Einige  der  üblidien  Hilfeleistungen,  die  wir  Kriegsblinden  gern  entbehren 


Wir  Kriegsblinden  haben  alle  schon  die  Hilfs= 
bereitschaft  der  sehenden  Mitmenschen  erfahr 
ren,  und  in  den  meisten  Fällen  haben  wir  die 
gebotene  Hilfe  gern  und  dankbar  angenom» 
men.  Doch  nicht  selten  kommt  es  auch  vor, 
daß  wir  gerade  dadurch  in  Verlegenheit  ge= 
raten,  daß  uns  zuviel  oder  falsche  Hilfe  ge= 
leistet  wird.  Häufig  kann  man  nicht  rechtzeitig 
solch  einen  Dienst  dankend  ablehnen,  und 
wenn  man  es  tut,  dann  verursacht  dies  oft  bei 
dem  Helfenden,  der  es  ja  nur  gut  meint,  eine 
ganz  ungewollte  Verstimmung.  „Am  besten, 
man  hilft  überhaupt  niemandem  mehr!"  hörte 
ich  zum  Beispiel  in  solch  einem  Fall  einen  Herrn 
ärgerlich  sagen,  und  meistens  ist  weder  die 
Zeit  noch  die  Gelegenheit  da,  um  das  Mißver» 
ständnis  an  Ort  und  Stelle  aufzuklären.  — So 
möchte  ich  denn  im  folgenden  zu  zeigen  ver» 
suchen,  was  ein  Außenstehender  beachten 
sollte,  wenn  er  einem  Blinden  wirklich  helfen 
möchte. 

Man  knöpft  uns  sogar  den  Mantel  zu 

Als  erste  Regel  kann  gelten;  Hilf  nur  da, 
wo  dies  nötig  ist,  das  heißt,  wo  der  Blinde 
allein  sein  Vorhaben  gar  nicht  oder  nur  mit 
unverhältnismäßig  großer  Anstrengung  oder 
Gefahr  ausführen  könnte.  Dies  ist  zum  Bei- 
spiel der  Fall,  wenn  ein  Blinder  allein  eine 
belebte  Straße  überqueren  will,  oder  wenn  ihm 
ein  kleiner  oder  flacher  Gegenstand  auf  den 
Boden  gefallen  ist.  Dagegen  ist  es  durchaus  un- 
angebracht, wenn  uns  jemand  zum  Beispiel 
beim  Zuknöpfen  des  Mantels  helfen  möchte. 
Und  es  ist  auch  nicht  verwunderlich,  wenn  wir 
solch  eine  Hilfe,  so  gut  sie  auch  gemeint  sein 
mag,  gar  nicht  gern  haben,  denn  da  wir  leider 
öfter  einmal  auf  die  Hilfe  anderer  angewiesen 
sind,  legen  wir  um  so  mehr  Wert  darauf,  daß 
wir  die  Dinge,  die  wir  gut  allein  tun  können, 
auch  wirklich  selber  ausführen,  und  das  Zutun 


ÄLTESTE 

DEUTSCHE  BRUYEREPFEIFENFABRIK 

gegründet  1848 

VAUEN  KG. 

NÜRNBERG 


von  anderen  erscheint  uns  dabei  nicht  etwa  als 
Hilfe,  sondern  eher  als  eine  lästige  Unter- 
schätzung unserer  Fähigkeiten. 

In  ähnlicher  Weise  ist  es  mir  — und  sicher 
auch  meinen  Kameraden  — gar  nicht  angenehm, 
wenn  mich  jemand  beim  Hinsetzen  auf  den 
Stuhl  niederzudrücken  versucht  oder  mich  beim 
Aufstehen  am  Arm  hochziehen  will,  oder  wenn 
mir  jemand  am  gedeckten  Tisch  das  Besteck 
in  die  Hand  drückt.  Es  ist  ja  auch  für  einen 
Blinden  nicht  schwer,  das  neben  dem  Teller 
liegende  Eßbesteck  zu  finden;  und  wenn  er 
wirklich  eine  Sekunde  lang  danach  suchend 
tastet,  was  macht  das? 

Man  mag  es  für  belanglose  Kleinigkeiten 
halten,  doch  es  ist  nun  einmal  so:  ein  Blinder 
fühlt  sich  am  wohlsten,  nicht  wenn  er  mög- 
lichst viel,  sondern  wenn  er  möglichst  wenig 


Oh,  dieses  Aussteigen  aus  der  Straßenbahn! 
So  stöhnen  viele  Kriegsblinde,  und  sie  meinen 
damit  die  übereifrigen  Helfer,  die  einen  ge- 
radezu hinaustragen,  wobei  man  oft  auf  die 
merkwürdigste  Weise  die  Glieder  verrenkt 
bekommt.  Es  geht  auch  so,  es  geht  sogar  ganz 
ohne  Hilfe,  wenn  dem  Kriegsblinden  nur  der 
richtige  Griff  zum  Aussteigen  gezeigt  wird. 
Die  Frauen  unserer  Kriegsblinden  wissen  Be- 
scheid. Viele  von  ihnen  bringen,  wie  auch 
unser  Bild  zeigt,  den  Mann  morgens  zur 
Arbeitsstätte  und  holen  ihn  abends  wieder  ab. 
Eine  erhebliche  zeitliche  Belastung,  zumal  für 
Mütter  mit  kleinen  Kindern.  Foto;  Bartl 


127 


bedient  wird.  So  wird  mir  aucli,  nachdem  ich 
auf  meiner  Blindenuhr  die  Zeit  festgestellt  habe, 
von  gerade  anwesenden  Leuten  die  Uhrzeit 
noch  einmal  mitgeteilt.  Wie  fühlt  sich  wohl 
ein  Sehender,  der  nach  einem  Blick  auf  seine 
Uhr  die  Zeit  auch  noch  von  anderen  gesagt  be= 
kommt?  Als  Blinder  fühlt  man  sich  ganz 
genau  so! 

Immer  zuerst  anspredienl 
Ein  weiterer  wichtiger  Punkt:  Sprich  einen 
Blinden  zuerst  an,  bevor  du  ihm  Hilfe  leistest! 
Bei  einiger  Überlegung  ist  dies  selbstverständ» 
lieh,  denn  welchem  Sehenden  würde  es  wohl 
gefallen,  wenn  er  in  einem  stockdunklen  Raum 
plötzlich  ohne  eine  Ankündigung  von  einer 
Hand  gepackt  würde?  Daß  dies  unangenehm 
ist,  hat  sicher  gar  nichts  mit  Gruseln  oder 
Furcht  vor  einem  Überfall  zu  tun,  sondern  ist 
ganz  natürlich;  und  es  ist  auch  verständlich. 


daß  ein  Blinder,  der  sich  ja  beim  Alleingehen 
besonders  konzentrieren  muß,  bei  einer  un= 
angekündigten  Hilfeleistung  noch  leichter  er= 
schrickt,  zumal  er  ja  weit  berührungsempfind» 
lieber  ist  als  ein  Sehender. 

Aus  dem  gleichen  Grunde  ist  es  uns  auch 
nicht  angenehm,  wenn  man  uns  bei  jedem 
noch  so  leichten  Zusammenstoß  packt  und  fest» 
hält.  Wir  würden  auch  sonst  nicht  gleich  um» 
fallen,  doch  erschrecken  wir  durch  das  Gepackt» 
werden  noch  ein  zweites  Mal! 

Das  Beispiel  der  Türklinke 

Manchmal  zeigt  es  sich  auch,  daß  ein  Dienst 
der  Höflichkeit  für  einen  Blinden  keine  Hilfe, 
sondern  eher  das  Gegenteil  bedeutet.  Wenn  ich 
nämlich  beim  Verlassen  eines  mir  bekannten 
Lokals  die  Hand  nach  der  Türklinke  ausstrecke 
und  die  Tür  wird  im  gleichen  Augenblick  ge» 
öffnet,  so  gehe  ich,  um  nicht  unliebsame  Be» 
kanntschaft  mit  der  Tür  zu  machen, 
schnell  ein  paar  Schritte  zurück, 
denn  ich  nehme  an,  daß  jemand 
von  draußen  herein  will.  Ich  kann 
ja  nicht  wissen,  daß  die  Tür  gerade 
für  mich  geöffnet  wurde.  Aber 
selbst  wenn  man  mir  dies  vorher 
sagt,  ist  es  für  mich  schwieriger, 
mich  an  der  geöffneten  Tür  zu 
orientieren,  da  ich  nicht  weiß,  wie 
weit  sie  aufgemacht  wurde  bzw.  in 
welchem  Winkel  sie  zum  Ausgang 
steht.  Richtig  wäre  es,  wenn  man 
mich  entweder  gleich  von  meinem 
Platz  aus  hinausführt  oder  wenn 
man,  falls  ich  den  Ausgang  nicht 
selber  gleich  finde,  meine  Hand  an 
die  Klinke  der  geschlossenen  Tür 
führt. 

Als  ob  wir  schwach  und  gebrechlich 
wären 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch 
einen  Fehler  erwähnen,  der  beson» 
ders  häufig  gemacht  wird.  Er  be» 
steht  darin,  daß  man  einem  Blin» 
den  in  derselben  Weise  Hilfe  leisten 
möchte  wie  einem  alten,  schwachen 
Menschen,  der  sich  auf  seine  Glied» 
maßen  nicht  mehr  verlassen  kann. 
Natürlich  gibt  es  auch  alte  und  ge» 
brechliche  Blinde,  doch  werden 
diese  sicher  nicht  mehr  ohne  eine 
ständige  Begleitung  ausgehen.  So 
ist  es  weder  notwendig  noch  ange» 
nehm,  wenn  man  uns  das  Ersteigen 
eines  Bürgersteiges  oder  von  Stu» 
fen  durch  Heben  oder  Ziehen  er» 
leichtern  möchte. 

Besonders  deutlich  wird  die 
falsche  Hilfeleistung  beim  Aus» 
und  Einsteigen  in  ein  Verkehrs» 
mittel,  zum  Beispiel  in  die  Straßen» 
bahn. 


Ein  Kriegshlinder  auf  dem  Schusterschemel  — auch  das 
gibt  es!  Unser  Kamerad  Dahrowski  aus  Sulingen  bei 
Bremen  war  vor  seiner  Erblindung  Schuhmacher  und 
blieb  seinem  Beruf  treu.  Seit  32  Jahren  ist  er  nun  als 
Kriegsblinder  in  einer  großen  Schuhfabrik  tätig.  „Meine 
Tätigkeit“,  so  erzählt  er,  „besteht  darin,  daß  ich  die 
Schuhe  von  innen  austexe,  also  innen  die  Nägel  und 
Klammern  abkneife  und  glatt  raspele.“  — Übrigens  be- 
treibt in  Württemberg  ein  kriegsblinder  Schuhmacher 
zur  Zufriedenheit  seiner  Kunden  eine  eigene  Werkstatt. 


128 


Häufig  suchen  da  der  Schaffner  und  einige  Mit= 
reisende  den  Blinden  mit  vereinten  Kräften 
hinein=  oder  hinauszubugsieren.  Ganz  abge» 
sehen  davon,  daß  der  Blinde  sich  auf  das  um 
gleichmäßige  Ziehen  und  Schieben  gar  nicht 
verlassen  kann,  und  daß  er  sich  leicht  an  den 
Stufen  und  Seitenwänden  stößt,  ist  es  für  ihn 
ein  wirklich  deprimierendes  Gefühl,  mit  solch 
einem  Aufwand  von  Kraft  und  Hilfsbereit- 
schaft verladen  zu  werden.  Und  vor  allem:  dies 
ist  auch  gar  nicht  nötig.  Es  fällt  ja  dem  Blinden 
durchaus  nicht  schwer,  die  Stufen  der  Straßem 
bahn  zu  ersteigen,  wenn  er  weiß,  wo  sie  sind; 
was  ihm  fehlt,  ist  ja  nicht  Kraft,  sondern 
Orientierung.  Man  braucht  nur  die  Hand  des 
Blinden  an  den  Griff  oder  die  Seitenwand  zu 
führen,  und  er  wird  leicht  und  unauffällig  ohne 
weitere  Hilfe  ein=  und  aussteigen. 

Die  beste  Hilfe  ist  nämlich  diejenige,  die 
unter  Vermeidung  allen  unnötigen  Aufsehens 
das  Selbstbewußtsein  des  Blinden  nicht  ver= 
letzt  und  sich  auf  das  den  Umständen  nach  er- 
forderliche Maß  beschränkt. 


Georg  Marschewski 


Eine  russische  Phosphorgranate  nahm  dem 
damals  18jährigen  Alfred  Schropp  das  Augen- 
licht und  den  linken  Unterarm.  Malermeister 
hatte  er  werden  wollen,  nun  saß  er  daheim 
und  machte  Heimarbeitsversuche.  Heute  sagt 
er:  „Ich  mußte  weg  von  zu  Hause;  ohne 
regelmäßige  Arbeit  und  ohne  Kontakt  mit  ge- 
sunden Menschen  wäre  ich  stumpfsinnig  ge- 
worden.“ Jetzt  ist  er  in  der  Kontrollabteilung 
einer  Firma  in  Neckarsulm  tätig.  Er  mißt 
Kolbenzubehörteile.  Der  Chef  der  Eingangs- 
kontrolle meint,  es  gebe  unter  Gesunden  sel- 
ten so  arbeitswillige,  präzise  und  schnell 
schaffende  Männer.  Foto:  Stuttgarter  Zeitung 


Die  Arbeiter  am  Hochofen  brauchen  feste 
Lederhandschuhe.  Die  Dortmund- Hör  der  Hüt- 
ten-Union  läßt  diese  Handschuhe  durch  einen 
Kriegsblinden  an  einer  Nähmaschine,  die  mit 
einer  Blindeneinrichtung  versehen  ist,  nähen. 
Ewald  Weber,  den  unser  Bild  als  fleißigen 
Näher  zeigt,  erzählt  in  seinem  kleinen  Bericht 
von  dieser  und  von  anderen  Arbeiten,  mit 
denen  er  in  dem  großen  Werk  betraut  wird. 


Vom  Hilfsarbeiter 

zum  Ankerwidzler 

Was  ein  Industriearbeiter  erzählt 

Jeden  Morgen  gegen  fünf  Uhr  verlasse  ich 
meine  Wohnung,  um  mit  meiner  treuen  Uschi 
zu  meiner  Arbeitsstelle  bei  der  Dortmund- 
Hörder  Hütten=Union  zu  gehen.  Am  Werkstor 
tverde  ich  von  einem  Arbeitskollegen  in  Emp- 
fang genommen  und  über  das  Werksgelände 
zu  meinem  Arbeitsplatz  geführt.  Meine  treue 
Uschi  trottet  brav  nebenher.  Nach  der  üblichen 
Morgenbegrüßung,  die  teils  freundlich  oder 
auch  gar  nicht  erwidert  wird,  gehe  ich  an  meine 
Arbeit.  Vor  mir  liegen  eine  Anzahl  Holzschuhe, 
die  mit  Lederplättchen  versehen  werden  sollen. 
Doch  bevor  ich  mit  dem  Aufnageln  der  Plätt- 
chen beginne,  zünde  ich  mir  ein  Pfeifchen  an, 
denn  mit  Dampf  geht  die  Arbeit  besser.  Der 
Kollege  nebenan  erzählt  mit  Erbitterung  von 
seinem  Fußballverein,  der  am  letzten  Sonntag 
wieder  verloren  hat.  Und  so  läuft  die  Arbeit 
munter  fort. 

Bei  der  ganzen  Nagelei  kommt  es  darauf  an. 
früh  genug  den  Finger  fortzuziehen,  wenn  man 


9 


12g 


mit  dem  Hammer  zuschlägt.  Böse  Menschen 
behaupten,  wenn  der  Finger  des  öfteren  ge» 
troffen  wird,  gewöhne  er  sich  daran.  Nach 
einigen  Stunden  habe  ich  all  die  Holzschuhe 
mit  Leder  benagelt  und  gehe  an  den  Werktisch, 
um  Metallrollen  anzufertigen,  die  für  die 
Elektroabteilung  bestimmt  sind.  Wenn  auch 
zu  Anfang  die  schmalen  Metallstreifen  noch 
nicht  formgerecht  aussehen,  so  bekommt  man 
doch  mit  der  Zeit  Übung  in  der  Anfertigung 
dieser  Metallrollen,  und  das  Gesicht  des  Mei» 
Sters  strahlt  ob  der  schönen  Rollen. 

Das  Handschuhnähen  hatte  für  mich  einen 
besonderen  Reiz.  Die  große  Nähmaschine  mit 
einer  Blindeneinrichtung  war  für  mich  von  be- 
sonderem Interesse.  Auf  einem  großen  Eisen» 
werk  werden  für  die  Arbeiter  am  Hochofen 
und  auch  in  sonstigen  Abteilungen  feste  Leder- 
handschuhe benötigt.  Ich  setzte  meinen  Stolz 
daran,  genau  so  sicher  und  so  schnell  wie  meine 
sehenden  Kollegen  diese  Handschuhe  anzufer- 
tigen. Es  war  eine  interessante  Arbeit.  Meine 
Arbeitskameraden  verfolgten  meine  Arbeit  mit 
Spannung,  und  nach  kurzer  Zeit  stand  ich 
ihnen  in  der  Anfertigung  von  Handschuhen  in 
keiner  Weise  nach. 


Schon  immer  hatte  ich  den  Wunsch  gehabt, 
in  der  Elektroabteilung  als  Ankerwickler  be- 
schäftigt zu  werden.  Nach  Abgang  eines  Kame- 
raden ging  mein  Wunsch  in  Erfüllung.  Ich 
lernte  die  verschiedenen  Arbeitsgänge  kennen, 
wie  Stäbe  kratzen,  richten,  isolieren,  kleben 
usw.  Für  diese  Beschäftigung  hatte  ich  ein  be- 
sonderes Interesse,  und  ich  war  bemüht,  mir 
alle  Techniken  bald  anzueignen,  um  auf  mei- 
nem neuen  Arbeitsplatz  vollwertige  Arbeit  zu 
leisten. 

Die  Werkstätten  bei  der  Dortmund-Hörder 
Hütten-Union  sind  vorbildlich  eingerichtet. 
Die  Wasch-,  Bade-  und  Umkleideräume  sind 
hell  und  sauber,  so  daß  man  vom  Fußboden 
essen  könnte.  Samstags  morgens  können  wir 
schon  zum  Baden  gehen. 

Das  Verhältnis  zu  meinen  sehenden  Kollegen 
ist  das  denkbar  günstigste.  Sie  helfen  mir,  so 
gut  sie  können.  Gerne  gehe  ich  zu  meinem 
Werk,  und  nach  verbrachter  aditstündiger 
Arbeit  gehe  ich  dann  zufrieden  mit  meiner 
Uschi  heim  mit  dem  stolzen  Gefühl  im  Herzen, 
meine  Pflicht  getan  zu  haben. 

Ewald  Weber 


Er  trägt  die  Sorgen  von  107  Kameraden 

Begegnung  mit  einem  Bezirksvorsitzenden  des  Kriegsblindenbundes 


„Ich  habe  vor  vier  Monaten  meine  Aus- 
bildung als  Telefonist  mit  einer  Prüfung  vor  der 
Oberpostdirektion  mit  der  Note  .Sehr  gut'  ab- 
geschlossen, aber  es  ist  kein  Arbeitsplatz  zu 
finden  . . ." 

„Wie  kann  ich  eine  Erziehungsbeihilfe  be- 
antragen? Mein  Junge  soll  doch  jetzt  das 
Technikum  besuchen  . . 

„Nachdem  unsere  Tochter  nun  12  Jahre  alt 
geworden  ist,  werden  unsere  Wohnverhältnisse 
immer  unerträglicher  ..." 

Mit  solchen  und  mannigfachen  anderen  Nöten 
kommen  die  Kriegsblinden  zu  ihrem  Kamera- 
den, den  sie  zum  Bezirksvorsitzenden  ihres 
Bundes  gewählt  haben.  Sie  hoffen  auf  Hilfe  und 
Rat,  und  meist  sprechen  sie  nicht  vergeblich  vor. 
Der  Feierabend  des  Bezirksvorsitzenden  gehört 
den  anderen.  Oft  kommt  Abend  für  Abend  Be- 
such, oft  fährt  der  Bezirksvorsitzende  bei 
Arbeitsschluß  gar  nicht  erst  nach  Hause,  son- 
dern macht  sich  früher  frei,  um  Behörden  oder 
Arbeitgeber  aufzusuchen.  Es  gehört  schon 
einiges  an  Kameradschaftssinn  und  an  Ver- 
zichtenkönnen dazu,  wenn  man  Bezirksvor- 
sitzender ist. 

• „Eigentlich  ist  es  traurig,  daß  wir  soviel  Ar- 
beit haben",  sagte  einmal  einer  dieser  tüchtigen 
Bezirksvorsitzenden,  „denn  acht  Jahre  nach 
Kriegsende  müßte  es  undenkbar  sein,  daß  sich 
ein  Kriegsblinder  mit  Behörden  um  seine  be- 


Tagsüber  ist  Willi  Meures  als  Telefonist 
beim  Finanzamt  tätig.  Er  stellt  nicht  nur  mit 
Gewandtheit  die  gewünschten  Verbindungen 
her,  sondern  weiß  auch  sachkundige  Aus- 
künfte zu  geben.  Sein  Feierabend  aber  gehört 
seinen  kriegsblinden  Kameraden  im  Bezirk 
Aachen,  deren  Vorsitzender  er  seit  25  Jahren 
ist.  Viele  Kriegsblinde  verdanken  seiner  Akti- 
vität  einen  Arbeitsplatz,  eine  Wohnung  oder 
sonstige  Hilfe  aus  Bedrängnis. 


130 


Was  ist  hier  zu  tun?  Wie  können  wir  helfen?  Ein  Kriegsblinder  (mit  Armbinde)  lebt  in  ganz 
unerträglichen  Wohnverhältnissen.  Mehrere  Hilfsbemühungen  sind  schon  gescheitert.  Aber 
die  erfahrenen,  leitenden  Kameraden  des  Kriegsblindenbundes  lassen  nicht  locker.  In  einer 
Fürsorgeberatung  des  Vorstandes  wird  ein  neuer  Weg  entwickelt.  Der  Aachener  Bezirks- 
vorsitzende Meures  (zweiter  von  links)  hat  zu  dieser  Sitzung,  in  der  mehrere  komplizierte 
Fälle  beraten  werden  müssen,  den  ebenfalls  kriegsblinden  Landesverbandsvorsitzenden  Otto 
Jansen  aus  Düsseldorf  (vierter  von  links)  gebeten.  Der  in  Not  geratene  Kamerad  schöpft 
neuen  Mut.  Bezeichnend  ist  übrigens  die  Anwesenheit  der  Frauen:  sie  sind  die  „Augen“  der 
Männer,  lesen  Akten  vor  und  machen  rasch  ein  paar  Notizen.  Fotos  (2);  Forschelen 


scheidenen  Rechte  streiten  muß  oder  daß  er  von 
einem  Arbeitgeber  mit  fadenscheinigen  Aus* 
flüchten  abgewiesen  wird.  Es  ist  traurig,  daß 
immer  noch  viele  Kriegsblinde  verbittert  und 
» ratlos  zu  mir  kommen  müssen.  Eine  seelische 
Belastung  ist  ja  für  einen  Kriegsblinden  doppelt 
schwer  zu  tragen.  Da  ist  es  gut,  daß  wir  Kriegs* 
blinden  uns  zu  einer  echten  Schicksalsgemein* 
Schaft  zusammengefunden  haben  und  uns 
gegenseitig  helfen." 

Einem  dieser  unermüdlich  für  seine  Karne* 
raden  tätigen  Bezirksvorsitzenden  begegneten 
wir  in  Aachen.  Die  gleiche  Begegnung  hätte  in 
Würzburg,  in  Lübeck  oder  in  Detmold  statt* 
finden  können  . . . 

Er  „wohnt"  auf  dem  Speicher 

Bezirksvorsitzender  Meures  will  es  gar  nicht 
glauben,  was  ihm  da  von  seinem  Kameraden 
berichtet  wird.  Der  Mann  hatte  sich  für  eine 
Abfindungssumme  ein  Häuschen  gekauft,  aber 
er  kann  es  nicht  beziehen,  denn  für  die  in  dem 
Hause  wohnenden  Mieter  findet  sich  kein  ande* 
rer  Wohnraum,  d.  h.  das  Wohnungsamt  stellt 
Ausweichmöglichkeiten  nicht  zur  Verfügung, 
weil  der  Eigentümer  nicht  am  Ort  ansässig  ist. 
Der  kriegsblinde  und  obendrein  händelose 
Hauseigentümer  „wohnt"  zur  Zeit  mit  seiner 
Frau  in  einem  im  vierten  Stock  gelegenen 
Speicherzimmer.  Das  ist  für  den  Betroffenen 


nicht  nur  gefährlich,  sondern  unzumutbar  und 
ungerecht.  Vorsitzender  Meures  gibt  einen  er* 
folg  versprechenden  Rat:  gestützt  auf  § 4 des 
Mieterschutzgesetzes  soll  der  Kamerad  unter 
Hinweis  auf  seinen  Eigenbedarf  die  Räumungs» 
klage  einreichen. 

„Ich  bin  sicher,  daß  wir  so  zum  Zuge  kommen 
werden",  sagt  Meures.  „Das  Wohnungs* 
Problem",  fährt  er  fort,  „nimmt  mich  besonders 
stark  in  Anspruch.  Meist  sind  sehr  langwierige 
Verhandlungen  nötig.  Da  hatte  ich  z.  B.  einen 
Fall,  bei  dem  ich  monatelang  kämpfen  mußte, 
ehe  dem  Kameraden  geholfen  werden  konnte." 
Aus  dem  Schriftwechsel  mit  den  Behörden,  den 
uns  der  Vorsitzende  zeigt,  entnehmen  wir,  wie 
es  schließlich  gelang,  das  zur  Wohnung  eines 
Kriegsblinden  mit  kranker  Frau  und  vier  Kin* 
dem  gehörende  und  für  einen  Untermieter  be* 
schlagnahmte  Zimmer  wieder  freizubekommen. 

Hauptsorge:  die  Arbeitsplätze 

107  Kriegsblinde  hat  der  Bezirksvorsitzende 
Meures  zu  betreuen,  übrigens  ehrenamtlich,  wie 
überhaupt  die  Mitarbeiter  des  Bundes  der 
' Kriegsblinden  ehrenamtlich  tätig  sind.  Da 
sind  Anträge  zu  erledigen  oder  weiterzuleiten, 
mit  denen  um  Beschaffungsbeihilfen  oder  um 
Darlehen  gebeten  wird,  da  laufen  Anträge  und 
Anmeldungen  für  einen  Kuraufenthalt  in  den 


131 


9 


Konrad  Grebe  war  früher  Lackierer  bei  der  Firma  Henschel  in  Kassel.  Aber  er  meldete 
sich,  1944  in  Frankreich  erblindet,  bei  der  Firma  nicht  zurück.  „Ich  wollte  nicht  aus  Mitleid 
irgendeine  Arbeit  zugewiesen  bekommen.“  Anfangs  hielt  er  den  Beruf  eines  Bürstenmachers 
für  zweitrangig,  dann  aber,  als  er  in  Stuttgart  einen  Lehrgang  mitgemacht  hatte,  gewann 
er  Freude  daran,  weil  er  hier  ganz  selbständig  etwas  schaffen  kann.  Beim  Schachspiel  zur 
Feierabendzeit  ist  der  sechzehnjährige  Sohn  Rolf  der  Gegner.  Es  handelt  sich  um  ein  Steck- 
schach, bei  dem  Brett  und  Figuren  Markierungen  zum  Abfühlen  haben.  Foto:  Lfengemann 


Erholungsheimen  des  Kriegsblindenbundes  ein, 
da  gilt  es,  einen  gemeinsamen  Ausflug  vor= 
zubereiten  — im  Kameradenkreis  fühlt  sich 
jeder  Kriegsblinde  doppelt  wohl  — , da  gilt  es, 
ein  Rundschreiben  zusammenzustellen  und  ver= 
vielfältigen,  zu  lassen,  mit  dem  die  Kameraden 
mancherlei  Neues  erfahren,  aber  immer  wieder 
treten  all  diese  Aufgaben  zurück  vor  der  be= 
sonderen  Sorge,  allen  noch  irgendwie  arbeits= 
fähigen  Kameraden  einen  angemessenen  Ar= 
beitsplatz  zu  beschaffen. 

„Ich  habe  es  immer  wieder  erlebt",  sagt  Herr 
Meures,  „daß  arbeitslose  Kriegsblinde  in  zer= 
mürbende  Grübeleien  geraten  und  ihr  Leben  für 
sinnlos  halten.  Es  ist  oft  erschütternd,  erleben 
zu  müssen,  daß  Arbeitgeber  für  diese  seelische 
Not  eines  Kriegsblinden  nicht  das  geringste 
Verständnis  aufbringen,  geschweige  denn,  daß 
sie  einem  Kriegsblinden  überhaupt  Zutrauen, 
etwas  zu  leisten.  Sobald  wir  es  aber  endlich 
erreicht  haben,  daß  ein  Kriegsblinder  eingestellt 
wird,  sei  es  als  Telefonist,  als  Industriearbeiter 
oder  sonst  an  einem  vernünftigen  Platz,  ist  die 
Überraschung  der  Arbeitgeber  immer  riesen= 
groß,  und  sie  halten  diesen  einzelnen  Kriegs^ 
blinden  dann  gleich  für  ein  Genie,  Eins  ist 


natürlich  so  töricht  wie  das  andere.  Und  so 
bleibt  uns  nichts  anderes  übrig,  als  immer  wie» 
der  die  noch  zögernden  Unternehmer  und  Be= 
hördenleiter  mit  Geduld  aufzuklären."  ' 

In  der  Stadt  Aachen  selbst  arbeiten  jetzt  17 
Kriegsblinde  als  Telefonisten,  Industriearbeiter 
und  Masseure  zur  vollsten  Zufriedenheit  ihrer 
Vorgesetzten.  Jeder  dieser  17  Kriegsblinden  ist 
ein  überzeugendes  Beispiel  dafür,  daß  auch  ein 
Kriegsblinder,  wenn  er  nur  am  richtigen  Platz 
eingesetzt  ist,  voll  seinen  Mann  stehen  kann. 
Vorsitzender  Meures  kämpft  zur  Zeit  darum, 
für  zwei  weitere  Kriegsblinde  in  Aachen  einen 
Arbeitsplatz  zu  finden.  „Selbst  in  aussichts» 
losen  Fällen",  so  erklärt  er,  „lassen  wir  in 
unseren  Bemühungen  nicht  nach,  und  meist 
haben  wir  doch  noch  Erfolg.  Die  jetzt  schwe= 
benden  Verhandlungen  lassen  schon  mehr  und 
mehr  deutlich  werden,  daß  auch  diese  beiden 
Kameraden  bald  die  ersehnte  Arbeit  aufnehmen 
können.  Allein  diese  Hoffnung  hat  den  beiden 
wieder  neue  Lebensfrische  gegeben." 

Bitterschwer  und  fast  unlösbar  scheint  aller^ 
dings  die  Lage  der  kriegsblinden  Bürstenmacher 
auf  dem  Lande  zu  sein.  Das  sind  die  besonderen 


132 


Sorgenkinder  des  Bezirksvorsitzenden.  Arbeits= 
platze  sind  in  den  Dörfern  naturgemäß  nicht  zu 
finden,  lange  Anfahrten  mit  der  Eisenbahn  oder 
— wie  bei  Sehenden  — mit  dem  Fahrrad  oder 
Motorrad  sind  nicht  dutchführbar,  und  eine 
Umsiedlung  in  die  Stadt  scheitert  teils  an  der 
Wohnungsnot,  teils  verständlicherweise  daran, 
daß  sich  ein  Kriegsblinder  ungern  aus  der  ihm 
vertrauten  heimatlichen  Umwelt  löst.  Um  den 
ländlichen  Bürstenmachern  ein  breiteres  Wir» 


kungsfeld  zu  schaffen,  bemühen  sich  überall  in 
der  Bundesrepublik  die  Bezirksvorsitzenden, 
den  in  Städten  ansässigen  Bürstenmachern  einen 
anderen  Beruf  zu  vermitteln.  Je  geringer  die 
Anzahl  der  Bürstenmacher  ist,  desto  mehr  Aut= 
träge  entfallen  auf  den  einzelnen.  Herr  Meures 
hat  bis  jetzt  fünf  von  seinen  Bürstenmachern 
mit  Hilfe  des  Arbeitsamtes  an  einen  anderen 
Arbeitsplatz  stellen  können.  Der  geringe  Ab» 
Satz  an  Bürstenwaren  reicht  oft  nur  für  ein 


Dreillnsloto 


^33 


paar  Stunden  Arbeit  in  der  Woche  und  dem» 
entsprechend  für  ein  geringes  Taschengeld,  so 
daß  einer  dieser  Bürstenmacher  in  ärgste  Not 
geraten  war.  Alle  Anstrengungen,  ihn  im  Kreis 
unterzubringen,  schienen  vergeblich  zu  sein. 
Endlich  gelang  es  den  hartnäckigen  Bemühungen 
des  Vorsitzenden,  dem  schon  Verzweifelten  beim 
Finanzamt  Aachen=Land  einen  Arbeitsplatz  als 
Telefonist  zu  beschaffen. 

„Ein  solcher  Erfolg  macht  mir  genau  so  viel 
Freude,  als  ob  ich  selbst  den  Arbeitsplatz  be= 
kommen  hätte",  sagt  Meures  schmunzelnd. 


die  bei  einem  Anruf  hervorspringen,  wo  sonst 
kleine  Lampen  aufleuchten. 

Aber  ich,  der  ich  das  Glück  habe,  sehen  zu 
können,  bewundere  Herrn  Meures  dennoch 
und  mit  ihm  alle  die  vielen  anderen  Bezirks» 
Vorsitzenden  im  Lande.  Seit  25  Jahren  ist 
dieser  geistig  so  regsame  Mann  im  Bezirks» 
Vorstand  des  Kriegsblindenbundes  tätig,  zu» 
nächst  als  2.  Vorsitzender,  bis  ihn  1936  das 
Vertrauen  der  Mitglieder  an  die  Spitze  des 
Bezirks  Aachen  berief.  Mit  dem  Flüchtlings» 
Strom  .und  mit  den  Kriegsblinden  des  zweiten 


Und  selber  voll  berufstätig 
Seit  nun  schon  20  Jahren  ist  Herr  Meures 
selber  in  vorbildlicher  Weise  berufstätig,  und 
zwar  als  Telefonist  beim  Finanzamt  Aachen» 
Stadt.  Über  Mangel  an  Arbeit  kann  er  sich 
kaum  beklagen.  Ein  Anruf  löst  den  anderen  ab, 
und  bei  ao  Amtsleitungen  und  130  Neben» 
anschlüssen  muß  ein  Telefonist  schon  „auf 
Draht"  sein,  um  die  Gespräche  schnell  und 
sicher  vermitteln  zu  können.  Manche  dieser  Ge» 
spräche  werden  von  ihm  selbst  sogleich  er» 
ledigt,  denn  auf  dem  Fachgebiet  des  Finanz» 
amtes  kann  Herr  Meures,  der  die  Prüfung  als 
Steuerassistent  mit  „Sehr  gut"  bestand  und  der 
jetzt  Steuersekretär  ist,  zuverlässige  Auskünfte 
geben.  Im  ersten  Weltkrieg  verlor  er  sein 
Augenlicht,  aber  er  gewann  seinen  Humor  zu» 
rück  und  ist  unter  seinen  Kollegen  angesehen 
und  beliebt.  Viele  Besucher  bewundern  die 
exakte  und  fixe  Bedienung  seines  Gerätes,  aber 
er  wehrt  solche  Bewunderungen  ab:  „Es  ist 
nichts  al.'i  Routine,  ein  gutes  Gedächtnis,  Kon» 
zentration  und  gründliche  Kenntnisse  des  Be» 
triebes.  Und  zu  bewundern  ist  nur  die  tech» 
nische  Konstruktion  dieser  Anlage  hier."  Und 
die  Finger  tasten  über  die  lange  Reihe  der  Stifte, 


Als  der  Münchener  Faschingsprim  von  1953, 
Prinz  Paul,  bei  Beendigung  seiner  Regent- 
schaft von  der  Presse  nach  dem  dankbarsten 
Publikum  gefragt  wurde,  sagte  er:  „Das  war 
der  Kameradenkreis  der  Kriegsblinden,  und 
zwar  mit  Abstand.'“  Als  die  Münchener  Kriegs- 
blinden Fasching  feierten,  ging  es  genau  so 
lustig  zu  wie  bei  den  Sehenden  und  mit  den 
einfallsreichsten  Verkleidungen.  Foto:  Bartl 


Ein  originelles  Geschenk  erhielt  die  Düsseldorfer  Karnevalsprinzessin,  als  sie  eine  Karne- 
valsveranstaltung des  Kriegsblindenbundes  besuchte,  nämlich  eine  Bürste.  Die  Prinzessin 
freut  sich  mit  Recht,  denn  die  Bürste  ist  feinste  Kriegsblinden-Handwerksware.  Übrigens: 
der  gesamte  Elferrat  bestand  aus  Kriegsblinden.  Foto:  Ballion 


134 


Weltkrieges  vervielfachte  sich  seine  Arbeit, 
aber  trotzdem  ist  er  für  jeden  zu  sprechen, 
nimmt  sich  aller  Fälle  mit  Gewissenhaftigkeit 
an  und  gibt  in  regelmäßigen  Versammlungen 
Rechenschaft  über  seine  Tätigkeit. 

„Im  Bezirk  Aachen  darf  es  keine  Not  mehr 
unter  den  Kriegsblinden  geben",  das  nennt  er 
sein  Ziel.  Es  ist  ihm  zuzutrauen,  daß  er  dieses 
hohe  Ziel  erreicht,  wenn  wir,  die  Sehenden,  ihm 
dabei  ein  paar  Schritte  entgegengehen.  (Cla) 


Auf  dieser  seltsamen  Papierschlange,  die  aus 
der  kleinen  Blinden- Stenomaschine  hervor- 
quillt, ist  eine  Unzahl  winziger  Punkte  ein- 
geprägt, die  von  der  Stenotypistin  dann  mit 
den  Fingerspitzen  abgefühlt  und  gelesen  wer- 
den können.  Die  Maschine  hat  sechs  Tasten 
und  eine  Leertaste.  Manche  kriegsblinde 
Stenotypisten  erreichen  eine  Schreibgeschwin- 
digkeit von  200  Silben  in  der  Minute,  einige 
sogar  240,  ja  300  Silben.  Vom  Papierstreifen 
aus  wird  der  Text  dann  sauber  mit  einer  nor- 
malen Schreibmaschine  übertragen,  die  nur 
ein  paar  kaum  bemerkbare  Hilfskennzeichen 
auf  der  Tastatur  hat.  Sieglinde  Brauns,  die 
durch  den  Luftkrieg  ihr  Augenlicht  verlor, 
weiß  mit  Stenomaschine  und  Schreibmaschine 
so  geschickt  umzugehen,  daß  sie  mit  ihren 
sehenden  Kolleginnen  durchaus  Schritt  halten 
kann.  Sie  ist  im  Bundesbahn  - Zentralamt 
Minden  beschäftigt,  und  die  Anforderungen 
dort  sind  bestimmt  nicht  gering.  Foto:  Seeger 


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Wie  gut  haben  wirs  doch! 

Ein  Erlebnis,  das  — leider!  — in  dieser  oder 
jener  Form  nahezu  alle  deutschen  Kriegsblinden 
einmal  gehabt  haben,  erzählt  hier  unser  Kame= 
rad  Martin  Bedürftig: 

Zusammen  mit  Herrn  K.  sitze  ich  im  Garten. 
Wir  unterhalten  uns  über  dies  und  jenes  und 
landen  schließlich  beim  Fußballtoto.  Plötzlich 
stößt  Herr  K.  einen  abgrundtiefen  Seufzer  aus 
und  meint:  „Die  ganze  Tipperei  bringt  ja  doch 
nichts  ein.  Man  müßte  wie  Sie  auch  kriegsblind 
sein.  Dann  brauchte  man  den  lieben  langen  Tag 
nichts  zu  tun,  o dolce  far  niente,  und  bekäme 
dafür  noch  das  schöne  Geld." 

Tja,  da  blieb  mir,  mit  Verlaub  gesagt,  die 
Spucke  weg.  Ich  fragte  meinen  Nachbarn,  ob  er, 
wenn  so  etwas  möglich  wäre,  im  Ernst  mit  mir 
tauschen  möchte.  Er  zögerte.  Ich  sagte,  daß  ich 
auch  nicht  für  500,  nicht  für  1000  Mark  im 
Monat  blind  sein  möchte.  Er  schien  es  nicht 
recht  zu  begreifen.  Es  hatte  keinen  Zweck,  mit 
ihm  zu  reden.  Er  war  neidisch. 

Kriegsblinde  werden  beneidet.  Nicht  wegen 
ihrer  Glasaugen,  o nein,  sondern  wegen  der 
paar  Mark  Rente.  Merkwürdige  Welt! 

Sollen  wir  mit  der  Faust  auf  den  Tisch  schla= 
gen?  Ach,  wir  tun  etwas  Besseres:  wir  lachen, 
oder  wenigstens:  wir  lächeln... 


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135 


r Zugegeben,  das  Baden  ist  nicht  immer  ein 
Genuiä.  Es  soll  sogar  kleine  Jungen  geben,  die 
sich  mit  Händen  und  Füßen  sträuben,  wenn  sie 
in  die  Badewanne  gesteckt  werden,  es  soll 
starke  Männer  geben,  die  mit  dem  großen  Zeh 
erst  vorsichtig  prüfen,  ob  das  Wasser  des 
Strandbades  auch  wenigstens  22  Grad  warm  ist, 
und  es  soll  schöne  und  weniger  schöne  Damen 
geben,  denen  das  Baden  nur  deshalb  nicht  zum 
Genuß  wird,  weil  der  Haushaltungsvorstand 
ihnen  keinen  neuen  Badeanzug  genehmigte. 
Am  allerwenigsten  aber  kann  man  von  einem 
„Genuß"  des  Badens  sprechen,  wenn  man  an 
die  Sole=  und  Moorbäder  in/  den  Kurorten 
denkt.  Sie  bedeuten  nämlich  für  den  Kurgast 
eine  oft  nicht  geringe  Anstrengung,  verbunden 
mit  strengen  Vorschriften  und  mit  oft  lang« 


welligem  Herumliegen  auf  Liegesofas.  Merk« 
würdigerweise  sagt  man  aber  in  der  deutschen 
Sprache  auch  hier,  daß  man  die  Bäder  in  Bad  X. 
„genieße",  obwohl  von  Genuß  höchstens  nach 
einigen  Wochen  die  Rede  sein  kann,  dann  näm= 
lieh,  wenn  man  sich  wohler  fühlt  und  kein 
Zipperlein  mehr  spürt. 

Was  niemand  bes|reiten  kann,  ist  die  Tat« 
Sache,  daß  das  „Bad  am  Samstagabend"  ein 
Hochgenuß  ist,  und  zwar  aus  vielen  Gründen: 
alle  Last  der  Woche  wird  abgespült,  der  Sonn« 
tag  wird  begonnen,  und  in  der  Badewanne 
bist  du  sicher  vor  allem  Ungemach,  vor  Telefon 
und  vor  Besuch  und  vor  jeglicher  Arbeit.  Sonst, 
etwa  wenn  man  Zeitung  liest,  kann  man  das 
unbehagliche  Gefühl  haben:  leg  die  Zeitung 


1^6 


hunderten  mit  ins  Feld  zogen 
— zum  Bartscheren,  also  als 
„Feldscherer",  und  zur  Ver= 
wundetenpflege.  Die  Bade= 
knechte  sind  also  die  Vor= 
ganger  der  Sanitäter.  Auf  der 
Geselligkeit  lag  aber  auch  zur 
Zeit  der  Griechen  und  Römer 
das  Hauptgewicht  bei  den 
öffentlichen  Badeanstalten,  da= 
neben  auf  dem  Gebiet  des 
Sportes.  In  Griechenland  sind 
uns  Schwimmbecken  bekannt, 
in  denen  sich  auch  Schwimme= 
rinnen  getummelt  haben.  Auch 
Duschen  gab  es  schon  und 
prächtige  Waschräume.  Diese 
öffentlichen  Bäder  wurden 
immer  luxuriöser  bis  hin  zu  ' 
den  großen  Thermen  der  alten 
Römer.  Selbst  auf  deutschem 


Boden,  z.  B.  in  Trier,  zeugen 

Schwimmunterricht  Hon.  Daumier  (1808-1879)  stattliche  Ruinen  noch  heute  von  der  großen 

Bedeutung  der  antiken  Badeanstalten. 


weg!  Tu  was!  Schreib  endlich  den  Brief  an 
Tante  Emmi!  In  der  Badewanne  aber  bist  du 
sicher  vor  deinem  Gewissen  . . . 

Ein  richtiger  Genuß  ist  aber  das  Baden,  wie 
es  scheint,  vor  etlichen  hundert  Jahren  ge= 
wesen,  und  es  ist  jammerschade,  wenigstens 
für  lebensfrohe  Männer,  daß  die  Sitten  und 
Gebräuche  des  Mittelalters  heute 
in  Vergessenheit  geraten  sind. 

Wenn  man  heute  in  der  Bade; 
wanne  liegt,  so  ist  man  gänzlich 
allein  und  verlassen  und  kann  die 
eigene  gute  Laune  nur  sich  selber 
mitteilen,  indem  man  singt  oder 
das  Badethermometer  als  Schiffe 
chen  auf  tosenden  Wellen  schau= 
kein  läßt. 

Damals  aber  pflegte  man  beim 
Baden  freundliche  Geselligkeit, 
und  nicht  einmal  nur  unter  Män= 
nern.  So  ein  gemeinsames  Früh= 
stück,  Badewanne  neben  Bade= 
wanne,  oder  andere  Kurzweil  im 
' Bade,  das  muß  doch  wahrhaftig 
ein  Vergnügen  gewesen  sein.  Das 
Abschrubben  des  Körpers  be= 
sorgten  die  Badeknechte,  die 
„Bader",  die  in  späteren  Jahr» 


Auch  Badezimmer  in  Privathäusern  waren 
bei  vornehmen  Griechen  und  Römern  zu  finden, 
ja  schon  in  den  Palästen  Altägyptens.  Bei  den 
Römern  hieß  waschen  „lavare",  und  das  Bade» 
Zimmer  hieß  „lavatrina".  Das  Wort  wandelte 
sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  — man  rümpfe 


Honore  Daumier 


ho^dd^iscJUe'  k/oUlcämmei^ei  und 

AKTIENGESELLSCHAFT 

DELMENHORST 


137 


nicht  die  Nase!  — zu  „Latrine"  Jeden  früheren 
Soldaten  wird  diese  Ehrenrettung  der  Latrine 
freuen!  Künftig  denkt  er  bei  diesem  Wort  an 
Marmor  und  Silber  und  an  schöne  Römerinnen, 
die  sich  in  Eselsmilch  baden.  Wer  dagegen  in 
unserer  Heimat  im  Mittelalter  über  ein  Bade> 
Zimmer  verfügte,  ein  ganz  bescheidenes  und 
spartanisches,  der  war  ein  reicher  Mann.  Es 
galt  als  besonders  ehrender  Willkomm,  wenn 
man  dem  eintreffenden  Gast  ein  warmes  Bad 
anbieten  konnte. 

Weit  wasserscheuer  waren  die  vornehmen 
Europäer  vor  200  und  500  Jahren.  Selbst  mit 
dem  für  uns  so  normalen  Waschen  war  man 
höchst  vorsichtig,  und  man  zog  statt  des  Was» 
sers  den  Salbentopf  und  die  Puderquaste  vor. 
Im  Barockzeitalter  wurden  aber  gleichzeitig  die 
Badereisen  in  Kurorte  bei  der  vornehmen  Ge» 
Seilschaft  sehr  beliebt.  Als  man  im  Mittelalter 
_die  Heilquellen  und  ihre  Wirkung  entdeckt 
hatte,  kamen  die  Kranken  nicht  nur  in  Scharen, 
sondern  oft  zu  Tausenden  herbei,  und  irr  rie» 


Das  Bad  der  Neuvermählten"  um  1300  (Italien) 


sigen  Lagern,  in  Zelten  und  unter  freiem  Hirn» 
mel  drängten  sich  die  Menschen.  Wir  nehmen 
heute  eine  Kurverwaltung  nebst  Kurtaxe  und 
Badearzt  als  etwas  Selbstverständliches  hin, 
und  wir  möchten  auch  keinem  Patienten  raten, 
sich  in  jene  Zeit  zurückversetzt  zu  wünschen, 
in  der  man  sich  um  einen  Platz  an  der  Quelle 
schlug. 

Mit  der  Zeit  der  Aufklärung  erfuhr  auch  das 
Badewesen  eine  Wiederbelebung.  Das  Schwim» 
men  im  FIkI?  und  im  Meer  wurde  wieder  gesell» 
schaftsfähig,  und  schließlich,  so  um  igoo  herum, 
wurde  das  Freibaden  zur  Mode.  Die  Frau  trug 
damals  ein  volantbesetztes  Badekleid,  und  ein 
„Bikini"  wäre  auch  im  Traum  unvorstellbar  ge» 
wesen.  Natürlich  blieben  zunächst  die  Bade» 
abteilungeri  für  Herren  und  für  Damen  auch  in 
den  Seebädern  streng  voneinander  getrennt. 
Ob  allerdings  das  genaue  Gegenteil  in  unserer 
Gegenwart,  nämlich  die  „Abessinien"»Distrikte 
moderner  Seebäder,  einen  kulturellen  Fort» 
schritt  darstellen,  ist  noch  nicht  so  ganz  sicher. 


Immerhin  wurde  auf  zivilisatorischem  Gebiet 
einiger  Fortschritt  erzielt,  wenn  man  einmal 
überlegt,  was  für  Bademöglichkeiten  dem 
modernen  Menschen  zur  Verfügung  stehen: 
Neben  dem  Reinigungsbad  (Badewanne,  Dusche 
und  Sitzbad)  und  dem  Strandbad  das  Hallen» 
bad,  die  Sauna,  das  Dampfbad,  das  Bürsten» 
bad,  das  Heißluftbad,  Schwitzbad  und  Luftbad 
dazu  das  Sandbad,  wenn  man  sich  in  heißem 
Sand  eingraben  läßt.  Selbst  in  Elektrizität  kann 
man  baden  (Stangerbad)  und  selbstverständlich 
,in  der  Sonne  und  auch  im  Moor. 


Wir  rechnen  jedenfalls  heute  das  Baden  mit 
seinen  vielen  Möglichkeiten  zu  den  Vorteilen, 
die  uns  die  Zivilisation  gebracht  hat,  und  gerade 
ein  Kriegsblinder  weiß  alles  zu  schätzen,  was 
mit  dem  Baden  zusammenhängt,  ob  er  nun 
von  mancherlei  Beschwerden  seiner  Verwun- 
dung durch  eine  strenge  Badekur  Befreiung  fin- 
det oder  ob  er,  was  ihm  schon  wegen  der  freien 
körperlichen  Bewegung  zur  Wohltat  wird,  nach 
Herzenslust  schwimmt,  auch  im  Wettkampf  mit 
Sehenden. 

Von  diesen  Bade-  und  Erholungsfreuden  der 
Kriegsblinden  soll  im  nächsten  Kapitel  die  Rede 
sein.  f.  W.  H. 

Vier  Wochen  lang  Luft  holen! 

Kriegsblinde  beridjten  von  ihrem  Aufenthalt  in  unseren  Erholungsheimen 


„Als  ich  vor  einem  Jahr  keinen  Platz  in  einem 
unserer  Erholungsheime  bekam,  weil  ich  im 
Jahr  zuvor  schon  Aufnahme  gefunden  hatte 
und  weil  nun  in  der  Haupturlaubszeit  einmal 
andere  Kameraden  drankommen  sollten,  da  er- 
fuhr ich  erst  so  richtig,  was  die  Kur-  und  Er- 
holungsheime des  Kriegsblindenbundes  für  uns 
bedeuten.  Ich  ging  damals  mit  meiner  Frau  in 
ein  kleines  Bad  und  wohnte  in  einer  der  übli- 
chen Pensionen.  Von  den  hohen  Kosten,  die  mir 
schwer  zu  schaffen  machten,  will  ich  hier  gar 
nicht  reden,  sondern  nur  von  der  seelischen  Be- 
lastung in  dieser  Urlaubsumwelt.  Die  anderen 
Gäste  der  Pension  machten  mich  nervöser  als 
ich  schon  vorher  war.  Das  Gefühl,  beim  Essen 
und  bei  jeder  Bewegung  halb  mitleidig,  halb 
staunend  beobachtet  zu  werden,  dazu  die  ewi- 
gen Gespräche  über  meine  Blindheit,  das  allein 
war  schon  nicht  gerade  erholsam.  Verständ- 


licherweise fehlte  es  im  Hause  auch  an  jeglicher 
Kenntnis  im  Umgang  mit  Erblindeten,  so  daß 
ich  nie  ohne  meine  Frau  in  Haus  oder  Garten 
mich  bewegen  konnte,  weil  Stühle,  offen- 
stehende Türen,  Eimer  und  schließlich  auch  un= 
aufmefksame  Menschen  im  Wege  standen. 
Obendrein  hatte  das  Haus  ein  paar  tückische 
Stufen  und  sehr  enge  Räume,  so  daß  ich  selbst 
in  Begleitung  meiner  Frau  ständig  auf  das 
höchste  angespannt  sein  mußte.  Kurz,  ich  konnte 
mich  hier  unmöglich  wohlfühlen,  noch  fand  ich 
das,  was  ich  eigentlich  suchte,  eine  völlige  Ent- 
spannung, eine  Befreiung  von  den  Lasten  mei- 
nes Alltags",  so  schreibt  Josef  M.  aus  Köln  an 
die  Leiterin  eines  Kriegsblindenkurheims,  und 
er  fährt  fort: 

„Ach,  und  es  fehlten  mir  die  Gespräche  und 
das  Zusammensein  mit  den  Kameraden,  wie  ich 
es  aus  dem  vorigen  Jahr  kannte!  Über  die  Blind- 
heit hatten  wir  im  Heim  nicht  gesprochen.  Kei- 
ner konnte  hier,  nur  weil  er  blind  war,  auffal- 
len; alles  Leben  im  Heim  vollzog  sich  mit 
Selbstverständlichkeit  und  in  einem  kamerad- 
schaftlichen, ja  familiären  Geist,  so  daß  ich  aus 
meiner  oft  bedrückenden  Alltagswelt  wirklich 
gänzlich  herauskam.  Mancherlei  Kleinigkeiten 
im  Hause  erleichterten  gerade  für  einen  Kriegs- 
blinden den  Aufenthalt.  Vier  Wochen  lang 
konnte  ich  so  unbefangen  und  innerlich  frei  mit 
den  anderen  Gästen  zusammen  leben,  wie  ich 
es  sonst  nie  kenne.  Das  gab  mir  viel  Mut  und 
einen  richtigen  Aufschwung,  der  noch  monate- 
lang anhielt.  Auch  meine  Frau  lebte  auf. 

Nun  habe  ich  in  diesem  Jahr  wieder  in  einem 
Heim  sein  können,  und  ich  möchte  Ihnen,  liebe 
Schwester,  noch  einmal  herzlich  für  all  die  liebe- 
volle Mühe  danken.  Ich  bin  jetzt  seit  8 Tagen 
wieder  an  meinem  Arbeitsplatz,  und  wenn  noch 
foviel  Anrufe  auf  sämtlichen  Amts-  und  Haus- 


Gut  erfüllen  ihren  Zweck:  Einkochgläser  Marke  WECK? 


259 


leitungen  an  meinem  Vermittlungstisch  schnür« 
ren  — ich  bleibe  ruhig  und  schaffe  es.  Das  habe 
ich  diesen  vier  Wochen  im  Erholungsheim  zu 
verdanken." 

Wir  halfen  uns  selber 

Dieser  Brief  ist  bezeichnend  für  die  Eigenart 
der  Erholungsfürsorge  des  Kriegsblindenbun» 
des.  Allein  die  Tatsache,  daß  die  Kriegsblinden 
nicht  untätig  auf  die  Fürsorgemaßnahmen  der 
Behörden  warten,  sondern  mit  Entschlußkraft 
und  Aktivität  sich  selber  helfen  und  eine  eigene 
Erholungsfürsorge  einrichteten,  ist  ein  Beweis 
für  die  Lebenskraft  und  Lebenstüchtigkeit  der 
deutschen  Kriegsblinden.  Sieben  schöne  Kur= 
und  Erholungsheime  nennen  die  Kriegsblinden 
ihr  Eigentum,  und  die  gesamte  Verwaltung  der 
Heime  ist  Sache  des  Kriegsblindenbundes.  Meh= 
rere  Heime  sind  ganzjährig  geöffnet,  in  fast  alle 
Heime  können  auch  die  Kinder  des  Kriegsblin» 
den  mitgenommen  werden.  Allein  in  den  |ah= 
ren  1951  und  1952  konnten  in  den  sieben  Er= 
holungsheimen-  insgesamt  3171  Kriegsblinde 
zur  Kur  aufgenommen  werden,  dazu  etwa  die 
gleiche  Anzahl  von  Begleitpersonen  (meist  die 
Ehefrauen  der.  Kriegsblinden)  und  im  gleichen 
Zeitraum  insgesamt  943  Kinder.  Das  ist  nicht 
nur  organisatorisch,  sondern  auch  in  fürsorge= 
rischer  Hinsicht  eine  gewiß  bemerkenswerte 
Leistung.  Ein  großes  Heim  wie  das  in  Söcking 
am  Starnberger  See  bringt  es  im  Laufe  eines 
Kalenderjahres  auf  insgesamt  20  000,  ja  bis= 
weilen  fast  24000  „Verpflegstage".  Aber  auch 
das  1950  erworbene  Heim  in  Wildbad  bringt  es 
jährlich  auf  fast  20  000  Verpflegstage.  Es  heißt 
nach  dem  verdienstvollen  kriegsblinden  Lan» 
desverbandsvorsitzenden  von  Württemberg« 
Baden,  dessen  Tatkraft  den  Ankauf  und  die 
Einrichtung  dieses  Heimes  ermöglicht  hat,  „Ru= 
dolf=Schnaitmann=Haus".  Im  Jahre  1950  konnte 


Seit  dem  1.  Juni  1927  gehört  dieses  Kur-  und 
Erholungsheim  in  Bad  Salzhausen.  (Hessen) 
den  deutschen  Kriegsblinden.  Fast  5000  Kriegs- 
blinde dürften  im  Laufe  der  Jahre  hier  zu 
Gast  gewesen  sein. 


Kleine  Wettkämpfe  erhöhen  die  Urlaubs- 
freude am  Strand  von  Borkum.  Die  Kurver- 
waltung Borkum  beschäftigt  eine  Sport- 
lehrerin, die  sich  gerade  auch  der  Kriegs- 
blinden annimmt.  Der  Weitstoß  mit  dem 
Medizinball  gehört  zu  den  Übungen  bei  den 
Sportfesten  des  Kriegsblinden- Kurheims. 


durch  den  Landesverband  Rheinland=Pfalz  des 
Kriegsblindenbundes  auch  ein  Heim  in  Bad 
Münster  am  Stein  erworben  und  eingerichtet 
werden.  1951  kam  schließlich  noch  ein  sehr 
schönes  Heim  auf  der  Insel  Borkum  dazu.  Da= 
neben  blieben  den  deutschen  Kriegsblinden  drei 
Erholungsheime  erhalten,  die  bereits  vor  dem 
zweiten  Weltkrieg  vom  damaligen  „Bund  der 
erblindeten  Krieger"  eingerichtet  waren,  näm= 
lieh  die  Heime  in  Braunlage,  Bad  Pyrmont  und 
Bad  Salzhausen.  Andere  Heime,  vor  allem  in 
Swinemünde,  gingen  leider  verloren. 

Jedes  dieser  Heime  hat  seine  Eigenart,  nicht 
nur  in  seiner  Tradition,  sondern  auch  in  seiner 
Heilwirkung.  In  den  Bädern,  wie  z.  B.  Pyrmont, 
unterziehen  sich  die  Kriegsblinden  durchweg 
einer  geordneten  Badekur,  wie  überhaupt  in 
allen  Heimen  auf  eine  ärztliche  Betreuung  und 
auf  die  Einhaltung  ärztlicher  Vorschriften  und 
Ratschläge  großer  Wert  gelegt  wird.  Jedem 
Heim  steht  ein  Heimarzt  zur  Seite,  der  bei  Be« 
ginn  der  Badekur  jeden  einzelnen  Gast  unter« 
sucht  und  berät  und  der  bei  Abschluß  der  Kur 
in  durchweg  erfreulicher,  oft  erstaunlicherWeise 
Heilerfolge  feststellt,  sowohl  bei  Kreislauf« 


140 


ÖFEN-HERDE 

Wenn 

Sanitätsguß 

Burger  Eisenwerke 

G.  m.  b.  H. 

Burg  (Dillkreis) 

dann > 

GEBRÜDER  STEIDINGER 

Fabrik  für  Feinmechanik  und  Elektrotechnik 

ST.  GEORGEN  / SCHWARZWALO 

Störungen,  Rheuma  und  anderen  Erkrankungen 
vor  allem  aber  auch  bei  einem  für  Kriegsblint, 
typischen  Leiden;  der  nervösen  Erschöpfung, 
verbunden  mit  leichter  Ermüdbarkeit,  Kopf= 
schmerzen,  Gereiztheit  und  Schlaflosigkeit. 

Uns  liegt  ein  dafür  bezeichnender  Brief  eines 
40jährigen  Kriegsblinden  vor: 

„Ich  gewann  meine  Ruhe  zurück" 

„Ich  will  es  nicht  leugnen,  ich  war  bestimmt 
ein  unangenehmer  Patron  geworden,  ärgerte 
mich  über  jede  Kleinigkeit  und  hatte  meinen 
früheren  Humor  völlig  verloren.  Dabei  ärgerte 
ich  mich  sogar  über  mich  selbst,  fand  aus  mei= 
ner  Unruhe  nie  heraus  und  fand  auch  keinen 
Schlaf.  Die  Kur  scheint  jetzt  wie  ein  Wunder 
gewirkt  zu  haben.  Die  vier  Wochen  im  Heim 
und  sicher  auch  die  Bäder  haben  mir  eine  ganz 
neue  Kraft  gegeben.  Zuerst  schien  es  zwar 
schlimmer  zu  werden,  aber  das  ist  wohl  immer 
so,  wenn  man  eine  Kur  durchmacht.  Aber  der 
frohe  Geist  im  Heim  und  die  Gemeinsamkeit 
mit  anderen  Kameraden  ließen  den  Gedanken 
an  mein  Schicksal  ganz  zurücktreten  — hier 
waren  ja  schließlich  alle  blind  — , und  die  gute 


Pflege,  die  Gemütlichkeit  des  Hauses  und  all 
die  freundliche  Hilfe,  die  man  hier  erfährt  — 
das  alles  half  mir  über  die  ersten  Klippen  hin= 
weg,  und  ich  gewann  eine  innere  Ruh^  zurück, 
wie  ich  sie  seit  mindestens  zwei  Jahren  nicht 
mehr  gehabt  habe.  Als  ich  jetzt  wieder  in  mei= 
nen  Betrieb  kam  — ich  kontrolliere  Werkstücke 
in  einer  Kugellagerfabrik  — , da  merkten  auch 
meine  Kollegen  gleich,  wie  gut  ich  mich  erholt 
hatte.  Ich  war  viel  gelassener  und  humorvoller. 
Kein  Wunder!  Ich  kann  ja  wieder  schlafen,  in 
der  letzten  Nacht  sieben  Stunden,  und  früher 
waren  es  oft  nur  zwei  oder  drei." 

Ein  Abend  der  Überraschungen 
Jeder  kriegsblinde  Kurgast  erlebt  im  Laufe 
seines  Kuraufenthaltes  auch  einen  Kamerad^ 
Schaftsabend,  abgesehen  natürlich  von  anderen 
kulturellen  Darbietungen,  für  die  von  der 
Heimleitung  gesorgt  wird,  seien  sie  musikali» 
scher  Art  wie  z.  B.  in  Münster  am  Stein,  wo 
dem  Heim  ein  herrlicher  Flügel  gehört,  oder 
seien  es  belehrende  Vorträge.  Aber  die  Kame=> 
radschaftsabende  bilden  den  Höhepunkt  mit 
ihrem  Frohsinn  und  mit  ihrem  oft  einfalls= 


Einmal  im  Jahr  sich  von  der  strapaziösen,  ständigen  Nervenanspannung  des  Alltags  frei- 
machen. das  braucht  ein  Kriegsblinder.  Am  Strand  von  Borkum  vergißt  er  manche  Last, 
die  ihn  niederdrücken  will. 


141 


FÜR 

WANDVERKLEIDUNG 
UND  BEDACHUNG 


WELL^ 


FULGURIT 


FULGURIT-WERKE  ADOLF  OESTERHELD 

LUTHE-WUNSTO.RF  (HANN.) 


reichen  Programm.  Selbst  Karneval  wird  auf 
diese  Weise  gefeiert.  Ein  Berliner  Kamerad  be= 
richtet  von  einem  solchen  Kameradschaftsabend 
das  Folgende: 

„In  der  Räucherkammer,  so  nämlich  heißt  das 
Klubzimmer  der  Herren,  traf  man  sich  eines 
Abends,  um  über  die  Programmfolge  zu  be= 
raten.  Die  Damen  wurden  zu  dieser  Beratung 
nicht  hinzugezogen,  denn  es  sollte  doch  ein 
Überraschungsabend  werden.  Einer  der  älteren 
Kameraden  hatte  bereits  mit  Schwester  Hilde» 
gard  über  die  musikalische  Gestaltung  gespro» 
chen,  und  es  wurde  beschlossen,  den  Akkordeon» 
Spieler  vom  Schützenhaus  zu  engagieren.  Nach 
lustigem  Hin  und  Her  wurde  ein  dreiköpfiger 
Festausschuß  gebildet,  der  nun  tagelang  mit  so 
ernster  Miene  zusammensaß,  daß  man  hätte 
meinen  können,  er  habe  eine  Trauerfeier  vor» 
zubereiten.  Immerhin  stieg  die  Spannung  ganz 
erheblich,  und  als  am  festgesetzten  Tage  alle 
Kurgäste  in  gewohnter  Weise  ihr  Abendessen 
gemeinsam  einnahmen,  wurde  von  Schwester 
Hildegard  bekanntgegeben,  daß  man  sich  bis 


zum  Beginn  des  Kameradschaftsabends  in  den 
Zimmern  aufhalten  möchte.  Eine  halbe  Stunde 
später  war  plötzlich  im  oberen  Stockwerk  flotte 
Marschmusik  zu  hören.  Jeder  einzelne  Gast 
wurde  mit  seiner  Frau  von  den  sangesfrohen 
Heimspatzen  — das  sind  die  im  Hause  tätigen 
Frauen  und  Mädchen  — und  dem  Musiker  ab» 
geholt.  Nun  ging  es  in  bunter  Reihe  von  Tür 
zu  Tür,  bis  endlich  alle  mit  lautem  Gesang 
das  untere  Stockwerk  erreicht  und  an  der  Fest» 
tafel'Platz  genommen  hatten. 

Das  Programm  mußte,  weil  wir  ja  nun  einmal 
nicht  sehen  können,  vornehmlich  für  die  Ohren 
bestimmt  sein,  aber  auch  für  den  Gaumen. 
Schwester  Hildegard  kredenzte  uns  Bowle,  und 
dazu  hörten  wir  zunächst  allerlei  Musikali» 
sches:  virtuose  Darbietungen  des  Musikers  und 
liebevoll  eingeübte  Lieder  der  Heimspatzen. 
Natürlich  fehlte  auch  die  obligate  Festansprache 
nicht,  aber  dann  kam  die  erste  größere  Über- 
raschung: drei  Heimspatzen  führten  ein  kleines 
groteskes  Spiel  auf  mit  dem  Titel  „Drei  alte 
Schachteln".  Durch  die  reizenden  Kostüme  und 
die  humorvollen  Lieder  stieg  die 
Stimmungskurve  ziemlich  steil  an. 
Unter  den  Kriegsblinden  befand 
sich  auch  ein  Sänger,  der  uns  mit 
dem  Wblgalied  und  anderen 
Operettenarien  erfreute.  Ein  an- 
derer trug  eigene  plattdeutsche 
Gedichte  vor,  zwei  Kölner  Kriegs- 
blinde traten  als  „Tünnes  und 
Schäl"  auf.  Es  folgte  die  spaßige 
Reportage  eines  Motorradrennens 
auf  dem  Nürburgring,  und  als  die 
Stimmung  immer  heiterer  wurde, 
meldeten  sich  sogar  Kameraden 
zu  Wort,  denen  man  gar  keinen 
Humor  zugetraut  hatte  und  die 
im  Programm  gar  nicht  vor» 
gesehen  waren.  Es  gab  viel  Ge- 
lächter und  viel  Beifall,  und  dann 
— eine  große  Polonäse,  mit  der 
nun  der  letzte  Programmpunkt 
eröffnet  wurde,  nämlich  das  Tan» 
zen.  Dieser  Programmpunkt  wurde 
von  den  Unentwegten  bis  gegen 


Unser  loohl  stolzestes  Kur-  und  Erholungsheim  ist  das 
Rudolj- Schnaitmann-Haus  in  Wildbad.  Es  wurde  erst  vor 
wenigen  Jahren  erworben  und  eingerichtet  und  erfreut  sich 
einer  großen  Beliebtheit  auch  in  den  Wintermonaten. 


Eberhard  im  Bart  entdeckt  auf  der  Jagd  das 
Wildbad 


2 Uhr  morgens  ausgedehnt,  und  als  einer  der 
Kameraden  dann  zum  Abschluß  das  erzgebirgi= 
sehe  Heimatlied  „'s  ist  Feierabend"  gesungen 
hatte,  entschloß  sich  Schwester  Hildegard,  den 
Zapfenstreich  zu  blasen.  So  viel  gesungen  und 
so  viel  gelacht  wie  an  diesem  Abend  hatten 
wohl  die  meisten  von  uns  seit  Jahren  nicht." 

Sport  auf  Borkum 

Dort,  wo  nicht  strenge  badeärztliche  Vor» 
Schriften  den  Tageslauf  des  Kurgastes  bestim» 
men,  finden  die  Kriegsblinden  vor  allem  Er» 
holung  in  der  Bewegung.  Die  sitzende  Lebens» 
weise  eines  Erblindeten,  eine  Unbeweglichkeit, 
die  oft  auch  durch  die  Überbeanspruchung  der 
Ehefrau  und  durch  das  Fehlen  anderer  Begleit- 
personen bedingt  ist,  soll  während  des  Urlaubs 
einen  Ausgleich  finden,  ln  Söcking  z.  B.  locken 
Wanderungen  oder  auch  der  Starnberger  See, 
und  auf  der  Insel  Borkum  der  Strand.  Welch 
ein  Gefühl,  auf  einer  weiten,  freien  und  ebenen 
Sandbank  aus  voller  Kraft  einmal  laufen  zu 
können,  zwar  ins  Ungewisse  hinein,  aber  ganz 
ungefährdet  und  ohne  die  sonst  so  belastende 
Konzentration  auf  die  Orientierung!  Der  Sport 
am  Strande  von  Borkum  gibt  auf  solche  Weise 
dem  Kriegsblinden  ein  gut  Stück  Selbstver» 
trauen  und  Selbstbewußtsein  zurück.  Die 
Diplomsportlehrerin,  die  von  der  Kurverwal» 
tung  unterhalten  wird,  hat  auch  eine  besondere 
Ausbildung  im  Versehrtensport  und  versteht  es. 


die  Freude  am  Sport  zu  wecken  und  gerade 
auch  die  Kriegsblinden  zum  Sport  heranzu» 
holen  Die  Gaste  unseres  Heimes  nehmen  schon 
am  Vormittag  am  allgemeinen  Strandsport  teil, 
also  an  Lockerungsübungen  und  Spielen.  Am 
Nachmittag  sind  leichtathletische  Übungen 
dran,  wie  Medizinballwerfen  oder  Weitsprung. 
Meistens  kommt  es  während  der  Erholungszeit 
dann  zu  einem  Sportwettkampf  unter  den 
kriegsblinden  Gästen,  der  oft  ganz  beachtliche 
Resultate  ergibt. 

Selbst  die  Ohnhänder  beteiligen  sich  an  den 
Wettkämpfen,  und  mancher  von  ihnen  hat 
schon  eines  der  Diplome  oder  Geschenke  er» 
halten,  die  den  erfolgreichsten  kriegsblinden 
Sportlern  im  Namen  der  Kurverwaltung  über» 
reicht  wurden.  Auch  ältere  Kriegsblinde  machen 
mit  und  sind  oft  den  jüngeren  Kameraden  ein 
Ansporn.  Den  größten  Anteil  an  den  Sport» 
Übungen  hat  natürlich  das  Schwimmen,  aber 
eine  erstaunliche  Anzahl  der  Gäste  nutzt  auch 
die  Möglichkeit  des  Reitsportes  aus.  Viele 
Kriegsblinde  waren  ja  einst  als  Soldaten  gute 
Reiter,  und  ihnen  steht  in  Borkum  ein  ausge» 
zeichnetes  Pferdematerial  zur  Verfügung. 

Erholung  wird  zur  Lebensfrage 

Wenn  schon  für  jedermann  die  Urlaubs»  und 
Erholungszeit  zum  Höhepunkt  des  Jahres  wird, 
so  noch  um  vieles  mehr  für  den  Kriegsblinden, 
dessen  Kräfteverbrauch  im  Alltag  ja  schon  des» 
halb  viel  größer  ist,  weil  er  für  die  Orientie» 
rung  ständig  viel  Konzentration  aufwenden 
muß.  Alle  Arbeiten,  die  er  tut,  selbst  das  Essen 
und  Trinken  noch,  verbrauchen  ungemein  viel 
Aufmerksamkeit  und  Nervenkraft.  Dazu 
kommt,  daß  der  Verlust  der  Augen  durchweg 
mit  Kopfverletzungen  verbunden  ist,  die  dem 
Kriegsblinden  zu  schaffen  machen,  ganz  zu 
schweigen  'davon,  daß  die  Mehrzahl  aller 
Kriegsblinden  weitere  Verwundungen  und  viel» 
fach  auch  Amputationen  hinter  sich  hat.  Hier 
tut  also  die  Erholungsfürsorge  not,  ja  sie  wird 
zu  einer  Lebensfrage.  Unter  der  ehrenamtlichen 
Leitung  eines  Sachbearbeiters  — es  ist  der  im 
ersten  Weltkrieg  erblindete  Kamerad  Albert 
Bierwerth  aus  Göttingen  — wurde  eine  Er» 
holungsfürsorge  aufgebaut,  die  in  ihrer  Zuver» 
lässigkeit  und  in  ihren  Erfolgen  mustergültig 
ist.  Die  Kriegsblinden  sind  stolz  auf  dieses  Er» 
holungswerk  und  sind  dankbar  dafür. 


auch 

ISchuppen- 
flechte 

INia  mein  Vater  u.  unzähl.  Leidensgefährten 
von  dies,  oft  das  Leben  verbitternden  Leiden 
durch  ein  einf.  Mittel  innerhalb  14  Tagen  völlig  geheilt  wurden, 
teile  ich  Ihnen  gern  kostenlos  und  unverbindlich  mit. 

Max  Müller,  Karlsruhe/ B.K  86  BunsenstraBe 


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Meine  Welt  - die  Welt  der  Sehenden 


Auf  die  Frage  „Mein  Verhältnis  zum  sehen» 
den  Mitmenschen"  anwortete  im  Rahmen  eines 
Preisausschreibens  des  Kriegsblindenbundes 
ein  im  zweiten  Weltkrieg  erblindeter  Karne» 
rad,  Bodo  Schütz,  das  Folgende: 

„Wenn  ich  das  Thema  ganz  genau  fasse 
und  nicht  zugleich  über  das  Verhältnis  des 
sehenden  Menschen  zu  mir  schreibe,  so  ist  das 
Wesentliche  eigentlich  mit  einem  Satz  gesagt: 
Mein  Verhältnis  zum  sehenden  Mitmenschen 
ist  dasselbe  wie  das  der  Sehenden  zueinander, 
denn  ich  bin  nicht  anders  als  sie,  bin  kein 
„armer  blinder  Mann",  sondern  ein  am  Sehen 
verhinderter  Sehender.  Was  der  Verlust  des 
Augenlichts  für  mich  bedeutet,  geht  nur  mich 
«und  meine  nächsten  Angehörigen  an.  Zwar 
vermag  ich  nicht  mehr  mit  den  Augen  die  Ein» 
drücke  der  Welt  in  mich  aufzunehmen,  zwar 
sind  die  Grenzen  meiner  Umwelt  näher  um 
mich  zusammengerückt;  doch  es  ist  dieselbe 
Welt,  in  der  ich  vor  meiner  Erblindung  lebte. 


Die  Welt  der  Sehenden  ist  meine  Welt  geblie» 
ben.  In  ihr  lebe  ich  mit  den  Sehenden,  arbeite 
ich  mit  ihnen.  Sehende  sind  meine  Freunde, 
und  ich  darf  in  einem  Kreis  geistig  bewegter 
Sehender  an  geachteter  Stelle  wirken.  Daß  ich 
nicht  sehen  kann,  ist  auf  mein  Verhältnis  zu 
meinen  Mitmenschen  ohne  Einfluß.  Die  Tat» 
Sache  meiner  Erblindung  ist  für  meinen  Um» 
gang  mit  meinen  Mitmenschen  unwichtig.  Ich 
bewege  mich  mit  unauffälliger  Selbstverständ» 
lichkeit  unter  ihnen.  Wo  ich  die  Hilfe  meiner 
Mitmenschen  bedarf,  nehme  ich  sie  ohne  Auf» 
hebens  mit  der  gleichen  Selbstverständlichkeit 
in  Anspruch,  mit  der  sie  mir  geboten  wird. 

Ich  habe  durch  Blindenschriftbücher,  Vor» 
lesen,  Rundfunk,  Theater  und  Konzert  Zugang 
zur  geistigen  Welt.  Meine  Kinder  sind  gesund, 
meine  Frau  ist  mein  bester  Lebenskamerad. 
Ich  habe  eine  Arbeit,  die  mich  befriedigt.  So 
ist  mein  Leben  in  der  Gemeinschaft  der  Sehen» 
den  schön  und  erfüllt." 


Helft  uns,  daß  wir  so  sprechen  können  wie  dieser  Kamerad! 


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